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Arbeitsrecht
12.06.2025
Arbeitsrecht
LAG Nürnberg: Inflationsausgleichsprämie – Baugewerbe – Zeiten ohne Entgeltanspruch

LAG Nürnberg, Urteil vom 24.2.2025 – 1 SLa 253/24

Volltext: BB-Online BBL2025-1461-3

Leitsätze

1. § 2 Abs. 1 des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags Inflationsausgleichsprämie für das Baugewerbe Bundesrepublik Deutschland hat zur Anspruchsvoraussetzung den Bestand eines Arbeitsverhältnisses. Tatsächliche Arbeitsleistung bzw. tatsächlicher Entgeltbezug wird darin nicht zur Voraussetzung gemacht.

2. § 2 Abs. 6 des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags Inflationsausgleichsprämie für das Baugewerbe Bundesrepublik Deutschland erlaubt keine ratierliche Kürzung für Zeiten, in denen kein Entgeltanspruch besteht. Den Tarifvertragsparteien wäre es zwar unbenommen, zusätzliche Ziele wie Honorierung tatsächlicher Arbeitsleistung mit der Inflationsausgleichsprämie zu verbinden. Voraussetzung ist aber, dass ein solcher Wille der Tarifvertragsparteien klar im Tarifvertrag zum Ausdruck kommt. Das ist hier nicht der Fall.

Rechtsmittel ist zugelassen.

 

Sachverhalt

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch darüber, in welchem Umfang der Klägerin ein Anspruch auf eine tarifliche Inflationsausgleichsprämie zusteht.

Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 2012 als Büroangestellte in Teilzeit mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden angestellt.

Bei der Beklagten handelt es sich um einen Betrieb des Baugewerbes. Vertretungsberechtigte Geschäftsführer sind H. und I., die jeweils allein zur Vertretung der Gesellschaft befugt sind. Die beiden Geschäftsführer sind zudem Gesellschafter. Die Klägerin ist die Ehefrau des Geschäftsführers H.. Die Ehefrau des Geschäftsführers I., J., ist ebenfalls in Teilzeit – in ihrem Fall mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 10,5 Stunden – bei der Beklagten angestellt.

Seit 28.06.2023 ist die Klägerin durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und bezieht seit dem 09.08.2023 Krankengeld.

Mit ihrer Klage macht sie die Inflationsausgleichsprämie gem. § 2 des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags Inflationsausgleichsprämie für das Baugewerbe Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden TV Inflationsausgleichsprämie) geltend.

Dieser lautet auszugsweise wie folgt:

„§ 1 Geltungsbereich

(1) Räumlicher Geltungsbereich

Das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.

(2) Betrieblicher Geltungsbereich

Betriebe, die unter den betrieblichen Geltungsbereich des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) in der jeweils geltenden Fassung fallen.

(3) Persönlicher Geltungsbereich Erfasst werden

1. Angestellte und Poliere

2. gewerbliche Arbeitnehmer (Arbeiter),

3. zur Ausbildung für den Beruf eines Angestellten Beschäftigte, 4. zur Ausbildung für den Beruf eines Arbeiters Beschäftigte, die eine nach den Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben.

§ 2 Inflationsausgleichsprämie

(1) Zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise zahlen Arbeitgeber den gewerblichen Arbeitnehmern, Angestellten und Polieren zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Entgelt eine Inflationsausgleichsprämie gemäß § 3 Nr. 11c EStG und § 1 SvEV in Höhe von insgesamt 500,00 €, zahlbar bis spätestens 30. September 2023, und weiteren insgesamt 500,00 €, zahlbar bis spätestens 30. September 2024.

(5) Ist die vereinbarte Arbeitszeit geringer als die tarifliche, so mindert sich die Inflationsausgleichsprämie im Verhältnis der vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit zur tariflichen

Arbeitszeit. Gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte in Altersteilzeit erhalten unabhängig von der konkreten Verteilung der Arbeitszeit die Hälfte der jeweiligen Inflationsausgleichsprämie.

