BAG: Entgeltfortzahlung – ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie
BAG, Urteil vom 28.6.2023 – 5 AZR 335/22
ECLI:DE:BAG:2023:280623.U.5AZR335.22.0
Volltext: BB-Online BBL2023-2803-2
Orientierungssätze
1. Für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ist eine ordnungsge-mäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbe-scheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel. Daher kann der Arbeit-nehmer den Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch die Vorlage einer solchen ärztlichen Arbeits-unfähigkeitsbescheinigung i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG führen (Rn. 12).
2. Die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (sh. § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 SGB V) ist für Arbeit-nehmer und Arbeitgeber als Parteien des Arbeitsverhältnisses nicht verbindlich. Dennoch können Verstöße gegen Rege-lungen der Richtlinie, die auf medizini-schen Erkenntnissen zur sicheren Fest-stellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beru-hen, nach den Umständen des Einzelfalls geeignet sein, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeits-bescheinigung im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzuneh-menden Beweiswürdigung zu erschüt-tern (Rn. 17). Unbeachtlich sind hingegen Verstöße gegen formale Vorgaben, die in erster Linie für das kassenrechtliche Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse von Bedeutung sind (Rn. 16).
Sachverhalt
Die Parteien streiten – soweit mit Blick auf die beschränkte Zulassung der Revision noch erheblich – über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere über den Beweiswert der vom Kläger eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
Der Kläger war vom 16. Januar 2020 bis zum 30. September 2020 bei der Beklagten, die Personalvermittlung und -verleih betreibt, als technischer Sachbearbeiter beschäftigt. Zwischen den Parteien waren eine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden bei einer Fünf-Tage-Woche und (zuletzt) eine Bruttostundenvergütung von 12,42 Euro vereinbart. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund fristgemäßer Kündigung der Beklagten vom 1. September 2020, die der Kläger am 2. September 2020 zur Kenntnis nahm. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen der Vorinstanzen arbeitete er noch bis zum 4. September 2020 für die Beklagte in einem Entleiherbetrieb.
Für die Zeit vom 7. September 2020 bis zum 30. September 2020 legte der Kläger zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, eine Erstbescheinigung vom 7. September 2020 über Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. September 2020 und eine Folgebescheinigung vom 21. September 2020 über fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bis zum 30. September 2020. Im Laufe des Verfahrens hat der Kläger die Ausfertigungen für den Versicherten zur Akte gereicht, aus denen die „die AU-begründenden Diagnose(n) (ICD-10)“ ersichtlich sind. Die behandelnde Ärztin hat jeweils „M25.51 G R“ angegeben (Gelenkschmerz Schulterregion gesichert rechts). Der Kläger hat außerdem Folgebescheinigungen für die Zeit bis zum 15. November 2020 vorgelegt, die ab dem 16. Oktober 2020 zusätzlich zu „M25.51 G R“ die ICD-10-Codes „75.5 G R“ (Bursitis im Schulterbereich gesichert rechts) und „75.8 G R“ (Sonstige Schulterläsionen gesichert rechts) enthalten. Weiter hat er den Befundbericht/Arztbrief vom 17. September 2020 zu einer MRT-Untersuchung seines rechten Schultergelenks am 16. September 2020 vorgelegt.
Die Beklagte zahlte für September 2020 weder Arbeitsvergütung noch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Für die Zeit bis zum 4. September 2020 haben die Vorinstanzen dem Kläger rechtskräftig Vergütung für geleistete Arbeit zugesprochen.
