BAG: Keine unzulässige Benachteiligung bei gestaffelten Alterszuschlägen
BAG , Urteil vom 12.04.2011 - Aktenzeichen 1 AZR 743/09 (Vorinstanz: LAG Brandenburg vom 21.09.2009 - Aktenzeichen 10 Sa 2421/08; ) (Vorinstanz: ArbG Berlin vom 08.10.2008 - Aktenzeichen 40 Ca 8693/08; ) | ||||||||||
Amtliche Leitsätze: Sieht ein Sozialplan vor, dass die Arbeitnehmer zusätzlich zu der sich nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit und dem Arbeitsverdienst errechnenden Grundabfindung mit dem Erreichen des 45. und des 50. Lebensjahres der Höhe nach gestaffelte Alterzuschläge erhalten, werden hierdurch jüngere Arbeitnehmer in der Regel nicht unzulässig wegen ihres Lebensalters benachteiligt. Orientierungssätze: 1. Der Gesetzgeber hat in § 75 Abs. 1 BetrVG die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote übernommen. Eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG kann dabei unter den in § 10 AGG genannten Voraussetzungen zulässig sein. In diesem Fall ist auch der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gewahrt. 2. Die Betriebsparteien dürfen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums davon ausgehen, dass sich die Arbeitsmarktchancen der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer mit zunehmendem Alter fortschreitend verschlechtern. Mit der Regelung eines Alterszuschlags bei Sozialplanabfindungen verfolgen die Betriebsparteien deshalb legitime Ziele iSd. § 10 AGG. Ob der konkrete Alterszuschlag nach § 10 Satz 2 AGG angemessen und erforderlich ist, unterliegt der gerichtlichen Überprüfung im Einzelfall. 3. § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG verstößt nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung im Recht der Europäischen Union. Die zur Beurteilung der Wirksamkeit von § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG heranzuziehenden Grundsätze zum Verständnis und zur Anwendung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG sind durch die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, so dass ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht geboten ist. | ||||||||||
Amtliche Normenkette: BetrVG § 75; BetrVG § 112; AGG § 1; AGG § 3 Abs. 1; AGG § 10; Richtlinie 2000/78/EG des Rates (vom 27. November 2000) zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf Art. 6 Abs. 1 S. 1; AEUV Art. 267; Redaktionelle Normenkette: AEUV Art. 267; AGG § 1; AGG § 10; AGG § 3 Abs. 1; BetrVG § 112; BetrVG § 75; Richtlinie 2000/78/EG des Rates (vom 27. November 2000) zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf Art. 6 Abs. 1 S. 1; ArbRB 2011, 267 NZA 2011, 985 ZIP 2011, 1932
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Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 31. März 2008 und zahlte ihr eine Abfindung in Höhe von 59.467,15 Euro brutto. | RN 5 |
Die Klägerin hat zuletzt beantragt, | RN 7 |
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 25.000,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. April 2008 zu zahlen. |
Entscheidungsgründe: |
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung der Klägerin zu Unrecht stattgegeben. Die Klage ist unbegründet. | RN 10 |
I. Die Revision ist entgegen der Auffassung der Klägerin zulässig. Sie genügt den Anforderungen des § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO. In der Revisionsbegründung rügt die Beklagte, das Landesarbeitsgericht sei zu Unrecht von einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer ausgegangen. Es habe den von der Rechtsprechung anerkannten weiten Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum der Betriebsparteien verkannt. Außerdem führe ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht - wie das Landesarbeitsgericht meine - zu einer "Anpassung nach oben". Vielmehr sei in diesem Fall eine ergänzende Auslegung des Sozialplans erforderlich. Damit setzt sich die Revision mit den tragenden Gründen des Berufungsurteils hinreichend auseinander. | RN 11 |
II. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine weitere Abfindungsleistung in Höhe von 25.000,00 Euro aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 75 Abs. 1 BetrVG). Die Regelung der Alterszuschläge im Sozialplan für Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens 45 bis unter 50 Jahre alt sind, und für Arbeitnehmer ab 50 Jahren ist wirksam. Hierin liegt keine unzulässige Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer. | RN 12 |
a) Arbeitgeber und Betriebsrat haben nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus den in dieser Vorschrift genannten Gründen unterbleibt. § 75 Abs. 1 BetrVG enthält nicht nur ein Überwachungsgebot, sondern verbietet zugleich Vereinbarungen, durch die Arbeitnehmer aufgrund der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt werden. Der Gesetzgeber hat darin die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote übernommen. Eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG kann dabei unter den in § 10 AGG genannten Voraussetzungen zulässig sein. In diesem Fall ist auch der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gewahrt (BAG 23. März 2010 - 1 AZR 832/08 - Rn. 14 f., AP BetrVG 1972 § 75 Nr. 55 = EzA BetrVG 2001 § 112 Nr. 35). Nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG ist die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn diese objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen ihrerseits angemessen und erforderlich sein. Gemäß § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG kann eine unterschiedliche Behandlung auch durch eine nach Alter gestaffelte Abfindungsregelung erfolgen, in der die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigt werden. | RN 14 |
aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs haben die Mitgliedstaaten sowie ggf. die Sozialpartner auf nationaler Ebene sowohl bei der Entscheidung, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen, als auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Erreichung einen weiten Ermessensspielraum (22. November 2005 - C-144/04 - [Mangold] Rn. 63, Slg. 2005, I-9981; 16. Oktober 2007 - C-411/05 - [Palacios de la Villa] Rn. 68, Slg. 2007, I-8531). Dabei darf jedoch nicht der Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen des Alters ausgehöhlt werden (EuGH 12. Oktober 2010 - C-499/08 - [Andersen] Rn. 33, EzA Richtlinie 2000/78 EGVertrag 1999 Nr. 17). Die Prüfung, ob die nationale Regelung einem rechtmäßigen Ziel iSd. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Richtlinie 2000/78/EG dient, obliegt den Gerichten der Mitgliedstaaten. Gleiches gilt für die Frage, ob der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber angesichts des vorhandenen Wertungsspielraums davon ausgehen durfte, dass die gewählten Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich waren (EuGH 5. März 2009 - C-388/07 - [Age Concern England] Rn. 49 ff., Slg. 2009, I-1569). | RN 16 |
(1) Dieser hat berücksichtigt, dass die den Arbeitnehmern durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes drohenden Nachteile maßgeblich durch die Aussichten, alsbald einen neuen vergleichbaren Arbeitsplatz zu finden, bestimmt werden. Mit der Regelung in § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG will der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt typischerweise größere Schwierigkeiten haben als jüngere (BT-Drucks. 16/1780 S. 36). Dies liegt im allgemeinen sozialpolitischen Interesse und nicht nur im rein individuellen Interesse der Arbeitgeber an einer Kostenreduzierung oder der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit (BAG 26. Mai 2009 - 1 AZR 198/08 - Rn. 43, BAGE 131, 61). Ob Letztere allein ausreichend wären, eine Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer aus Gründen des Alters zu rechtfertigen, kann deshalb dahinstehen (dazu EuGH 5. März 2009 - C-388/07 - [Age Concern England] Rn. 46, Slg. 2009, I-1569). | RN 18 |
