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RIW 2021, I
Wilske 

Beratungsgeheimnis v. Dissenting Opinion – ein gefährlicher Irrweg für die Schiedsgerichtsbarkeit

Abbildung 1

Zulässigkeit der Dissenting Opinion in der Schiedsgerichtsbarkeit!

Selten wurde das obiter dictum eines deutschen Oberlandesgerichts in jüngerer Zeit auf internationaler Ebene ähnlich kontrovers diskutiert wie die Entscheidung des OLG Frankfurt a. M. (Beschl. v. 16. 1. 2020 – 26 Sch 14/18), mit dem das Gericht am Ende einer langen Entscheidung in Rn. 226 anmerkte:

“Es spricht allerdings nach Würdigung des Senats vieles dafür, dass die Offenlegung einer Dissenting Opinion [. . .] im inländischen Schiedsverfahren unzulässig ist und gegen das für inländische Schiedsgerichte geltende Beratungsgeheimnis [. . .] verstößt. Die besondere Bedeutung des Beratungsgeheimnisses für den Schutz der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schiedsrichter dürfte es überdies auch nahelegen, das Beratungsgeheimnis [. . .] nicht zur Disposition der Parteien und/oder der Schiedsrichter zu stellen und als Bestandteil des verfahrensrechtlichen ordre public anzusehen.”

Würde man dieser – vom OLG Frankfurt a. M. nur angedeuteten – Auffassung folgen, wäre ein Schiedsspruch aufhebbar bei Veröffentlichung einer Dissenting Opinion. Der Schiedsrichter der Minderheitsauffassung – der regelmäßig die Dissenting Opinion schreibt – hätte es daher in der Hand, das Ergebnis eines langwierigen und kostspieligen Verfahrens allein dadurch ad nullum zu führen, dass er dem Schiedsspruch einen Satz etwa des Inhalts hinzufügt: “Ich bin mit der Entscheidung der Mehrheit aus verschiedenen Gründen nicht einverstanden, sondern dezidiert ganz anderer Auffassung.”

Angesichts dieser dramatischen Folgen drängt sich die Frage auf, ob dieses Ergebnis wirklich unvermeidlich ist. Die richtige Antwort lautet: “keineswegs”. Es widerspricht schon der Logik, wenn die Veröffentlichung einer Dissenting Opinion zur Verletzung des verfahrensrechtlichen ordre public hochstilisiert wird, wenn der Gesetzgeber diese Frage gesehen hat und ausdrücklich der Meinung war, dass diese keiner ausdrücklichen Regelung bedürfe. Der Gesetzgeber ging sogar davon aus – ob zu Recht oder zu Unrecht –, dass das geltende Recht die Dissenting Opinion für zulässig erachte. Rolf A. Schütze meint, hier gehe es um das “vom OLG apostrophierte hohe Gut der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Richters und Schiedsrichters” (RIW Heft 11/2020, Die erste Seite). Man mag bezweifeln, ob es die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von einem Schiedsrichter verlangt, dass er einen nach seiner Auffassung möglicherweise gar grotesk falschen Schiedsspruch mittragen muss. Die besseren Gründe sprechen dafür, dass gerade Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Schiedsrichters ihm das Recht zugestehen, einen von ihm als falsch empfundenen Schiedsspruch nicht mitzutragen, sondern sich von diesem durch ein Sondervotum zu distanzieren. In der 8:1–Entscheidung des U.S. Supreme Court zu Plessy v. Ferguson (1896), die die “separate but equal”-Doktrin für fast 60 Jahre festschrieb, war es letztlich die einsame Dissenting Opinion des Richters John Marshall Harlan, die mit den Worten “Our Constitution is color-blind, and neither knows nor tolerates classes among citizens” (163 U.S. 537, 559 [1896]) die Hoffnung auf Gleichbehandlung aller Bürger in den USA aufrecht erhielt.

Dass ein ausländischer Schiedsrichter wegen eines Schiedsorts in Deutschland einer analogen Bindung an § 43 DRiG (Beratungsgeheimnis) unterliegen soll, muss rechtsdogmatisch erst einmal begründet werden. Die Anwendung anderer Vorschriften des DRiG auf einen Schiedsrichter wie § 20 (Entlassung aus dem Dienstverhältnis), § 48 (Eintritt in den Ruhestand) oder § 63 (Disziplinarverfahren) würde zu Recht als realitätsfremd angesehen werden. Tatsächlich gelten für Schiedsrichter bei einem Schiedsort in Deutschland das 10. Buch der ZPO, ggf. das Regelwerk der Schiedsinstitution, Parteivereinbarungen, erlassene Prozessverfügungen und möglicherweise subsidiär weitere Regelwerke. Es wäre ein Alptraum für jeden international tätigen Schiedsrichter, wenn er überdies dem am Schiedsort geltenden nationalen Richterrecht unterworfen wäre, das er bei der Schiedsrichterbestellung mangels vereinbartem Schiedsort möglicherweise noch gar nicht kennt.

Selbstverständlich würde die Unzulässigkeit einer Dissenting Opinion am Schiedsort Deutschland mit der Folge, dass der Schiedsspruch aufgehoben würde und die Schiedsrichter sich möglicherweise schadensersatzpflichtig machen würden, mit einer eklatanten Schwächung des Schiedsplatzes Deutschland einhergehen (s. u. a. Hochstrasser/Sunaric, SchiedsVZ 2021, 35, 40; Risse/Altenkirch, BB 2020, 2818, 2826. Dies scheint Schütze aber eher zu beflügeln. Einleuchten tut dies nicht. Für eine bewusste Abkehr vom internationalen Konsens sollten wenigstens gute Gründe genannt werden und nicht nur erhaben klingende Schlagworte, die sich bei genauer Ansicht in das Gegenteil dessen verkehren, was sie vorgeben. Fordert der “verfahrensrechtliche ordre public” oder gar der “Grundsatz der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit” tatsächlich, dass ein überstimmter Schiedsrichter der möglicherweise parteilichen Rechtsauffassung seiner Mitschiedsrichter zu folgen hat und Unrecht Recht zu nennen hat? Das kann nicht richtig sein und ist zum Glück auch nicht richtig. Das sollte auch das OLG Frankfurt a. M. bedenken, wenn es mit der Frage wieder zu tun haben sollte. Vielleicht kann auch der BGH mit einem gegenläufigen obiter dictum diesen Sturm im Wasserglas wieder zur Ruhe bringen.

Stephan Wilske, Rechtsanwalt, Stuttgart

 
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