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Arbeitsrecht
01.03.2012
Arbeitsrecht
BAG: Außerordentliche Kündigung - Beleidigung des Personalleiters











BAG , Urteil  vom 07.07.2011 - Aktenzeichen 2 AZR 355/10
(Vorinstanz: LAG Niedersachsen vom
03.12.2009 - Aktenzeichen 5 Sa 739/09; ) (Vorinstanz: ArbG Hildesheim - 3
Ca 365/08 - 7.5.2009 )


Amtliche Leitsätze:
Die Berücksichtigung der Dauer des Arbeitsverhältnisses und
seines störungsfreien Verlaufs bei der Interessenabwägung im Rahmen von § 626
Abs. 1
BGB
verstößt nicht gegen das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung des
nationalen Rechts.
Orientierungssätze:
1. Grobe Beleidigungen des Arbeitgebers, seiner Vertreter
und Repräsentanten oder von Arbeitskollegen stellen einen erheblichen Verstoß
des Arbeitnehmers gegen seine vertragliche Pflicht zur Rücksichtnahme dar (§ 241
Abs. 2
BGB)
und sind "an sich" geeignet, eine außerordentliche fristlose Kündigung zu
rechtfertigen. Eine grobe Beleidigung in diesem Sinne kann auch in einem
Vergleich mit Vorgehensweisen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
liegen.
2. Die Grenze zwischen einer lediglich überspitzten oder
polemischen Kritik und einer nicht mehr vom Grundrecht auf freie
Meinungsäußerung (Art. 5
Abs. 1
GG)
gedeckten Schmähung ist überschritten, wenn bei der Äußerung nicht mehr die
Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im
Vordergrund steht.
3. Die Berücksichtigung der Dauer des Arbeitsverhältnisses
und seines störungsfreien Verlaufs bei der Interessenabwägung im Rahmen von § 626
Abs. 1
BGB
verstößt nicht gegen das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung des
nationalen Rechts. Eine darin möglicherweise liegende mittelbare Benachteiligung
jüngerer Arbeitnehmer ist durch ein legitimes Ziel und verhältnismäßige Mittel
zu seiner Durchsetzung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG gerechtfertigt.

4. In der Zustimmung des Integrationsamts zu einer
außerordentlichen Kündigung ist weder konkludent eine Zustimmung auch zur
ordentlichen Kündigung nach § 85
SGB
IX
enthalten noch kann seine Entscheidung nach § 43
Abs. 1
SGB
X
in eine Zustimmung zur ordentlichen Kündigung umgedeutet
werden.

Amtliche Normenkette: GG
Art. 5
Abs. 1;
BGB
§ 241
Abs. 2;
BGB
§ 626
Abs. 1;
RL 2000/78/EG Art. 1; RL
2000/78/EG Art. 2; SGB
IX
§ 85;
SGB
X
§ 43
Abs. 1;


ArbRB 2012, 5
DB 2012, 58
NJW 2011, 3803
NZA 2011, 1412








Tatbestand:
 






Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen
Kündigung.
RN 1






Der im Jahr 1957 geborene Kläger ist verheiratet und einem
Kind zum Unterhalt verpflichtet. Er war seit dem 1. Oktober 1979 als
Rettungsassistent bei dem Beklagten beschäftigt. Sein Bruttomonatsentgelt betrug
zuletzt 3.110,66 Euro. Er ist mit einem Grad von 70 schwerbehindert.
RN 2






Aufgrund seiner Schwerbehinderung war der Kläger längere Zeit
arbeitsunfähig. Seit September 2006 führten die Parteien Gespräche über die
Möglichkeit, ihn in anderer Weise einzusetzen. Dabei kam es am 4. Januar 2008 zu
einem Gespräch zwischen dem Kläger und dem Personalleiter. Dessen genauer
Verlauf ist streitig. Etwa neun Monate später - am 1. Oktober 2008 - sandte der
Kläger an den Beklagten zu Händen des Personalleiters ein Schreiben, in dem es
hieß:
RN 3






"... Des weiteren möchte ich nun noch einmal auf unser oben
genanntes Personalgespräch eingehen, insbesondere auf die von Ihnen getätigte
Aussage: 'Wir wollen nur gesunde und voll einsetzbare Mitarbeiter.' Diese
Aussage ist in meinen Augen vergleichbar mit Ansichten und Verfahrensweisen aus
dem Dritten Reich und gehört eigentlich auf die Titelseiten der Tageszeitungen
sowie in weiteren Medien!"
 