(2) Es ist auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber keine weitergehenden Vorgaben für die Ausgestaltung von Sozialplänen gemacht hat, sondern insoweit den Betriebsparteien erhebliche Gestaltungsspielräume einräumt. Dies ist wegen der im Einzelfall erforderlichen Flexibilität geboten (BAG 26. Mai 2009 - 1 AZR 198/08 - Rn. 44, BAGE 131, 61). Am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist allerdings stets zu prüfen, ob die konkret getroffene Regelung den gesetzlichen und unionsrechtlichen Anforderungen entspricht. Danach muss die Sozialplangestaltung geeignet sein, das mit § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG verfolgte Ziel, älteren Arbeitnehmern wegen deren schlechteren Arbeitsmarktchancen einen höheren Nachteilsausgleich zu gewähren, tatsächlich zu fördern. Die Interessen der benachteiligten Altersgruppen dürfen dabei nicht unverhältnismäßig stark vernachlässigt werden (BAG 23. März 2010 - 1 AZR 832/08 - Rn. 20, AP BetrVG 1972 § 75 Nr. 55 = EzA BetrVG 2001 § 112 Nr. 35). | RN 19 |
2. Nach diesen Grundsätzen ist die Regelung über Alterszuschläge in dem Sozialplan vom 19. Juli 2007 nicht zu beanstanden. | RN 20 |
b) Diese Ungleichbehandlung steht jedoch im Einklang mit § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG und ist in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht unverhältnismäßig. | RN 22 |
bb) Der Alterszuschlag ist geeignet, das Regelungsziel - Ausgleich der erhöhten wirtschaftlichen Nachteile älterer Arbeitnehmer infolge des Arbeitsplatzverlustes - zu fördern. | RN 24 |
(1) Nach der Senatsrechtsprechung haben die Betriebsparteien bei der Bestimmung der ihrer Meinung nach ausgleichsbedürftigen Nachteile einen Beurteilungsspielraum. Dieser betrifft zum einen die tatsächliche Einschätzung der mit der Betriebsänderung für die betroffenen Arbeitnehmer verbundenen wirtschaftlichen Folgen, die sich regelmäßig nicht in allen Einzelheiten sicher vorhersagen lassen, sondern nur Gegenstand einer Prognose sein können. Bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen hängen die Chancen der einzelnen Arbeitnehmer, überhaupt oder in absehbarer Zeit eine gleichwertige neue Arbeitsstelle zu finden, von einer Vielzahl nicht genau feststellbarer subjektiver und objektiver Umstände ab. Eine pauschalierende und typisierende Bewertung der wirtschaftlichen Nachteile ist daher zumeist unumgänglich (BAG 11. November 2008 - 1 AZR 475/07 - Rn. 21, BAGE 128, 275). Darüber hinaus haben die Betriebsparteien einen Gestaltungsspielraum in Bezug auf die Frage, ob, in welchem Umfang und wie sie die prognostizierten wirtschaftlichen Nachteile ausgleichen oder abmildern wollen. Im Rahmen ihres Ermessens können sie nach der Vermeidbarkeit der Nachteile unterscheiden und sind nicht gehalten, alle denkbaren Nachteile zu entschädigen (BAG 19. Februar 2008 - 1 AZR 1004/06 - Rn. 25, BAGE 125, 366). Der Spielraum schließt typisierende Gestaltungen ein. | RN 25 |
cc) Der Alterszuschlag ist auch angemessen und erforderlich iSd. § 10 Satz 2 AGG. | RN 28 |
(1) Insoweit ist zu berücksichtigen, dass in dem Abfindungssockelbetrag, der unter Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit, des Monatsverdienstes und eines Faktors errechnet wird, die Arbeitsmarktchancen nur unzureichend berücksichtigt sind. Da die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit nur 6,7 Jahre beträgt, findet das damit einhergehende zunehmende Alter der Beschäftigten im Sockelbetrag kaum Niederschlag. Daran ändert auch die nach Lebensaltersstufen ansteigende Vergütung nach dem BAT nichts Grundlegendes. Das von den Betriebsparteien gewählte Korrektiv eines altersabhängigen Aufstockungsbetrags erscheint deshalb erforderlich, um die sich mit zunehmendem Alter verschlechternden Chancen auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteile auszugleichen oder zu mildern. Mit den gewählten Altersgrenzen von 45 und 50 Jahren haben die Betriebsparteien auch nicht den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten. Sie stellen in vertretbarer Weise darauf ab, dass die Arbeitsmarktchancen von Arbeitnehmern in der zweiten Hälfte des Berufslebens typischerweise sinken. Die von ihnen gewählten Pauschalbeträge erscheinen zwar holzschnittartig, halten sich aber noch im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Betriebsparteien. | RN 29 |