(6) Für jeden vollen Kalendermonat im Zeitraum Februar 2023 bis Dezember 2024, in dem kein Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnis im Geltungsbereich besteht, vermindert sich die Inflationsausgleichsprämie um ein Dreiundzwanzigstel.“

Wegen des weiteren Wortlauts des TV Inflationsausgleichsprämie wird auf Blatt 34 der erstinstanzlichen Akte verwiesen.

Die Beklagte zahlte eine entsprechende Inflationsausgleichsprämie im September 2023 an alle Mitarbeitenden außer der Klägerin aus. An die Mitarbeiterin J. zahlte die Beklagte die Prämie trotz ihrer Teilzeittätigkeit dabei in vollem Umfang von 500 €. Dies geht auch aus der Gehaltsabrechnung der Frau J. für den Monat September 2023 hervor (vgl. Bl. 8 der erstinstanzlichen Akte).

Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihr die in § 2 Abs. 1 des Tarifvertrages geregelte Inflationsausgleichsprämie ungekürzt zustehe. Die bestehende Arbeitsunfähigkeit bzw. der Krankengeldbezug ändere daran nichts, da sich die Klägerin in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis und somit in einem Beschäftigungsverhältnis im Sinne des TV Inflationsausgleichsprämie befinde. Ihrer Ansicht nach würde das auch aus § 7 Abs. 3 SGB IV folgen, der vorsehe, dass bei Krankengeldbezug das Beschäftigungsverhältnis als fortbestehend gelte. Im Übrigen sei auch in einer gemeinsamen Mitteilung des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie und des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe vom 30.01.2023 (vgl. Bl. 39 ff. der erstinstanzlichen Akte) klargestellt worden, dass Zeiträume ohne Entgeltfortzahlung (z.B. Krankengeldbezug) nicht zu einer Kürzungsmöglichkeit führten.

Die Klägerin ist außerdem der Ansicht, dass vorliegend keine Kürzung im Hinblick auf ihre Teilzeittätigkeit nach § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie erfolgen dürfe. Dies folge aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz, da die Beklagte auch an die teilzeitbeschäftigte Mitarbeiterin J. die Prämie in vollem Umfang ausbezahlt hat.

Die Klägerin beantragte erstinstanzlich:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 500,00 € netto nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Klagezustellung zu bezahlen.

Die Beklagte beantragte,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte vertrat erstinstanzlich die Auffassung, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Auszahlung der Inflationsausgleichsprämie habe. Sie begründete dies mit dem Umstand, dass die Klägerin seit dem 28.06.2023 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt sei und die Entgeltfortzahlungspflicht am 08.08.2023 geendet habe, weshalb die Klägerin nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis zur Beklagten im Sinne des § 7 SGB IV stehe. Entgegen der Ansicht der Klägerin sei § 7 Abs. 3 S. 3 SGB IV gerade im Gegenteil zu entnehmen, dass mit dem Krankengeldbezug das Beschäftigungsverhältnis ende.

Zudem ist die Beklagte die Ansicht, ein etwaiger Anspruch der Klägerin sei aufgrund ihrer Teilzeitbeschäftigung vorliegend gem. § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie um 50% zu kürzen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem arbeitsgerichtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Für die Ungleichbehandlung der Mitarbeiter läge ein sachlicher Grund vor, weil die Beklagte entschieden hätte, bei aktiv beschäftigten Arbeitnehmern in Teilzeit auf die Minderung der Inflationsausgleichsprämie zu verzichten. Die Klägerin sei aber keine aktiv beschäftigte Arbeitnehmerin, da sie sich im dauerhaften Krankengeldbezug befinde.

