Beglückende Regelungslücke?
Es brodelt in Hamburg. Die “Umtrunk-Affäre” des Innensenators macht Schlagzeilen, schon seit Wochen. Sie haben noch nichts davon gehört? Der ehemalige Rechtsanwalt war nach der Bürgerschaftswahl erneut zum Senator ernannt worden. Das wollte er mit 30 Gästen “feiern”. Hier sind schon Anführungszeichen angebracht. Denn laut Senator fand gar keine Feier statt. Es gab weder eine ausgelassene Stimmung noch laute Musik und es wurde lediglich “maßvoll” Alkohol verzehrt. Er hatte sich doch nur mit 30 Personen zu einem gemeinsamen Gastronomiebesuch verabredet, einem lockeren Zusammentreffen mit dem Charakter eines Stehempfangs. Überzeugt Sie das?
Das Problem ist folgendes: Nach der Hamburgischen Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus (HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO v. 26.5.2020, HmbGVBl. Teil I, Nr. 28, 285, geändert durch die 8. ÄnderungsV v. 15.6.2020, HmbGVBl. Teil I, Nr. 31, 325) waren Veranstaltungen und Feiern verboten. Deshalb hat der Umtrunk des Senators viele gesetzestreue Staatsbürger aufgebracht, verständlicherweise. Sie halten sich an die Regeln. Skatspielenden Jugendlichen im Park würde die Polizei gnadenlos 450 € abknöpfen, weil sie sich mit mehr als zwei Personen treffen und nicht 1,5 m Abstand voneinander halten. Ausgerechnet der oberste Dienstherr dieser Polizei ignoriert die Regeln, für die er doch selbst mitverantwortlich ist. Inzwischen hat der Senator sich bei allen Hamburgern für seinen “dummen Fehler” ausdrücklich entschuldigt, er räumt ein: “Rückblickend wäre es besser gewesen, auf dieses Zusammenkommen zu verzichten”. Ob er auch noch ein Bußgeld zahlen oder gar zurücktreten muss? Wie würden Sie entscheiden?
Uns soll hier die Rechtfertigung des rechtskundigen Senators interessieren – und die Reaktion einzelner Lebensmittelunternehmer, genauer gesagt Gastronomen, dazu sogleich. Tatsächlich war es zur Tatzeit erlaubt, sich mit bis zu 10 Personen aus maximal zwei Haushalten an einen Tisch in einem Restaurant zu setzen. Bei 15 Tischen mit ausreichendem Abstand durften also auch 30 Personen im selben Raum essen und trinken. Von Musik und Alkoholverzehr stand dazu übrigens nichts in der Verordnung. War die “Feier” nun eine illegale Veranstaltung unter Missachtung des Versammlungsverbots? Oder haben 30 Gäste eines einfallsreichen Organisators eben nur zur selben Zeit legal dasselbe Restaurant besucht? Dazu darf sich jeder seine Meinung bilden.
Bisher konnte jedenfalls kein Verstoß gegen den Wortlaut der Vorschriften belegt werden. Und wenn die 30 Personen den Mindestabstand eingehalten haben, dann wurde wohl auch der Sinn und Zweck der Regeln nicht verletzt. So argumentieren die Kritiker eher moralisch. Sie beklagen, der Senator habe eine geheime “Regelungslücke” ausgenutzt oder sogar missbraucht. Nur kann niemand gegen eine Lücke verstoßen, anders als gegen eine Regel. Und überhaupt: Wenn das Verhalten des
Ganz besonders irritiert hat mich deswegen die Meldung über Gastronomen, die angeblich eine Klage gegen die Stadt wegen entgangener Einnahmen prüfen (Hamburger Abendblatt, 24.6.2020, S. 1 u. 30.6.2020, S. 14). Die “Regelungslücke” sei nie kommuniziert worden. Aus dem Wortlaut der Verordnung gehe die Ausnahme nicht eindeutig hervor. Es gebe lediglich eine behördliche Auslegungshilfe, die sei aber nur für den Dienstgebrauch bestimmt gewesen.
