EuGH: Kein Untergang des Jahresurlaubsanspruchs mit dem Tod des Arbeitnehmers
EuGH (Erste Kammer), Urteil vom 12.6.2014 – C‑118/13; Gülay Bollacke gegen K + K Klaas & Kock B.V. & Co. KG
Tenor
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Eine solche Abgeltung kann nicht davon abhängen, dass der Betroffene im Vorfeld einen Antrag gestellt hat.
Aus den Gründen
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Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9).
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Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Bollacke und dem ehemaligen Arbeitgeber ihres verstorbenen Ehegatten, der K + K Klaas & Kock B.V. & Co. KG (im Folgenden: K + K), über den Anspruch der Betroffenen auf Abgeltung des von Herrn Bollacke bis zu seinem Tod nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
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Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
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Art. 15 („Günstigere Vorschriften“) dieser Richtlinie bestimmt:
„Das Recht der Mitgliedstaaten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten, bleibt unberührt.“
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Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Eine Abweichung von Art. 7 der Richtlinie wird jedoch nicht zugelassen.
Deutsches Recht
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§ 7 Abs. 4 des Bundesurlaubsgesetzes vom 8. Januar 1963 (BGBl. 1963 S. 2) in der Fassung vom 7. Mai 2002 (BGBl. 2002 I S. 1529) sieht vor:
„Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“
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Nach § 1922 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs geht mit dem Tod einer Person (Erbfall) deren Vermögen (Erbschaft) als Ganzes auf eine oder mehrere Personen (Erben) über.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
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Frau Bollacke ist die Alleinerbin ihres verstorbenen Ehegatten, der vom 1. August 1998 bis zu seinem Tod am 19. November 2010 bei K + K beschäftigt war.
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Herr Bollacke war seit dem Jahr 2009 schwer erkrankt. In jenem Jahr war er acht Monate arbeitsunfähig. Arbeitsunfähigkeit bestand auch vom 11. Oktober 2010 bis zu seinem Tod.
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Zum Zeitpunkt seines Todes hatte Herr Bollacke unstreitig Anspruch auf mindestens 140,5 offene Tage Jahresurlaub.
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Mit Schreiben vom 31. Januar 2011 machte Frau Bollacke gegenüber K + K Abgeltungsansprüche für diese nicht genommenen Urlaubstage geltend. K + K wies die Forderung mit der Begründung zurück, dass Zweifel daran bestünden, dass es sich um einen vererbbaren Anspruch handle.
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Das im ersten Rechtszug entscheidende Gericht, vor das Frau Bollacke diese Forderung brachte, wies die Klage mit der Begründung ab, dass nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Anspruch auf Abgeltung des bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers nicht entstehe. Im Verfahren über die Berufung gegen diese Entscheidung stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob an dieser innerstaatlichen Rechtsprechung in Ansehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88 festgehalten werden kann.
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Unter diesen Umständen hat das Landesarbeitsgericht Hamm beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, wonach der Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub beim Tod des Arbeitnehmers in seiner Gesamtheit untergeht, nämlich neben dem nicht mehr zu verwirklichenden Anspruch auf Freistellung von der Arbeitspflicht auch der Anspruch auf Zahlung des Urlaubsentgelts?
2. Ist Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass der Anspruch auf eine finanzielle Vergütung des bezahlten Mindestjahresurlaubs bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der Weise an die Person des Arbeitnehmers gebunden ist, dass dieser Anspruch nur ihm zusteht, damit er die mit der Gewährung des bezahlten Jahresurlaubs verbundenen Zwecke der Erholung und Freizeit auch zu einem späteren Zeitpunkt verwirklichen kann?
3. Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer im Hinblick auf den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung Urlaub bis zum Ablauf des Kalenderjahres oder spätestens bis zum Ablauf eines für das Arbeitsverhältnis maßgeblichen Übertragungszeitraums auch tatsächlich zu gewähren, ohne dass es darauf ankommt, ob der Arbeitnehmer einen Urlaubsantrag gestellt hat?
Zu den Vorlagefragen
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Mit seinen zusammen zu prüfenden drei Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet, und ob bejahendenfalls eine solche Abgeltung davon abhängt, dass der Betroffene im Vorfeld einen Antrag gestellt hat.
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Zunächst ist an die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zu erinnern, wonach der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der durch die Richtlinie 2003/88 kodifizierten Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307, S. 18) selbst ausdrücklich gezogen werden (vgl. Urteile Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 22, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 23, und Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 16).
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Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass zum einen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 nicht zu den Vorschriften gehört, von denen die Richtlinie ausdrücklich Abweichungen zulässt (vgl. Urteil Schultz-Hoff u. a., EU:C:2009:18, Rn. 24), und dass zum anderen diese Richtlinie die Ansprüche auf Jahresurlaub und auf Bezahlung während des Urlaubs als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs behandelt.