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Parteien in der ersten Instanz wird auf die Schriftsätze vom 18.12.2023, 06.02.2024, 15.03.2024, 15.04.2024, 11.07.2024, 16.07.2024 und die Schriftsätze beider Parteien vom 25.07.2024 sowie auf die Niederschriften der mündlichen Verhandlungen vom 17.07.2024 und 18.09.2024 Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Bamberg hat mit der Beklagten am 19.09.2024 zugestelltem Urteil der Klage stattgegeben. Zur Begründung führte es aus, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch in Höhe von 250 € gem. § 2 TV Inflationsausgleichsprämie zustehe, da sie während der Geltungsdauer des Tarifvertrages eine versicherungspflichtige Tätigkeit im Sinne des § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ausgeübt hat. Dass die Klägerin während der Geltungsdauer in den Krankengeldbezug eingetreten ist, lasse den einmal eröffneten persönlichen Geltungsbereich unberührt und führe im Übrigen auch nicht zu einer Anspruchskürzung gem. § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie, da die Auslegung dieser Regelung ergebe, dass auch während der Dauer des Krankengeldbezugs ein „Beschäftigungsverhältnis im Geltungsbereich“ des Tarifvertrages bestehe. Zwar bestehe der Anspruch der Klägerin aufgrund ihrer Teilzeittätigkeit gem. § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie nur im Umfang von 250 €. Sie könne jedoch auf Grundlage des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes weitere 250 € beanspruchen. Die seitens der Beklagten aufgestellte Regel, wonach bei „aktiv beschäftigten“ Teilzeitangestellten auf eine Kürzung der Inflationsausgleichsprämie verzichtet werden soll, nicht jedoch bei „inaktiven Mitarbeitern“, führe zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer am 21.10.2024 eingegangenen Berufung und begründet diese – ihren erstinstanzlichen Vortrag vertiefend und ergänzend – mit am 18.11.2024 eingegangenem Schriftsatz wie folgt:

„Jedenfalls für die Monate ab September 2023, in denen die Klägerin ausschließlich Krankengeld bezog, vermindere sich ihr Anspruch gem. § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie, sodass sie lediglich 304,35 € beanspruchen könne (wegen der Berechnung vgl. S. 5 des Schriftsatzes der Berufungsklägerin vom 18.11.2024, Blatt 26 d. A.). In diesen Monaten habe kein „Beschäftigungsverhältnis im Geltungsbereich“ des TV Inflationsausgleichsprämie bestanden. Dass die Tarifvertragsparteien mit dem Begriff „Beschäftigungsverhältnis“ auf den beitragsrechtlichen Beschäftigungsbegriff gem. § 7 SGB IV verweisen wollten, ergebe sich aus einer Gesamtschau der im Übrigen verwendeten Begriffe. So erscheine nur unter Zugrundelegung dieser Intention die sprachliche Differenzierung zwischen „Beschäftigungs- und Ausbildungsverhältnis“ in § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie sinnvoll, da letzteres gem. § 7 Abs. 2 SGB IV nur kraft Fiktion als Beschäftigung gelte. Auch die Formulierung „die eine […] versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben“ in § 1 Abs. 3 TV Inflationsausgleichsprämie spreche für diese Lesart.“

Die Beklagte beantragt in der Berufung:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bamberg vom 18.09.2024, AZ 2 Ca 844/23, teilweise abgeändert und die Klage abgewiesen, soweit die Beklagte in Ziffer I dazu verurteilt wurde an die Klägerin mehr als 304,35 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 23.12.2023 zu bezahlen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Mit am 14.12.2024 beim Landesarbeitsgericht Nürnberg eingegangenem Schriftsatz begründet sie dies durch Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vortrags und führt ergänzend wie folgt aus:

Aufgrund der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Beschäftigte“ in den verschiedenen Bereichen des Arbeits- und Sozialrechts sei der in § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie verwendete Begriff des Beschäftigungsverhältnisses auslegungsbedürftig. Der im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigende wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien gehe ausweislich der gemeinsamen Mitteilung des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie und des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe vom 30.01.2023 dahin, dass Zeiten ohne Entgeltfortzahlung (z.B. Krankengeldbezug) nicht zu einer Kürzung nach § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie führen sollen.

Bezüglich des weiteren Vorbringens in der Berufung wird auf die Schriftsätze der Parteien vom 21.10.2024, 18.11.2024 und 14.12.2024 sowie auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 24.02.2025 verwiesen.

Aus den Gründen

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO).