Bitte lassen Sie sich diese Argumentation auf der Zunge zergehen. Soll der Gesetzgeber beim Erlass von Verboten wirklich darauf hinweisen, was noch erlaubt ist bzw. wo sich “Lücken” in seinen Regelungen auftun. Diese Vorstellung erscheint mir naiv. Das kann ein sinnvolles Konzept für Kindergärten sein. In einem demokratischen Rechtsstaat ist es dagegen Aufgabe des Staatsbürgers, sich über den Geltungsbereich von Vorschriften eigenverantwortlich zu informieren. Wer sich das nicht alleine zutraut, kann sich beraten lassen. In unserem Lande gibt es verschiedene Berufszweige und Organisationen, deren Angehörige sich Tag für Tag professionell den Kopf darüber zerbrechen, wie sich ihre Mitmenschen trotz gesetzlicher Verbote noch erlaubtermaßen verhalten dürfen. Die Medien informieren darüber. Wer “Regelungslücken” sucht, kann und wird sie finden.
Gerade für den Lebensmittelrechtler gehören Fragen nach zulässigen Rezepturen, korrekten Kennzeichnungen und (noch) nicht verbotenen Werbeaussagen zum Alltagsgeschäft. Welcher ZLR-Leser hätte noch nicht überlegt, ob eine bestimmte Zutat, etwa ein Zusatzstoff, eingesetzt, ein Zutatenverzeichnis verschlankt, eine bestimmte Bezeichnung genutzt oder eine nährwert- bzw. gesundheitsbezogene Angabe verwendet werden darf? Viele Tätigkeiten von Lebensmittelunternehmern sind einfach legal.
Man kann deshalb trefflich darüber streiten, ob entsprechende Verhaltensweisen überhaupt in “Regelungslücken” fallen. Mir gefällt der Begriff nicht, er scheint mir unpassend und schief. Es handelt sich anscheinend eher um einen politischen Fachausdruck. Im Recht gibt es per se keine Lücken, es gibt nur erlaubtes Verhalten, das (noch) nicht verboten ist.
Allerdings muss ich einräumen, dass schon die Glossatoren in den Pandekten Lücken aufgespürt und sich Gedanken über ihre mögliche Schließung gemacht haben. Karl Larenz hielt den Begriff der “Lücke” sogar für unentbehrlich; er verstand unter einer “Gesetzeslücke” wie schon Hans Elze eine “planwidrige Unvollständigkeit” des Gesetzes. Um solche Lücken anzunehmen, braucht man aber zunächst einen Plan. Doch das Leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln sich regelmäßig anders als vom Gesetzgeber geplant. So kommt es zwangsläufig zu unvorhergesehenen Situationen, die dann – meist von Menschen, die sich in ihren Erwartungen enttäuscht sehen – als “Regelungslücken” bezeichnet werden.
Hält der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten für reglungsbedürftig, dann kann er passende Vorschriften erlassen. Auch Gerichte wagen sich regelmäßig auf das Gebiet der “Lückenschließung”, indem sie Vorschriften besonders auslegen oder analog anwenden. Im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht ist die Analogie hierzulande aus gutem Grund unzulässig. Das könnte der Hauptfigur in der “Umtrunk-Affäre” helfen, auch wenn er sich “ein Leben ohne das Amt des Innensenators vorstellen” kann. Womöglich wäre er ein guter Berater.
Schließt der Gesetzgeber eine “Lücke”, dann kümmern sich die bereits erwähnten Fachleute um Vermeidungsoptionen. Wie kann die bisherige Rezeptur trotz neuer Verbote weiter verwendet werden? Wie müssen Kennzeichnung und Werbung angepasst werden, damit sie erlaubt bleiben? Notfalls muss darüber ein Gericht entscheiden. Oft löst sich die vermeintliche Lücke dann in Luft auf.
Die Gastronomen sollten den Senator übrigens nicht verklagen. Sie sind selbst schuld, dass sie nicht erkannt haben, welche Möglichkeiten die Verbotsverordnung ihnen ließ. Sie hätten sich auch rechtzeitig beraten lassen können. Ihre Ignoranz durch einen Regress beim Staat ausbügeln zu wollen, ist frivol. Einen Anspruch auf behördliche Lückeninformationen gibt es nicht.
