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Steuerrecht
20.01.2011
Steuerrecht
: EuGH-Vorlage zur Kindergeldberechtigung von polnischen Staatsangehörigen, die als Saisonarbeitnehmer vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sind

BFH, Entscheidung vom 21.10.2010 - III R 35/10

Leitsätze

Dem EuGH wird folgende Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er dem danach nicht zuständigen Mitgliedstaat jedenfalls dann die Befugnis nimmt, nach seinem nationalen Recht dem nur vorübergehend in seinem Gebiet beschäftigten Arbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren, wenn weder der Arbeitnehmer selbst noch seine Kinder in dem nicht zuständigen Staat wohnen oder sich dort gewöhnlich aufhalten?

Sachverhalt

I.      Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) für seine beiden 1993 bzw. 2006 geborenen Kinder in der Zeit von August bis Dezember 2007 (Streitzeitraum) einen Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) hat.

Der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, ist in Polen als selbständiger Landwirt tätig und sozialversichert. Vom 20.8.2007 bis zum 7.12.2007 arbeitete er als Saisonarbeitnehmer bei einem Gartenbauunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik). Für das Jahr 2007 wurde der Kläger auf seinen Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG in der Bundesrepublik als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.

Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag des Klägers ab, ihm für den Streitzeitraum für seine beiden Kinder Kindergeld in Höhe von monatlich jeweils 154 Euro nach den §§ 62 ff. EStG zu gewähren. Einspruch und Klage des Klägers hatten keinen Erfolg (Urteil des vom 22.4.2010 - 16 K 3244/08 Kg, juris).

Mit seiner gegen das Urteil des FG gerichteten Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist insbesondere der Ansicht, aus dem Urteil des EuGH vom 20.5.2008 - C-352/06, Bosmann (Slg. 2008, I-3827) ergebe sich, dass der nach den Art. 13 ff. der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2.12.1996 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1997, Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.4.2005 (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2005, Nr. L 117, S. 1) --VO Nr. 1408/71-- nicht zuständige Mitgliedstaat gleichwohl Familienleistungen zu gewähren habe, wenn die entsprechenden Voraussetzungen des nationalen Rechts gegeben seien.

Entscheidungsgründe

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II.    Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 Satz 1, § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus und legt dem EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die im Leitsatz bezeichnete Frage zur Vorabentscheidung vor.

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1.   Nach Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 unterliegt der Kläger auch während des Streitzeitraums den polnischen Rechtsvorschriften. Nach dieser Vorschrift unterliegt eine Person, die eine selbständige Tätigkeit gewöhnlich in einem Mitgliedstaat ausübt und die eine Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausführt, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet.

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Diese Voraussetzungen liegen nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 FGO) hier vor. Der Kläger übt seine selbständige Tätigkeit als Landwirt gewöhnlich in Polen aus und war nur für einen vorübergehenden Zeitraum von deutlich weniger als zwölf Monaten in der Bundesrepublik nichtselbständig als Erntehelfer beschäftigt. Damit unterlag er auch während dieser Tätigkeit in der Bundesrepublik weiterhin den polnischen Rechtsvorschriften.

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2.   Wie sich aus dem Vorlagebeschluss des Senats vom 21.10.2010 - III R 5/09 ergibt, ist der vorlegende Senat der Ansicht, dass auch nach dem EuGH-Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-3827 der nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht zuständige Mitgliedstaat keine Befugnis hat, nach seinem nationalen Recht einer Person Familienleistungen zu gewähren, es sei denn, dass diese Person andernfalls infolge der Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit einen Rechtsnachteil erleiden würde.

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Der Kläger des vorliegenden Verfahrens hat durch die vorübergehende Beschäftigung in der Bundesrepublik keinen Rechtsnachteil erlitten. Denn nach Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 blieben auch während dieser Zeit weiterhin die polnischen Rechtsvorschriften auf ihn anwendbar; es kam zu keinem Wechsel des Sozialrechtsstatuts, der einen Rechtsnachteil hätte mit sich bringen können. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall nicht von dem, der dem Vorlagebeschluss des Senats in dem Verfahren III R 5/09 zugrunde liegt, in dem es um einen i.S. des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in die Bundesrepublik entsandten polnischen Arbeitnehmer ging. Nach Ansicht des vorlegenden Senats ist es insoweit unerheblich, dass der Kläger im Verfahren III R 5/09 als entsandter Arbeitnehmer i.S. des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in einem ausländischen (polnischen) Beschäftigungsverhältnis stand, der Kläger des vorliegenden Verfahrens hingegen in einem inländischen (deutschen) Beschäftigungsverhältnis. Denn der maßgebliche Grund dafür, dass diese Personen nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a bzw. nach Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 auch während ihrer tatsächlichen Tätigkeit in der Bundesrepublik weiterhin den polnischen Rechtsvorschriften unterlagen, besteht darin, dass beide Kläger für ihre nur vorübergehenden Tätigkeiten in der Bundesrepublik ihr (polnisches) Sozialrechtsstatut nicht sollten wechseln müssen.