 

II. Die Berufung der Beklagten ist jedoch nicht begründet, da der Klägerin der im Urteil des Arbeitsgerichts festgestellte Anspruch auf Zahlung der zum 30.09.2023 fällig gewordenen Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 500 € zusteht. Dieser ergibt sich in Höhe von 250 € aus § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie. Hinsichtlich des darüber hinausgehenden Betrages in Höhe von weiteren 250 € steht er der Klägerin aufgrund des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes zu.

 

1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 250 € aus § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie.

 

1.1. Hinsichtlich der Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs gem. § 1 Abs. 3 TV Inflationsausgleichsprämie sowie der Erfüllung der Voraussetzungen des anspruchsbegründenden § 2 Abs. 1 TV Inflationsausgleichsprämie folgt die Berufungskammer gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG den Gründen der angefochtenen Entscheidung des Arbeitsgerichts.

 

§ 2 Abs. 1 TV Inflationsausgleichsprämie stellt zur Anspruchsbegründung allein auf den Status („Arbeitnehmern, Angestellten und Polieren“) ab. Darüber, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stand, besteht zwischen den Parteien Einigkeit.

 

1.2. Es galt zu prüfen, ob der so entstandene Anspruch der Klägerin gegebenenfalls gem. § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie gemindert ist. Insoweit gibt die Berufungsbegründung der Beklagten noch zu folgenden Ergänzungen der Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung Veranlassung:

 

1.2.1. Der in § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie verwendete Begriff des Beschäftigungsverhältnisses ist auslegungsfähig und -bedürftig. Die Begriffe „Beschäftigungsverhältnis“ und „Beschäftigte“ werden im allgemeinen Sprachgebrauch, aber auch in gesetzlichen Regelungen nicht einheitlich verwendet – so geht beispielsweise § 6 Abs. 1 AGG von einem „arbeitsrechtlichen Beschäftigtenbegriff“ aus, der nicht der zu § 7 SGB IV entwickelten Auslegung entspricht (vgl. Roloff, in: BeckOK Arbeitsrecht, Hrsg. Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, 74. Edition, § 6 AGG, Rn. 1). Beide Begriffe weisen sowohl arbeitsrechtlich als auch sozialversicherungsrechtlich keine fest umrissenen Konturen auf, sondern sind kontextabhängig zu sehen.

 

Der Wortlaut der tariflichen Regelung ist demnach nicht eindeutig und bedarf der Auslegung. Insbesondere vermag die Argumentation der Beklagten, dass die Tarifvertragsparteien den Begriff Beschäftigungsverhältnis in § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie gezielt im Sinne des § 7 SGB IV verstanden wissen wollten (siehe hierzu im Folgenden, insb. Ziff. 1.2.5.) nicht zu überzeugen.

 

1.2.2. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (zusammenfassend: BAG vom 22.04.2010, 6 AZR 962/08).

 

Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich das Folgende:

 

1.2.3. Wie eingangs unter Ziff. 1.2.1. dargestellt, ist der Wortlaut der tariflichen Regelung nicht eindeutig. Auch die sprachliche Differenzierung nach „Beschäftigungs- und Ausbildungsverhältnis“ in § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Da die Regelung des § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie ersichtlich für alle anspruchsberechtigten Mitarbeitenden gelten soll, ist nach Überzeugung der Kammer vielmehr davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien durch die Verwendung dieser Formulierung lediglich eine knappe und gleichzeitig umfassende Bezugnahme auf die in § 1 Abs. 3 bzw. in § 2 Abs. 1 und 2 TV Inflationsausgleichsprämie aufgeführten Personengruppen umsetzen wollten.

 

1.2.4. Die Auslegung der Regelung in § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie hat mit Blick auf den maßgeblichen Sinn der Erklärung unter Berücksichtigung des Willens der Tarifvertragsparteien zu erfolgen.

 

Ausweislich der tarifvertraglichen Regelung in § 2 Abs. 1 TV Inflationsausgleichsprämie wollten die Tarifvertragsparteien „zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise […] eine Inflationsausgleichsprämie gem. § 3 Nr. 11c EStG und § 1 SvEV“ vorsehen.