Mit seiner Klage hat der Kläger – soweit für die Revision noch erheblich – vom 7. bis zum 30. September 2020 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall iHv. 1.788,48 Euro brutto nebst Zinsen verlangt. Er hat gemeint, seine Arbeitsunfähigkeit habe er durch die der Beklagten vorgelegten Bescheinigungen nachgewiesen, deren Beweiswert nicht erschüttert sei. Aufgrund starker Schmerzen und Bewegungseinschränkungen habe er die geschuldete Arbeitsleistung als technischer Sachbearbeiter nicht ausführen können. Er hat sinngemäß – soweit für die Revision von Bedeutung – zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.788,48 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. Oktober 2020 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, der Beweiswert der für die Zeit ab dem 7. September 2020 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Sie seien nicht entsprechend den Vorgaben der „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V“ (im Folgenden: Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) ausgestellt worden. Nach § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (in der im September 2020 geltenden Fassung) müssten Symptome – hier „Schulterschmerzen“ – nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ersetzt werden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage ganz überwiegend stattgegeben und lediglich das Zinsdatum korrigiert. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Senat beschränkt zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte im Umfang der Zulassung die von ihr begehrte Klageabweisung weiter, während der Kläger die Zurückweisung der Revision beantragt.
Aus den Gründen
8 Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Sie sind in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Beklagte keine Umstände aufgezeigt hat, die geeignet sind, den Beweiswert der streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 7. und vom 21. September 2020 zu erschüttern.
9 I. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten gegen das klagestattgebende Urteil des Arbeitsgerichts im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 7. bis zum 30. September 2020 einen Anspruch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus § 3 Abs. 1 EFZG in (unstreitiger) Höhe von 1.788,48 Euro brutto.
10 1. Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.
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2. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG (BAG 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18 – Rn. 16, BAGE 169, 117).
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a) Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung strahlt auch auf die beweisrechtliche Würdigung aus. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt daher aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Die Gesetzesbegründung zur elektronischen Meldung nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGB IV hat die in § 5 Abs. 1a Satz 2 EFZG vorgesehene Papierbescheinigung „als gesetzlich vorgesehenes Beweismittel mit dem ihr von der Rechtsprechung zugebilligten hohen Beweiswert“ bezeichnet (BT-Drs. 19/13959 S. 37) und sich damit diese Bewertung zu eigen gemacht (aA Ricken RdA 2022, 235, 239 f.). Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt. Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit iSd. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre (BAG 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 13 mwN, BAGE 175, 358; zust. Fuhlrott/Mai NZA 2022, 97; Küfner-Schmitt Anm. AP EntgeltFG § 5 Nr. 11; Weidt BB 2022, 1396; teilweise kritisch Ricken RdA 2022, 235, 239 f.).
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b) Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG kann nach den Umständen des Einzelfalls auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erschüttert sein.
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aa) Die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassen (§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V), dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen. Als untergesetzliche Rechtsnorm muss sie mit dem geltenden höherrangigen Recht vereinbar sein (BSG 15. Mai 2019 – B 6 KA 27/18 B – Rn. 15). Die Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses sind nach § 91 Abs. 6 SGB V (nur) für die Träger des Gemeinsamen Bundesausschusses – die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und den Spitzenverband Bund der Krankenkassen -, deren Mitglieder und Mitgliedskassen sowie für die Versicherten und die Leistungserbringer verbindlich (vgl. BeckOGK/Roters Stand 1. Dezember 2020 SGB V § 91 Rn. 21; Becker/Kingreen/Hollo 8. Aufl. SGB V § 91 Rn. 62), nicht jedoch für den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer als Parteien des Arbeitsverhältnisses (Ricken RdA 2022, 235, 243).
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bb) In § 5 EFZG – sowohl in der für den vorliegenden Fall maßgeblichen alten Fassung, wie auch in ab 1. Januar 2023 geltenden neuen Fassung – wird die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nicht erwähnt und ihre Anforderungen werden nicht explizit in Bezug genommen. Vielmehr ist dort nur die Rede von „einer ärztlichen Bescheinigung“. § 5 Abs. 1 Satz 2 und Satz 5 EZFG stellen eigene Anforderungen dazu auf, welche Informationen eine dem Arbeitgeber zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit vorzulegende Bescheinigung enthalten muss (vgl. BeckOK ArbR/Ricken Stand 1. März 2023 EFZG § 5 Rn. 18; MüKoBGB/Müller-Glöge 9. Aufl. EFZG § 5 Rn. 17; Schmitt EFZG/Küfner-Schmitt 9. Aufl. EFZG § 5 Rn. 98 ff.; Knorr/Krasney Stand 2022 Entgeltfortzahlung/Krankengeld/Mutterschaftsgeld § 5 Rn. 39). Danach sind lediglich in Schriftform das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer anzugeben. Die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie entfaltet keine unmittelbare Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber und einem Arzt, der kein Vertragsarzt ist oder als Privatarzt gegenüber nicht gesetzlich versicherten Arbeitnehmern tätig wird. Auch Versicherte der Krankenkassen können einen solchen Arzt – auf eigene Kosten – frei wählen und müssen sich nicht an einen Vertragsarzt wenden (MüKoBGB/Müller-Glöge 9. Aufl. EFZG § 5 Rn. 16; Schmitt EFZG/Küfner-Schmitt 9. Aufl. EFZG § 5 Rn. 109).