Mit Schreiben vom 1. Oktober 2008 hörte der Beklagte die
Mitarbeitervertretung zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung an.
Mit Schreiben vom 13. Oktober 2008 beantragte er beim Integrationsamt die
Zustimmung zu einer solchen Kündigung. Am 28. Oktober 2008 stimmte das
Integrationsamt einer außerordentlichen Kündigung des Klägers zu. Es teilte dies
dem Beklagten mündlich noch am selben Tage sowie mit Schreiben vom selben Tage
auch schriftlich mit.
RN 4






Mit Schreiben vom 28. Oktober 2008, dem Kläger einen Tag
später zugegangen, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien
außerordentlich fristlos.
RN 5






Der Kläger wies die Kündigung mit Schreiben vom 4. November
2008 mangels Vollmacht zurück. Zudem hat er rechtzeitig Klage erhoben und die
Auffassung vertreten, ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung
sei nicht gegeben. Im Übrigen sei der Unterzeichner des Kündigungsschreibens zum
Ausspruch der Kündigung nicht berechtigt gewesen.
RN 6






Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren noch von
Interesse - beantragt
RN 7






festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch
die Kündigung des Beklagten vom 28. Oktober 2008 nicht beendet worden
ist.
 






Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die
Ansicht vertreten, das Schreiben des Klägers vom 1. Oktober 2008 stelle eine
grobe Beleidigung dar. Die darin behauptete Äußerung des Personalleiters habe
dieser außerdem nicht von sich gegeben.
RN 8






Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der
Revision verfolgt der Beklagte sein Begehren weiter, die Klage
abzuweisen.
RN 9








Entscheidungsgründe:
 






Die Revision ist unbegründet. Für die außerordentliche
Kündigung des Beklagten vom 28. Oktober 2008 fehlt es an einem wichtigen Grund
iSv. § 626
Abs. 1
BGB
(I.). Die unwirksame außerordentliche Kündigung kann nicht nach § 140
BGB
in eine ordentliche Kündigung umgedeutet werden (II.). Keiner Entscheidung
bedarf, ob die Kündigung zudem nach § 174
Satz 1 BGB
unwirksam ist.
RN 10






I. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, für die Kündigung
des Beklagten vom 28. Oktober 2008 fehle es an einem wichtigen Grund iSv. § 626
Abs. 1
BGB,
ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
RN 11






1. Gemäß § 626
Abs. 1
BGB
kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer
Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem
Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter
Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der
vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände
"an sich", dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf
es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses
unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der
Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist
zumutbar ist oder nicht (BAG 10. Juni 2010 - 2
AZR 541/09
- Rn. 16, AP BGB
§ 626
Nr. 229 = EzA BGB
2002 § 626
Nr. 32; 26. März 2009 - 2
AZR 953/07
- Rn. 21 mwN, AP BGB
§ 626
Nr. 220).
RN 12






2. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Äußerungen des
Klägers im Schreiben vom 1. Oktober 2008 seien "an sich" als wichtiger Grund
iSv. § 626
Abs. 1
BGB
geeignet, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
RN 13






a) Grobe Beleidigungen des Arbeitgebers, seiner Vertreter und
Repräsentanten oder von Arbeitskollegen stellen einen erheblichen Verstoß des
Arbeit- nehmers gegen seine vertragliche Pflicht zur Rücksichtnahme dar (§ 241
Abs. 2
BGB)
und sind "an sich" geeignet, eine außerordentliche fristlose Kündigung zu
rechtfertigen (BAG 24. November 2005 - 2
AZR 584/04
- zu B I 2 a der Gründe, AP BGB
§ 626
Nr. 198 = EzA BGB
2002 § 626
Nr. 13; 24. Juni 2004 - 2
AZR 63/03
- AP KSchG
1969 § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 49 = EzA KSchG
§ 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 65; KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626
BGB
Rn. 117; Däubler in Kittner/Däubler/Zwanziger KSchR 8. Aufl. Art. 5
GG
Rn. 10; APS/Dörner Kündigungsrecht 3. Aufl. § 626
BGB
Rn. 226; Preis in Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im
Arbeitsverhältnis 10. Aufl. Rn. 648; HaKo/Fiebig 3. Aufl. § 1 Rn. 416). Die
Gleichsetzung noch so umstrittener betrieblicher Vorgänge mit dem
nationalsozialistischen Terror- system und ein Vergleich von Handlungen des
Arbeitgebers oder der für ihn handelnden Menschen mit den vom
Nationalsozialismus geförderten Verbrechen bzw. den Menschen, die diese
Verbrechen begingen, kann eine grobe Beleidigung der damit angesprochenen
Personen darstellen. Darin liegt zugleich eine Verharmlosung des in der Zeit des
Nationalsozialismus begangenen Unrechts und eine Verhöhnung seiner Opfer (BAG
24. November 2005 - 2
AZR 584/04
- zu B I der Gründe, aaO.; 9. August 1990 - 2 AZR 623/89 - RzK I
5i 63).
RN 14