 

Die Zielsetzung des Gesetzgebers bei der Schaffung der Möglichkeit einer steuer- und sozialversicherungsabgabenfreien Ausgleichszahlung ging dahin, Arbeitgebern die Möglichkeit steuerlich privilegierter Leistungen an Arbeitnehmer zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Inflation zu eröffnen. Die wirtschaftlichen Folgen der Inflation treffen nicht nur die Personen, die tatsächlich beschäftigt sind, sondern auch diejenigen, die z.B. wegen Erkrankung aus der Entgeltfortzahlung fielen. Eine Begrenzung auf Personen im Entgeltbezug lässt sich dementsprechend der Regelung in § 3 Nr. 11c EStG nicht entnehmen.

 

Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die vom Bundesministerium der Finanzen veröffentlichten FAQ zur Inflationsausgleichsprämie nach § 3 Nr. 11c EStG (dort Nr. 2, Stand 24.05.2023) wonach grundsätzlich z.B. auch Arbeitnehmer, die Krankengeld beziehen, von der Ausgleichszahlung profitieren können sollen.

 

Zwar steht es den Tarifvertragsparteien frei, eine solche Prämie mit zusätzlichen Zielen – wie der Honorierung geleisteter Arbeit oder der Betriebstreue – zu versehen bzw. weitere Anreize mit ihr zu verbinden (vgl. LAG Düsseldorf, Urt. v. 05.03.2024, Az.: 14 Sa 1148/23).

 

Dafür, dass die Parteien des hier gegenständlichen TV Inflationsausgleichsprämie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und eine Bindung an tatsächliche Arbeitsleistung herstellen wollten, findet sich in den Regelungen des Tarifvertrages jedoch kein Anhaltspunkt. Vielmehr knüpft die anspruchsbegründende Regelung des § 2 Abs. 1 TV Inflationsausgleichsprämie ihrem Wortlaut nach allein an den Status an. Es ist insoweit davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien als Zweck der Leistung allein die Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise vor Augen hatten. Dass im Fälligkeitszeitpunkt – bspw. wegen des Bezugs von Krankengeld – de facto keine Arbeitsleistung erbracht wird, steht dem ungeminderten Anspruch mithin nicht entgegen.

 

Diese Intention kommt auch in § 2 Abs. 5 Satz 2 TV Inflationsausgleichsprämie zum Ausdruck: Demnach erhalten Arbeitnehmer in Altersteilzeit unabhängig von der konkreten Verteilung der Arbeitszeit die Hälfte der jeweiligen Inflationsausgleichsprämie. Der Anspruch auf die (hälftige) Inflationsausgleichsprämie soll mithin auch in der Passivphase des Blockmodells bestehen, sodass es den Tarifvertragsparteien auch in dieser Konstellation nicht darauf ankommt, ob im Fälligkeitszeitpunkt tatsächlich Arbeitsleistung erbracht wird. Die Kürzung auf die Hälfte entspricht in grob pauschalierender Weise der Kürzung bei in Teilzeit tätigen Personen.

 

Nach Überzeugung der Kammer erscheint es vor diesem Hintergrund naheliegend, dass die Tarifvertragsparteien mit § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie lediglich Fälle regeln wollten, in denen das Arbeitsverhältnis während der Geltungsdauer des Tarifvertrages beginnt oder endet. Für die Entstehung des vollen Anspruchs (vorbehaltlich der Regelung in § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie) ist mithin der bloße Bestand des Arbeitsverhältnisses während der Geltungsdauer des Tarifvertrages ausreichend.

 

1.2.5. Allein dieses Auslegungsergebnis ist auch mit dem tariflichen Gesamtzusammenhang vereinbar und vermeidet Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten:

 

Würde man nämlich entsprechend der Argumentation der Beklagten zugrunde legen, dass sowohl in § 1 Abs. 3 a.E. als auch in § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie auf den Beschäftigungsbegriff des § 7 SGB IV Bezug genommen wird (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 18.11.2024, Bl. 24 f. der Akte, A. I. 1. b), c) und d)), wären Arbeitnehmer, die sich im Krankengeldbezug befinden, wegen § 7 Abs. 3 Satz 3 SGB IV bereits vom persönlichen Geltungsbereich ausgeschlossen, sodass kein Raum für die – seitens der Beklagten jedoch angenommene – Anwendung von § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie verbliebe.