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cc) Soweit der Senat in seiner Rechtsprechung darauf abgestellt hat, dass die „ordnungsgemäß“ iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel des Arbeitnehmers für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ist (BAG 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 12 mwN, BAGE 175, 358), sind bei der Prüfung, ob der Beweiswert einer Bescheinigung erschüttert wurde, nicht alle Bestimmungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie relevant. Formale Vorgaben, die in erster Linie kassenrechtliche Bedeutung haben und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, wie Formulare und Angaben für die Abrechnung, sind hierfür grundsätzlich ohne Belang (vgl. BeckOK ArbR/Ricken Stand 1. März 2023 EFZG § 5 Rn. 18; Schmitt EFZG/Küfner-Schmitt 9. Aufl. EFZG § 5 Rn. 111 ff.; im Ergebnis auch Fuhlrott/Mai NZA 2022, 97, 99 ff.). Damit wird berücksichtigt, dass diese Richtlinienbestimmungen für Ärzte, die nicht Vertragsärzte sind oder als Privatarzt gegenüber nicht gesetzlich versicherten Arbeitnehmern tätig werden, ohne rechtliche Bedeutung sind.
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Anders zu beurteilen sind hingegen die Regelungen in § 4 und § 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Hierzu gehören beispielsweise die Bestimmungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund persönlicher ärztlicher Untersuchung und zur Dauer der zu bescheinigenden Arbeitsunfähigkeit. Es handelt sich dabei zwar bereits von Gesetzes wegen nicht um zwingende Vorgaben, die die Arbeitsvertragsparteien und Arbeitsgerichte binden. Solche Bestimmungen enthalten aber eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (vgl. Hahn ZMGR 2018, 279, 281; Braun GesR 2018, 409, 410). Sie bilden den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab (Ricken RdA 2022, 235, 243). So verstanden können Verstöße hiergegen nach der Lebenserfahrung und der Expertise des Normgebers der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie geeignet sein, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzunehmenden Beweiswürdigung zu erschüttern.
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dd) Dieses Verständnis des Beweiswerts einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entspricht weitgehend dem des Bundessozialgerichts zum Krankengeldbezug (vgl. zB zur Verwendung der Mustervordrucke BSG 29. Oktober 2020 – B 3 KR 6/20 R – Rn. 15; 14. August 2018 – B 3 KR 5/18 B – Rn. 9). Der Bescheinigung mit der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit wird hierin die Bedeutung einer gutachterlichen Stellungnahme beigemessen. Sie bilde eine Grundlage für den über den Krankengeldbezug zu erteilenden Verwaltungsakt der Krankenkasse, ohne dass Krankenkasse und Gerichte an den Inhalt der ärztlichen Bescheinigung gebunden seien (BSG 29. Oktober 2020 – B 3 KR 6/20 R – Rn. 15; 16. Dezember 2014 – B 1 KR 37/14 R – Rn. 16, BSGE 118, 52; 8. November 2005 – B 1 KR 18/04 R – Rn. 20). Im sozialgerichtlichen Verfahren sei eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein Beweismittel wie jedes andere, so dass der durch sie bescheinigte Inhalt durch andere Beweismittel widerlegt werden könne (BSG 8. November 2005 – B 1 KR 18/04 R – aaO). Sowohl bei der Erstfeststellung der Arbeitsunfähigkeit als auch bei nachfolgenden Feststellungen besteht nach dieser Rechtsprechung ein Krankengeldanspruch aus § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V nur nach einer persönlichen Untersuchung des Versicherten durch einen Arzt. Eine telefonische Befragung genüge nicht (BSG 16. Dezember 2014 – B 1 KR 25/14 R – Rn. 13). Zur