b) Ob der Sinn einer Meinungsäußerung vom Berufungsgericht
zutreffend erfasst worden ist, ist vom Revisionsgericht uneingeschränkt zu
überprüfen (BAG 24. November 2005 - 2
AZR 584/04
- zu B I 1 der Gründe, AP BGB
§ 626
Nr. 198 = EzA BGB
2002 § 626
Nr. 13). Hierbei ist das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5
Abs. 1
GG
zu beachten (BAG 24. November 2005 - 2
AZR 584/04
- zu B I 2 b der Gründe, aaO.).
Für die Ermittlung des Aussagegehalts einer schriftlichen Äußerung ist darauf
abzustellen, wie sie vom Empfänger verstanden werden muss. Dabei ist eine
isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils regelmäßig nicht
zulässig. Vielmehr sind auch der sprachliche Kontext und die sonstigen
erkennbaren Begleitumstände zu berücksichtigen (vgl. BGH 30. Mai 2000 - VI
ZR 276/99
- zu II 3 der Gründe, NJW 2000, 3421).
RN 15






c) Das Landesarbeitsgericht hat dem Schreiben vom 1. Oktober
2008 die Aussage entnommen, der Kläger vergleiche die - streitige - Bemerkung
des damaligen Personalleiters mit Vorgehensweisen des nationalsozialistischen
Unrechtsregimes. Es hat angenommen, diese Erklärung könne nicht mehr als eine
lediglich überspitzte oder polemische Kritik gewertet werden. Sie sei daher
nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Dem ist im Ergebnis
zuzustimmen.
RN 16






aa) Allerdings macht auch eine überzogene oder gar ausfällige
Kritik eine Erklärung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten
muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der
Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht, die diese
jenseits polemischer und überspitzter Kritik in erster Linie herabsetzen soll
(vgl. BVerfG 10. Oktober 1995 - 1
BvR 1476/91
ua. - zu C III 2 der Gründe,
BVerfGE 93, 266;
BGH 30. Mai 2000 - VI
ZR 276/99
- zu II 4 a der Gründe, NJW 2000, 3421).
RN 17






bb) So liegt der Fall hier. Zwar hat der Kläger an einer -
streitigen - Bemerkung des Personalleiters in einem konkreten Gespräch Kritik
geübt. Aus dessen Sicht als des Empfängers des Schreibens konnte der Vergleich
mit Ansichten und Verfahrensweisen im Dritten Reich aber nicht mehr einer
sachlichen Auseinandersetzung, sondern nur einer persönlichen Herabwürdigung
dienen. Der Kläger hatte das Schreiben erst Monate nach dem fraglichen Gespräch
und zudem unter Hinweis auf eine mögliche Veröffentlichung der betreffenden
Bemerkung an den Personalleiter geschickt.
RN 18






3. Das Landesarbeitsgericht ist ferner ohne Rechtsfehler zu
dem Ergebnis gelangt, die fristlose Kündigung sei bei Beachtung aller Umstände
des vorliegenden Falls und nach Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht
gerechtfertigt.
RN 19






a) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine
Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen
Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist,
ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen
Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an
dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter
Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen (BAG 10. Juni 2010 -
2
AZR 541/09
- Rn. 34, AP BGB
§ 626
Nr. 229 = EzA BGB
2002 § 626
Nr. 32). Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die
Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend
festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die
Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung - etwa im Hinblick auf das Maß
eines durch sie bewirkten Vertrauensverlusts und ihre wirtschaftlichen Folgen -,
der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr
sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf (BAG
10. Juni 2010 - 2
AZR 541/09
- Rn. 34, aaO.; 28. Januar 2010 - 2
AZR 1008/08
- Rn. 26 mwN, AP BGB
§ 626
Nr. 227 = EzA BGB
2002 § 626
Nr. 30).
RN 20






