EuGH: Am Wohnsitz verbrachte Bereitschaftszeit kann als Arbeitszeit angesehen werden
EuGH, Pressemitteilung Nr. 14/18 vom 21.2. 2018 zu Urteil C-518/15, Ville de Nivelles / Rudy Matzak, ECLI:EU:C:2018:82
Volltext: BB-ONLINE BBL2018-627-1
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Die Verpflichtung, persönlich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend zu sein, sowie die Vorgabe, sich innerhalb kurzer Zeit am Arbeitsplatz einzufinden, schränken die Möglichkeiten eines Arbeitnehmers erheblich ein, sich anderen Tätigkeiten zu widmen
Der Feuerwehrdienst von Nivelles (Belgien) umfasst Berufsfeuerwehrleute und freiwillige Feuerwehrleute. Letztere nehmen an den Einsätzen teil und nehmen auch Wach- und Bereitschaftsdienste wahr. Herr Rudy Matzak wurde 1981 freiwilliger Feuerwehrmann. Außerdem ist er Angestellter eines Privatunternehmens. Im Jahr 2009 klagte er gegen die Stadt Nivelles, um u. a. eine Entschädigung für seine zu Hause geleisteten Bereitschaftsdienste zu erhalten, die seiner Ansicht nach als Arbeitszeit einzuordnen sind.
Die mit dem Rechtsmittel in diesem Rechtsstreit befasste Cour du travail de Bruxelles (Arbeitsgerichtshof Brüssel, Belgien) hat entschieden, den Gerichtshof zu befragen. Insbesondere möchte sie wissen, ob die zu Hause geleisteten Bereitschaftsdienste unter die Definition der Arbeitszeit im Sinne des Unionsrechts fallen[1].
In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Mitgliedstaaten im Hinblick auf bestimmte Kategorien von bei öffentlichen Feuerwehrdiensten beschäftigten Feuerwehrleuten nicht von allen Verpflichtungen aus der Richtlinie, darunter die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“, abweichen dürfen.
Auch gestattet die Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht, eine andere Definition des Begriffs „Arbeitszeit“ beizubehalten oder einzuführen als die in der Richtlinie bestimmte. Auch wenn die Richtlinie für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsieht, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Vorschriften anzuwenden oder zu erlassen, besteht diese Möglichkeit nämlich nicht für die Definition des Begriffs „Arbeitszeit“. Diese Feststellung wird durch die Zielsetzung der Richtlinie bestätigt, die sicherstellen soll, dass die in ihr enthaltenen Definitionen nicht nach dem jeweiligen nationalen Recht unterschiedlich ausgelegt werden.
Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, in ihrem jeweiligen nationalen Recht Regelungen zu treffen, die günstigere Arbeits- und Ruhezeiten für Arbeitnehmer vorsehen als die in der Richtlinie festgelegten.
Ferner regelt die Richtlinie nicht die Frage des Arbeitsentgelts für Arbeitnehmer, da dieser Aspekt außerhalb der Zuständigkeit der Union liegt. Die Mitgliedstaaten können somit in ihrem nationalen Recht bestimmen, dass das Arbeitsentgelt eines Arbeitnehmers für die „Arbeitszeit“ von dem für die „Ruhezeit“ abweicht, und dies sogar so weit, dass für letztere Zeiten gar kein Arbeitsentgelt gewährt wird.
Schließlich stellt der Gerichtshof klar, dass die Bereitschaftszeit, die ein Arbeitnehmer zu Hause verbringen muss und während deren er der Verpflichtung unterliegt, einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz innerhalb von acht Minuten Folge zu leisten – was die Möglichkeit, anderen Tätigkeiten nachzugehen, erheblich einschränkt –, als „Arbeitszeit“ anzusehen ist. Insoweit ist für die Einordnung als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie entscheidend, dass sich der Arbeitnehmer an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort die geeigneten Leistungen erbringen zu können.
In dieser Rechtssache musste Herr Matzak offenbar während seines Bereitschaftsdienstes nicht nur erreichbar sein. Zum einen war er verpflichtet, einem Ruf seines Arbeitgebers zum Einsatzort innerhalb von acht Minuten Folge zu leisten, und zum anderen musste er an einem von seinem Arbeitgeber bestimmten Ort persönlich anwesend sein.
Der Gerichthof stellt fest, dass, selbst wenn es sich bei diesem Ort im vorliegenden Fall um den Wohnsitz von Herrn Matzak und nicht um seinen Arbeitsplatz handelte, die Verpflichtung, persönlich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend zu sein, sowie die Einschränkung, die sich aus geografischer und zeitlicher Sicht aus dem Erfordernis ergibt, sich innerhalb von acht Minuten am Arbeitsplatz einzufinden, objektiv die Möglichkeiten eines Arbeitnehmers in Herrn Matzaks Lage einschränken können, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen zu widmen. Angesichts dieser Einschränkungen unterscheidet sich die Situation von Herrn Matzak von der eines Arbeitnehmers, der während seines Bereitschaftsdienstes einfach nur für seinen Arbeitgeber erreichbar sein muss.
[1]Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).