Begründung hat das Bundessozialgericht auf die Regelungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit in § 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie und auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V Bezug genommen. Hieraus hat es die Notwendigkeit hergeleitet, dass Krankengeld nur auf der Grundlage einer bestmöglich fundierten ärztlichen Einschätzung gewährt werden darf. Im neueren sozialrechtlichen Schrifttum wird ergänzend die Auffassung vertreten, eine mittelbare persönliche Untersuchung im Rahmen einer Videosprechstunde stehe der unmittelbaren persönlichen Untersuchung im Sinne dieser Rechtsprechung gleich (BeckOGK/Schifferdecker Stand 1. März 2022 SGB V § 46 Rn. 56; Krauskopf/Rieke Stand September 2022 SGB V § 44 Rn. 27; dazu auch instruktiv Ricken RdA 2022, 235, 242 ff.). Ein weitgehend einheitliches Verständnis der Verbindlichkeit der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und den damit in Zusammenhang stehenden beweisrechtlichen Fragen ist bedeutsam, weil das Krankengeld eine Entgeltersatzfunktion hat (§ 47 Abs. 3 SGB V). Nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ruht der Anspruch auf Krankengeld, soweit und solange Versicherte beitragspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhalten. Hierdurch soll einen Doppelbezug von Entgelt und Entgeltersatzleistungen verhindert werden (ErfK/Rolfs 23. Aufl. SGB V § 49 Rn. 1). Hauptanwendungsfall des § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ist die Entgeltfortzahlung nach §§ 3 und 4 EFZG (NK-ArbR/Lang 2. Aufl. SGB V § 49 Rn. 3; BeckOGK/Schifferdecker Stand 1. August 2022 SGB V § 49 Rn. 14).
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3. Nach diesen Grundsätzen kann ein Verstoß gegen die Regelungen in § 5 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (in der im September 2020 geltenden Fassung, entspricht § 5 Abs. 1 Satz 4 und Satz 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie in der seit April 2023 geltenden Fassung), auf den die Beklagte sich vorliegend beruft, grundsätzlich zu einer Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen.
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a) Die Kodierung nach ICD-10 betrifft allerdings primär das Abrechnungsrecht und damit zunächst das Verhältnis zwischen Vertragsärzten und Kassen. § 295 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB V, der in § 5 Abs. 1 Satz 3 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie in Bezug genommen wird, regelt die Verpflichtung der Vertragsärzte zur versichertenbezogenen Übermittlung der Leistungsdaten, darunter die nach ICD-10 kodierten Diagnosen. Die Diagnose ist Bestandteil einer ordnungsgemäßen Leistungsbeschreibung und zur Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen zwischen Leistungserbringern, Abrechnungsstellen, Krankenversicherungen und -kassen erforderlich (vgl. BeckOGK/Hess Stand 1. Mai 2021 SGB V § 295 Rn. 4; Becker/Kingreen/Michels 8. Aufl. SGB V § 295 Rn. 1). Die Kodierung nach ICD-10 ist ua. Voraussetzung für die elektronische oder maschinelle Verarbeitung der Abrechnungen im Rahmen des Fallpauschalensystems und soll diagnose- und leistungsbezogene Analysen zur Weiterentwicklung der Abrechnungs- und Versorgungssysteme ermöglichen (Becker/Kingreen/Michels 8. Aufl. SGB V § 301 Rn. 6). Dennoch kann ein Verstoß gegen die Vorgabe in § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, Symptome wie Fieber oder Übelkeit nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen – je nach den im Einzelfall vom Arzt angegebenen ICD-10-Codes – in Zusammenschau mit der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung aufwerfen.