b) Die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen
störungsfreier Verlauf dürfen bei der Interessenabwägung im Rahmen der Prüfung
des wichtigen Grundes iSv. § 626
Abs. 1
BGB
berücksichtigt werden. Dies verstößt nicht gegen das Gebot einer
unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts (vgl. dazu EuGH 19. Januar
2010 - C-555/07
- [Kücükdeveci] Rn. 48, Slg. 2010, I-365; 5. Oktober 2004 - C-397/01 bis
C-403/01 - [Pfeiffer ua.] Rn. 114, Slg. 2004, I-8835). Entgegen der Auffassung
des Beklagten liegt darin keine unzulässige Benachteiligung jüngerer
Arbeitnehmer wegen des Alters iSv. Art. 2 Abs.
1 iVm. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur
Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung
in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG, ABl. L 303, S. 16; vgl. auch Art. 21
Abs. 1 EU-GRCharta). Dies kann der Senat selbst beurteilen. Einer
Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267
Abs. 3 AEUV bedarf es nicht. Es stellen sich keine noch nicht geklärten Fragen
der Auslegung von Unionsrecht.
RN 21






aa) Werden die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen
störungsfreier Verlauf im Rahmen der Interessenabwägung nach § 626
Abs. 1
BGB
berücksichtigt, handelt es sich bei ihnen um Entlassungsbedingungen iSv. Art. 3
Abs. 1 Buchst. c RL 2000/78/EG.
RN 22






bb) Diese knüpfen nicht iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a
RL 2000/78/EG unmittelbar benachteiligend an das in Art. 1 RL 2000/78/EG
genannte Merkmal "Alter" an. Zwischen der Dauer der Betriebszugehörigkeit und
dem Alter besteht kein zwingender Zusammenhang, ein jüngerer Arbeitnehmer kann
länger beschäftigt sein als ein älterer (vgl. Kamanabrou RdA 2007, 199, 206; v.
Medem Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 2008 S. 499).
RN 23






cc) Es liegt auch keine mittelbare Diskriminierung wegen des
Alters iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG vor.
RN 24






(1) Dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder
Verfahren stellen nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG eine mittelbare
Diskriminierung dar, wenn sie geeignet sind, Personen wegen eines in Art. 1 RL
2000/78/EG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise zu
benachteiligen, es sei denn - so Unterabs. i der Regelung -, die betreffenden
Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich
gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und
erforderlich.
RN 25






(2) Es kann dahinstehen, ob bei einer verhaltensbedingten
Kündigung die Berücksichtigung der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen
störungsfreien Verlaufs bei der Interessenabwägung nach § 626
Abs. 1
BGB
überhaupt geeignet ist, jüngere Arbeitnehmer gegenüber älteren in diesem Sinne
in besonderer Weise zu benachteiligen. Selbst wenn eine solche mittelbare
Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer vorläge, wäre sie durch ein legitimes Ziel
und verhältnismäßige Mittel zu seiner Durchsetzung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b
Unterabs. i RL 2000/78/EG gerechtfertigt. Eine mittelbare Diskriminierung ist
damit schon tatbestandlich nicht gegeben (so im Ergebnis auch v. Medem aaO. S.
595; Thüsing/Laux/Lembke/Jacobs/Wege KSchG
2. Aufl. § 626

BGB
Rn. 48; aA Schrader/Straube ArbR 2009, 7, 9). Auf mögliche Rechtfertigungsgründe
nach Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG kommt es nicht an.
RN 26