Zum Schluss lassen Sie uns zum Zwecke der Rechtsfortbildung noch einen Blick auf die neue Fassung der HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO werfen (v. 30.6.2020, HmbGVBl. Teil I, Nr. 35, 365). Es finden sich darin verschiedene Vorschriften, die interessant sein könnten unter dem Gesichtspunkt der Regelungslücke, und zwar insbesondere für Gastonomen.*
§ 2 Abs. 4 bestimmt: “Veranstaltung im Sinne dieser Verordnung ist ein zeitlich begrenztes und geplantes Ereignis mit einer definierten Zielsetzung oder Absicht sowie mit thematischer, inhaltlicher Bindung oder Zweckbestimmung in der abgegrenzten Verantwortung einer Veranstalterin oder eines Veranstalters, einer Person, Organisation oder Institution, an dem eine Gruppe von Menschen teilnimmt.” Müssen Zielsetzung oder Zweckbestimmung vom Veranstalter vorgegeben werden? Und ist jemand, der Gäste einlädt, ohne die Verantwortung zu übernehmen, ein Veranstalter? Anders gefragt: Wenn sich eine Gruppe von Menschen auf Anregung eines abwesenden Dritten zweckfrei und ungebunden in einem Biergarten trifft, findet dort dann eine Veranstaltung statt oder nicht?
§ 9 Abs. 4 regelt: “Veranstaltungen ohne feste Sitzplätze sind im Freien mit bis zu 200 . . . Teilnehmern und in geschlossenen Räumen mit bis zu 100 . . . Teilnehmern zulässig. Erfolgt während der Veranstaltung oder in den Pausen ein Alkoholausschank, reduziert sich die Anzahl der zulässigen . . . Teilnehmer jeweils um die Hälfte.” Kann man die Reduktion der Anzahl der Teilnehmer vermeiden, indem man auf den Ausschank von Alkohol verzichtet und den Teilnehmern gleichzeitig mitteilt, dass sie Alkohol zum Eigenverzehr mitbringen dürfen, solange auch sie ihn nicht ausschenken?
§ 15 Abs. 1 Nr. 4 verordnet: “Buffets zur Selbstbedienung dürfen nicht angeboten werden”. Wenn nun der Gastronom den ersten Gast in der Schlange bittet, den Eintopf für die anderen Gäste auf die Teller zu geben, wäre das immer noch ein Fall von Selbstbedienung? Der Hamburgische Senat lässt zum Thema “Feiern” verlautbaren, “Büffets” seien “generell untersagt” (https://www.hamburg.de/corona-feiern/am 5.7.2020) bzw. “Büffets dürfen nicht angeboten werden” (https://www.hamburg.de/faq-corona-gaststaetten/am 5.7.2020). Geregelt hat er aber offensichtlich etwas anderes – tut sich da etwa eine beglückende “Regelungslücke” auf?
Rechtsanwalt Prof. Dr. Moritz Hagenmeyer, Hamburg
* | Und hier noch eine Vorschrift für HSV- und andere Fußballfreunde, die nicht verschwiegen werden soll: Aufgrund von § 39 Abs. 1 Nr. 25 handelt ordnungswidrig, wer “entgegen § 20 Absatz 6 Satz 1 als . . . Anbieter des Spielbetriebes der 1. Fußball-Bundesliga . . . nicht sicherstellt, dass das von der Deutschen Fußball Liga GmbH vorgelegte Konzept vollständig umgesetzt wird”. Auf meine telefonische Anfrage bei der Pressestelle der Innenbehörde, warum der Gesetzgeber für die Zeit bis Ende August 2020 Vorschriften zu Spielen der 1. Bundesliga in Hamburg trifft (nach dem Bußgeldkatalog beträgt der Regelsatz der Geldbuße 5.000 bis 25.000 €), wurde mir mitgeteilt, der Spielplan des DFB stehe noch nicht genau fest, die Liga beginne aber schon am 21. August 2020. Entzückend! Haben wir hier vielleicht ein inverse “Regelungslücke” entdeckt? |