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b) Einer Berücksichtigung von Verstößen gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie steht – anders als das Landesarbeitsgericht meint – nicht entgegen, dass die nach § 5 Abs. 1 EFZG aF für den Arbeitgeber vorgesehene Durchschrift der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Angaben zur Ursache und Art der Arbeitsunfähigkeit und der zugrundeliegenden Erkrankung zu enthalten hat (vgl. dazu MüKoBGB/Müller-Glöge 9. Aufl. EFZG § 5 Rn. 17 mwN). Dies trifft zwar zu und der Arbeitnehmer ist grundsätzlich auch nicht verpflichtet, diese Informationen offen zu legen. Etwas anderes gilt aber, wenn sich wie vorliegend ein Arbeitnehmer – ohne dazu vom Gericht oder der Gegenseite aufgefordert zu sein – freiwillig zu den zugrundeliegenden Diagnosen bzw. ICD-10-Codes erklärt und sie selbst ins Verfahren einführt. In dem Fall kann sich der Arbeitgeber auf diese Informationen für eine eventuelle Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stützen.
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4. Ob es dem Arbeitgeber gelungen ist, den Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, ist eine Frage der Beweiswürdigung. Diese ist grundsätzlich gemäß § 286 ZPO dem Tatrichter vorbehalten. Revisionsrechtlich ist nur zu überprüfen, ob die Beweiswürdigung in sich widerspruchsfrei und ohne Verletzung von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen erfolgt ist, ob sie rechtlich möglich ist und ob das Berufungsgericht alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (vgl. BAG 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18 – Rn. 25, BAGE 169, 117).
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5. Ausgehend hiervon ist die Annahme der Vorinstanzen, der Kläger sei im maßgeblichen Klagezeitraum infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert gewesen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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a) Das Landesarbeitsgericht hat zwar angenommen, eine Erschütterung des Beweiswerts komme durch einen Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Regelungen ausschließlich das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse beträfen. Vorangestellt hat es aber eine vollumfängliche Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts. Es hat sich diese zu eigen gemacht und dies ausdrücklich festgestellt (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Da das Arbeitsgericht nach Würdigung des Beklagtenvortrags zu – vermeintlichen – Verstößen gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie zu dem Ergebnis gekommen ist, der Beweiswert der streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei nicht erschüttert, handelt es sich insoweit lediglich um eine Hilfsbegründung des Berufungsgerichts.
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b) Das Arbeitsgericht hat in seiner Entscheidung ausgeführt, dass und weshalb es nach Würdigung der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und des weiteren Parteivortrags davon ausgeht, dass der Kläger seine Arbeitsunfähigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum nachgewiesen habe. Diese Würdigung, die sich das Landesarbeitsgericht zu eigen gemacht hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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aa) Zwar dürfte grundsätzlich davon auszugehen sein, dass ein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie den Beweiswert einer für zwei Wochen ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf der Basis von „Symptomen“ wie zB Fieber oder Übelkeit erschüttern könnte. Ein solcher Verstoß hätte Auswirkungen auf die gesamte Bescheinigung. Er würde – anders als das Arbeitsgericht meint – nicht erst nach Ablauf des „zulässigen“ Zeitraums von sieben Tagen eingreifen.
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bb) Das Arbeitsgericht stellt aber maßgeblich auch darauf ab, dass unklar sei, „in welchen konkreten Umständen die Beklagte einen Verstoß gegen die genannte Richtlinienvorschrift erkenne“. Es meint im Ergebnis, dass ein relevanter Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nicht vorliege. Die ärztliche Feststellung, die hinter dem ICD-10 Code M25.51 G R stehe, kann nach Auffassung des Arbeitsgerichts durchaus eine Diagnose darstellen. Sie unterscheide sich qualitativ von der bloßen Feststellung unspezifischer Symptome. § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie fordere – anders als die Beklagte meine – nicht, dass der Arzt ab der zweiten Woche der Arbeitsunfähigkeit bereits konkrete Schmerzursachen attestiere. Zudem sei auch der weitere Klägervortrag zu ärztlichen Behandlungen und Untersuchungen zu berücksichtigen.