(a) Art. 2 Abs. 2 RL 2000/78/EG unterscheidet zwischen
Diskriminierungen, die unmittelbar auf den in Art. 1 RL 2000/78/EG angeführten
Merkmalen beruhen, und mittelbaren Diskriminierungen. Während eine unmittelbar
auf dem Merkmal des Alters beruhende Ungleichbehandlung nur nach Maßgabe von
Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG gerechtfertigt werden kann, stellen diejenigen
Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, die mittelbare Diskriminierungen
bewirken können, nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG schon keine Diskriminierung
dar, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel
zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind (EuGH 5. März 2009
- C-388/07
- [Age Concern England] Rn. 59, Slg. 2009, I-1569; vgl. auch BAG 18. August 2009
- 1
ABR 47/08
- Rn. 31, BAGE 131, 342; Kamanabrou RdA 2007, 199, 206). Bewirken
die Vorschriften, Kriterien oder Verfahren wegen des Vorliegens eines sachlichen
Rechtfertigungsgrundes nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG schon keine
Diskriminierung, bedarf es keines Rückgriffs auf Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG
(EuGH 5. März 2009 - C-388/07
- [Age Concern England] Rn. 66, aaO.). Das rechtmäßige Ziel, das eine mittelbare
Diskriminierung ausschließt, muss demnach nicht zugleich ein legitimes Ziel iSd.
Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG insbesondere aus den Bereichen
Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung sein. Es schließt
andere von der Rechtsordnung anerkannte Gründe für die Verwendung des neutralen
Kriteriums ein (BAG 18. August 2009 - 1
ABR 47/08
- aaO.). Die Richtlinie ist insofern klar verständlich und bedarf
keiner weiteren Auslegung. Dem steht das Urteil des Gerichtshofs der
Europäischen Union vom 26. September 2000 (- C-322/98 - [Kachelmann], Slg. 2000,
I-7505) nicht entgegen. Darin prüft der Gerichtshof zwar die objektive
Rechtfertigung einer Frauen mittelbar benachteiligenden Maßnahme des nationalen
Gesetzgebers durch ein legitimes sozialpolitisches Ziel. Dem ist aber nicht zu
entnehmen, zur Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung durch eine
Rechtsnorm oder durch ihre Auslegung von Seiten der Gerichte komme auch unter
Geltung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG nur die
Berücksichtigung eines sozialpolitischen, nicht eines anderen rechtmäßigen Ziels
in Betracht (aA wohl ErfK/Schlachter 11. Aufl. § 3 AGG Rn. 9). Das Urteil betraf
die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der am 14. August 2009 außer Kraft getretenen
Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 ( RL
76/207/EWG
, ABl. L 39, S. 40). Diese enthielt keine Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG entsprechende
Definition der mittelbaren Diskriminierung.
RN 27






(b) Die Kriterien der Dauer des Arbeitsverhältnisses und
dessen störungsfreien Verlaufs verfolgen im Rahmen der Interessenabwägung nach §
626
Abs. 1
BGB
ein iSv. Art. 2
Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG rechtmäßiges Ziel. Es besteht in der
Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen dem jeweils nach Art. 12
Abs. 1
GG
geschützten Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers und dem
Beendigungsinteresse des Arbeitgebers. Beide Gesichtspunkte sind für die
erforderliche Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls unter der
Fragestellung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers
zumindest bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar ist, von
objektiver Bedeutung.
RN 28






(c) Die Berücksichtigung der beiden Gesichtspunkte bei der
Interessenabwägung nach § 626
Abs. 1
BGB
ist als Mittel zur Erreichung des Ziels eines adäquaten, befriedigenden
Grundrechte-Ausgleichs erforderlich und angemessen iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b
Unterabs. i RL 2000/78/EG.
RN 29






(aa) Die Berücksichtigung einer längeren unbeanstandeten
Beschäftigungsdauer ist erforderlich, um dem von § 626
Abs. 1
BGB
vorgegebenen Prinzip der Einzelfallprüfung Rechnung zu tragen. Ohne dieses
Kriterium bliebe ein maßgeblicher Umstand für die Beurteilung der Zumutbarkeit
einer Weiterbeschäftigung unberücksichtigt. Diese hängt auch bei erheblichen
Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers ua. davon ab, ob es sich um einen
erstmaligen Pflichtverstoß nach einer langjährigen beanstandungsfreien
Beschäftigung handelt oder ob der Verstoß bereits nach kurzer
Beschäftigungsdauer oder nach zwar längerwährender, aber nicht unbeanstandeter
Betriebszugehörigkeit auftrat. Ob ggf. das beeinträchtigte Vertrauensverhältnis
wiederhergestellt werden kann, hängt bei objektiver Betrachtung auch davon ab,
ob sich das in den Arbeitnehmer gesetzte Vertrauen bereits eine längere Zeit
bewährt hatte (vgl. BAG 10. Juni 2010 - 2
AZR 541/09
- Rn. 47, AP BGB
§ 626
Nr. 229 = EzA BGB
2002 § 626
Nr. 32). Ein Pflichtverstoß kann weniger schwer wiegen, wenn es sich um das
erstmalige Versagen nach einer längeren Zeit beanstandungsfrei erwiesener
Betriebstreue handelt.
RN 30