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3.   Sollte dem nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 nicht zuständigen Mitgliedstaat allerdings unabhängig davon, ob die Ausübung des Freizügigkeitsrechts zu einem Rechtsnachteil führt, die Befugnis zustehen, Familienleistungen nach seinem Recht zu gewähren, stellt sich für den vorlegenden Senat die Frage, ob eine solche Befugnis auch dann bestehen soll, wenn, wie im vorliegenden Fall, weder der betroffene Arbeitnehmer selbst noch seine Kinder im Gebiet des nicht zuständigen Staates wohnen oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und sich ein Anspruch auf Familienleistungen nach dem nationalen Recht nur deshalb ergeben kann, weil dieses --wie § 62 Abs. 1 EStG-- einen solchen Anspruch auch für eine Person vorsieht, die --wie der Kläger im Streitzeitraum-- nach § 1 Abs. 3 EStG auf ihren Antrag hin als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.

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a)   In seinem Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-3827 kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass dem (nicht zuständigen) Wohnmitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen werden könne, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren; nach dem (auf Frau Bosmann anzuwendenden) Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 unterliege eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt sei, zwar den Rechtsvorschriften dieses Staates, auch wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohne, doch solle der Wohnstaat mit dieser Verordnung nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren (EuGH-Urteil Bosmann in Slg. 2008, I-3827 Rz 31).

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b)   Nach der VO Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2.12.1996 (ABlEG 1997, Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.4.2005 (ABlEU 2005, Nr. L 117, S. 1) --VO Nr. 574/72-- wird neben dem Anspruch auf Familienleistungen in dem nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zuständigen Staat nur der Anspruch auf Familienleistungen im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen (hier: der Kinder) berücksichtigt; nur für eine Kumulierung derartiger Ansprüche sind in Art. 76 der VO Nr. 1408/71 und in Art. 10 der VO Nr. 574/72 Antikumulierungsregeln vorgesehen.

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c)   Im Fall Bosmann befand sich nicht nur der Wohnsitz von Frau Bosmann, sondern auch der ihrer Kinder in der Bundesrepublik. Der Anspruch im Wohnmitgliedstaat der Kinder, dessen Berücksichtigung Art. 76 der VO Nr. 1408/71 bzw. Art. 10 der VO Nr. 574/72 grundsätzlich neben dem Anspruch im zuständigen Staat zulassen, scheiterte im Fall von Frau Bosmann am Fehlen einer Anspruchskumulierung, da im (abweichenden) Beschäftigungsmitgliedstaat (Niederlande) gerade kein Anspruch bestand. Der in der Bundesrepublik bestehende Anspruch war jedoch ein nach der VO Nr. 1408/71 und der VO Nr. 574/72 grundsätzlich zu berücksichtigender Anspruch.

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Anders stellt sich die Situation im Fall des Klägers dar. Weder er noch seine Kinder hatten im Streitzeitraum in der Bundesrepublik einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Da die Kinder in Polen lebten, konnte sich ein etwa für sie aufgrund ihres Wohnsitzes zu berücksichtigender Anspruch nur aus polnischem Recht ergeben. Die im Rahmen der VO Nr. 1408/71 bzw. der VO Nr. 574/72 grundsätzlich zu berücksichtigenden konkurrierenden Ansprüche nach dem Recht des zuständigen Staates einerseits und nach dem Recht des Wohnmitgliedstaats der Kinder andererseits richten sich im Fall des Klägers --anders als in dem Fall von Frau Bosmann-- also ausschließlich nach polnischem Recht.

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Ob der nicht zuständige Staat auch in einem solchen Fall die Befugnis haben soll, Familienleistungen nach seinem nationalen Recht zu gewähren, hält der vorlegende Senat für zweifelhaft. Es käme zu einer Anspruchskumulierung, die nach der VO Nr. 1408/71 gerade vermieden werden soll und für die auch keine Antikumulierungsvorschriften vorgesehen sind. Für diese Kumulierung besteht auch gemeinschafts- bzw. unionsrechtlich keine Notwendigkeit, denn der Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, erleidet dadurch in einem Fall wie dem des Klägers keinen Nachteil, der ihn von der Ausübung seines Rechts abhalten könnte. Denn er unterfällt weiterhin den schon bisher auf ihn anwendbaren Rechtsvorschriften.

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4.   Sind deutsche Vorschriften auf eine Person in der Situation des Klägers nicht anwendbar, ist die Revision des Klägers unbegründet. Steht der Bundesrepublik hingegen die Befugnis zu, auch einer Person in der Situation des Klägers Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG zu gewähren, muss das Urteil des FG aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen werden, weil das FG noch nicht alle erforderlichen Feststellungen getroffen hat, um entscheiden zu können, ob dem Kläger für seine Kinder im Streitzeitraum ein Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG zusteht.

Siehe auch:  Pressemitteilung Nr. 111/10 vom 29.12.2010

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