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Schließlich hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass der Arbeitnehmer, wenn das Arbeitsverhältnis geendet hat und es deshalb nicht mehr möglich ist, tatsächlich bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 Anspruch auf eine Vergütung hat, um zu verhindern, dass ihm wegen dieser Unmöglichkeit jeder Genuss des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, selbst in finanzieller Form, vorenthalten wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Schultz-Hoff u. a., EU:C:2009:18, Rn. 56, sowie Neidel, C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 29).
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Der Gerichtshof hat daher befunden, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub am Ende des Arbeitsverhältnisses keine finanzielle Vergütung gezahlt wird, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben bzw. im Krankheitsurlaub war und deshalb seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht wahrnehmen konnte (Urteil Schultz-Hoff u. a., EU:C:2009:18, Rn. 62).
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Im Licht dieser Rechtsprechung ist zu prüfen, ob in dem Fall, dass das Ereignis, das zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt hat, der Tod des Arbeitnehmers ist, ein solches Ereignis eine Umwandlung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub in einen Anspruch auf finanzielle Vergütung verhindern kann.
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Dazu ist festzustellen, dass der Anspruch auf Jahresurlaub nur einen der beiden Aspekte eines wesentlichen Grundsatzes des Sozialrechts der Union darstellt und dass dieser Grundsatz auch den Anspruch auf Bezahlung umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil Schultz-Hoff u. a., EU:C:2009:18, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
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Der vom Unionsgesetzgeber u. a. in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verwendete Begriff des bezahlten Jahresurlaubs bedeutet nämlich, dass für die Dauer des Jahresurlaubs im Sinne dieser Vorschrift das Entgelt für den Arbeitnehmer beizubehalten ist. Mit anderen Worten muss der Arbeitnehmer in dieser Ruhe- und Entspannungszeit das gewöhnliche Entgelt weiterbeziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile Robinson-Steele u. a., C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177, Rn. 50, Schultz-Hoff u. a., EU:C:2009:18, Rn. 58, und Lock, C‑539/12, EU:C:2014:351, Rn. 16).
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Um sicherzustellen, dass dieses im Unionsrecht verankerte grundlegende Arbeitnehmerrecht beachtet wird, darf der Gerichtshof Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 nicht auf Kosten der Rechte, die dem Arbeitnehmer nach dieser Richtlinie zustehen, restriktiv auslegen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Heimann und Toltschin, C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss Brandes, C‑415/12, EU:C:2013:398, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23
Sodann stellt Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof, wie von der ungarischen Regierung in ihren Erklärungen vorgebracht, für die Eröffnung des Anspruchs auf finanzielle Vergütung keine andere Voraussetzung auf als diejenige, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der Arbeitnehmer nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte.
24
Schließlich erweist sich ein finanzieller Ausgleich, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers geendet hat, als unerlässlich, um die praktische Wirksamkeit des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub sicherzustellen, der dem Arbeitnehmer nach der Richtlinie 2003/88 zusteht.
25
Würde nämlich die Pflicht zur Auszahlung von Jahresurlaubsansprüchen mit der durch den Tod des Arbeitnehmers bedingten Beendigung des Arbeitsverhältnisses enden, so hätte dieser Umstand zur Folge, dass ein unwägbares, weder vom Arbeitnehmer noch vom Arbeitgeber beherrschbares Vorkommnis rückwirkend zum vollständigen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub selbst, wie er in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verankert ist, führen würde.
26
Aus allen diesen Gründen kann Art. 7 der Richtlinie 2003/88 somit nicht dahin ausgelegt werden, dass der besagte Anspruch durch den Tod des Arbeitnehmers untergehen kann.
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Da Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 für die Eröffnung des Anspruchs auf finanzielle Vergütung außer der Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine weitere Voraussetzung aufstellt, kann eine solche Vergütung außerdem nicht davon abhängig gemacht werden, dass im Vorfeld ein entsprechender Antrag gestellt wurde.
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Zum einen nämlich besteht dieser Anspruch unmittelbar kraft der Richtlinie 2003/88, ohne dass der betreffende Arbeitnehmer insoweit tätig werden müsste, und zum anderen kann dieser Anspruch nicht von anderen Voraussetzungen als den in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen abhängen, so dass der Umstand, dass der Arbeitnehmer eine finanzielle Vergütung nach Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht im Vorfeld beantragt hat, völlig unerheblich ist.
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Daraus folgt zum einen, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass der Tod des Arbeitnehmers, der das Arbeitsverhältnis beendet, den Arbeitgeber des verstorbenen Arbeitnehmers der Zahlung der finanziellen Vergütung enthebt, die Letzterem normalerweise für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zugestanden hätte, und zum anderen, dass eine solche Vergütung nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass im Vorfeld ein entsprechender Antrag gestellt wurde.
30
Nach alledem ist auf die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ohne Begründung eines Abgeltungsanspruchs für nicht genommenen Urlaub untergeht, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Eine solche Abgeltung kann nicht davon abhängen, dass der Betroffene im Vorfeld einen Antrag gestellt hat.
Kosten
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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
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