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c) Diese Würdigung ist in sich widerspruchsfrei und verletzt weder Denkgesetze noch allgemeine Erfahrungssätze. Sie ist rechtlich möglich und berücksichtigt alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände.
29
aa) Zutreffend hat das Arbeitsgericht bei der Prüfung, ob der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert ist, eine Gesamtbetrachtung der Umstände des Falls vorgenommen und dabei den weiteren Vortrag des Klägers, auch zu medizinischen Behandlungen und ärztlich angeordneten Untersuchungen, berücksichtigt. Diesen Vortrag hat die Beklagte nicht substantiiert bestritten. Sie hat lediglich gemeint, er könne – ausgehend von der von ihr angenommenen Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – hinsichtlich der Frage, ob tatsächlich Arbeitsunfähigkeit vorlag, eine Beweiserhebung nicht ersetzen. Eine Kongruenz zwischen der Kündigungsfrist und der Dauer der insgesamt bescheinigten Arbeitsunfähigkeit hatte das Arbeitsgericht – anders als die Beklagte meint – nicht zu berücksichtigen. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen der Vorinstanzen hat der Kläger, nachdem er die Kündigung zur Kenntnis genommen hatte, noch für die Beklagte in einem Entleiherbetrieb gearbeitet.
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bb) Auch die Bewertung des Arbeitsgerichts, ein den Beweiswert erschütternder Verstoß gegen Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie liege nicht vor, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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(1) Die Annahme des Arbeitsgerichts, die mit M25.51 G R kodierte ärztliche Feststellung könne eine Diagnose darstellen und somit im Einklang mit § 5 Abs. 1 Satz 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie stehen, ist in der Systematik und Struktur des ICD-10-Systems angelegt. Die von der Ärztin des Klägers verwendete Schlüsselnummer M25.51 stammt aus dem Kapitel XIII zu Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes. Sie befindet sich in der Gruppe Arthropatien (M00-M25) unter der Überschrift „Sonstige Gelenkkrankheiten, anderenorts nicht klassifiziert“ (M.25.-) als Gelenkschmerz (M.25.5-). Damit hat die Ärztin eine Schlüsselnummer gewählt, die sowohl nach Kapitel wie auch nach Untergruppe „Krankheiten“ umfasst. Dass das Arbeitsgericht bei der vorliegenden Kodierung aus dem Bereich der Gelenkerkrankungen keine Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen angenommen hat, unterliegt deshalb keinen revisionsrechtlichen Bedenken.
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(2) Soweit die Beklagte dies anders gesehen und gemeint hat, eine Diagnose könne nur bei „objektivierbaren“ Zuständen vorliegen, zeigt sie keine Rechtsfehler der Vorinstanzen auf. Sie argumentiert, der ärztlichen Sachkunde könne eine ausschlaggebende Bedeutung nur zukommen, wenn die ärztliche Bescheinigung auf einem festgestellten objektiven Befund beruhe. Damit versucht sie letztlich – allgemein und bezogen auf den konkreten Fall – ihre Wertung an die Stelle der Wertung des Arbeitsgerichts zu setzen, ohne sich mit der Begründung des Arbeitsgerichts inhaltlich auseinanderzusetzen. Es entspräche im Übrigen weder der Lebenserfahrung noch den normativen Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes, jeder ärztlichen Beurteilung „eines vom Patienten (subjektiv) geschilderten Gesundheitszustandes“ einen Beweiswert abzusprechen.
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6. Die erstinstanzlich – pauschal – erhobenen Einwände der Beklagten, eine Schultererkrankung müsse nicht zur Arbeitsunfähigkeit für die arbeitsvertragliche Tätigkeit als technischer Sachbearbeiter führen bzw. der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeit durch „Fitnesstraining“ selbst verschuldet, haben die Vorinstanzen zu Recht als unsubstantiiert bzw. durch Klägervortrag widerlegt zurückgewiesen.
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II. Dem Kläger stehen gesetzliche Zinsen jedenfalls ab dem vom Arbeitsgericht ausgeurteilten Zeitpunkt zu.
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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.