(bb) Das Kriterium der Dauer des Arbeitsverhältnisses und
dessen störungsfreien Verlaufs ist auch angemessen iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b
Unterabs. i RL 2000/78/EG. Es ist nur eines von mehreren Abwägungskriterien im
Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung. Es wirkt damit nicht absolut, sondern
nur relativ zugunsten des gekündigten Arbeitnehmers. Dadurch ist gewährleistet,
dass es nur in dem für einen billigen Ausgleich der Interessen erforderlichen
Maß das Ergebnis ihrer Abwägung beeinflusst. Selbst eine langjährige
beanstandungsfreie Tätigkeit gibt nicht etwa notwendig den Ausschlag zu Gunsten
des Arbeitnehmers. Die Pflichtverletzung kann so schwer wiegen, dass eine
Wiederherstellung des Vertrauens auch nach einer solchen Zeit ausgeschlossen
erscheint (vgl. BAG 9. Juni 2011 - 2
AZR 381/10
- Rn. 23; 16. Dezember 2010 - 2
AZR 485/08
- Rn. 27, AP BGB
§ 626
Nr. 232 = EzA BGB
2002 § 626
Nr. 33). Dementsprechend belastet eine Berücksichtigung der Dauer des
Arbeitsverhältnisses und seines ungestörten Verlaufs jüngere Arbeitnehmer nicht
unangemessen. Zu ihren Gunsten können andere Einzelfallumstände den Ausschlag
bei der Interessenabwägung geben. Im Übrigen hat es jeder Arbeitnehmer, auch der
mit erst kürzerer Betriebszugehörigkeit, in der Hand, sich keine Pflichtverstöße
zuschulden kommen zu lassen, die eine außerordentliche Kündigung
rechtfertigen.
RN 31






c) Danach hält die Interessenabwägung durch das
Landesarbeitsgericht einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
RN 32






aa) Dieses hat zugunsten des Klägers darauf abgestellt, dass
es sich bei seiner Pflichtverletzung um eine erstmalige Verfehlung dieser Art
nach 29 Jahren Betriebszugehörigkeit gehandelt habe. Auch habe der Kläger den
Beklagten und dessen Arbeitsmethoden nicht etwa generell mit dem Unrechtsregime
des Nationalsozialismus verglichen. Überdies sei eine Wiederholungsgefahr nicht
feststellbar.
RN 33






bb) Dies lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Zwar wiegt auch
die Gleichsetzung einer einzelnen Äußerung eines Repräsentanten des Beklagten
mit Vorgehensweisen während des Nationalsozialismus schwer. Das Ausmaß der
Pflichtwidrigkeit ist aber geringer, als wenn der gesamte Betrieb des Beklagten
mit solchen Verfahrensweisen verglichen worden wäre. Dass das
Landesarbeitsgericht unter diesen Umständen das Interesse des Klägers an einer
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses höher gewichtet hat als das
Beendigungsinteresse des Beklagten, hält sich im Rahmen seines
Beurteilungsspielraums.
RN 34






cc) Ob das Lebensalter des Klägers sowie weitere Umstände zu
seinen Gunsten bei der Interessenabwägung hätten berücksichtigt werden dürfen,
bedarf keiner Entscheidung. Das Landesarbeitsgericht hat hierauf nicht
ausschlaggebend abgestellt.
RN 35






II. Eine Umdeutung der unwirksamen außerordentlichen Kündigung
in eine ordentliche Kündigung nach § 140
BGB
ist, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, zumindest aus
formalen Gründen nicht möglich. Es fehlt an der auch für eine ordentliche
Kündigung erforderlichen vorherigen Zustimmung des Integrationsamts nach § 85
SGB
IX
. Dieses hat lediglich der außerordentlichen Kündigung zugestimmt. Darin
ist weder eine Zustimmung zur ordentlichen Kündigung konkludent enthalten, noch
kann seine Entscheidung nach § 43
Abs. 1
SGB
X
in eine Zustimmung zur ordentlichen Kündigung umgedeutet werden (vgl. zu
§§ 18,
19
und 21
SchwbG:
BAG 16. Oktober 1991 - 2 AZR 197/91 - zu III 3 der Gründe, RzK I 6b 12).
RN 36






III. Als unterlegene Partei hat der Beklagte gemäß § 97
Abs. 1
ZPO
die Kosten der Revision zu tragen.
RN 37
 

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