 

Dadurch entstünden schwerwiegende Friktionen bei der Anwendung der tariflichen Regelungen: Würde man annehmen, dass z.B. im Falle eines Krankengeldbezugs im Fälligkeitszeitpunkt ein Beschäftigungsverhältnis nicht besteht und mithin auch der persönliche Geltungsbereich nicht eröffnet ist, hinge die Anspruchsentstehung von der zufälligen Lage des Leistungszeitpunkts ab. Unabhängig davon, ob davor und/oder danach gearbeitet wurde, bestünde kein Zahlungsanspruch. Dass die Tarifvertragsparteien dies so gewollt haben könnten, ist nicht naheliegend.

 

Soweit die Beklagte im Rahmen der Auslegung des § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie zudem meint, durch die Formulierung „[i.S.d. SGB VI] versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben“ in § 1 Abs. 3 a.E. TV Inflationsausgleichprämie werde klargestellt, dass eine „aktive Beschäftigung“ erforderlich ist, kann dem schon aus folgendem systematischen Grund nicht gefolgt werden: Bei dieser Lesart entstünde unmittelbar innerhalb des zitierten Satzteils ein Widerspruch, da nach den (von den Tarifvertragsparteien explizit aufgegriffenen) Regelungen des SGB VI die Versicherungspflicht gerade auch während eines Krankengeldbezugs fortbesteht (§ 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VI).


1.2.6. Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass das gefundene Ergebnis auch den Ausführungen im Rahmen der gemeinsamen Mitteilung des am Abschluss des TV Inflationsausgleichsprämie beteiligten Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes e.V. mit dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V. (vgl. Bl. 39 ff. der erstinstanzlichen Akte) entspricht. Als Voraussetzung der Leistung ist dort lediglich genannt, dass diese dem Inflationsausgleich dienen und sie zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Entgelt gewährt werden muss. Zu § 2 Abs. 6 TV Inflationsausgleichsprämie wird ausgeführt, dass die zeitanteilige Kürzungsmöglichkeit für Fälle, in denen das Arbeitsverhältnis während der Geltungsdauer des Tarifvertrages beginnt und/oder endet, vorgesehen ist. Hingegen sollen „Zeiträume ohne Entgeltfortzahlung (bspw. Krankengeldbezug […]) […] nicht zu einer Kürzungsmöglichkeit [führen]“.

 

1.3. Wie das Arbeitsgericht richtig festgestellt hat, ist der tarifliche Anspruch aus § 2 Abs. 1 TV Inflationsausgleichsprämie wegen der Teilzeittätigkeit der Klägerin im Umfang von 50% der tariflichen Arbeitszeit gem. § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie um 50% gemindert, sodass er in Höhe von 250 € besteht.

 

2. Der Klägerin steht zudem auf Grund des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ein Anspruch auf Zahlung auch der weiteren 250 € zu. Die Berufungskammer folgt insoweit gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG den Gründen der angefochtenen Entscheidung des Arbeitsgerichts. Durch die über den gem. § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie pro rata temporis gekürzten Anspruch hinausgehende Leistung an teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, die in einem „aktiven“ Beschäftigungsverhältnis stehen, gewährt die Beklagte eine freiwillige Leistung. Die insoweit nach ihrem eigenen Vortrag aufgestellte Regel, wonach von einer Kürzung der Inflationsausgleichsprämie nach § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie bei Teilzeitkräften, die in einem „aktiven“ Beschäftigungsverhältnis stehen, abgesehen werden und diese nur bei solchen Teilzeitkräften vorgenommen werden soll, die sich – wie die Klägerin – im Krankengeldbezug befinden, führt zum einen zu einer Ungleichbehandlung „aktiver“ und „inaktiver“ Teilzeitbeschäftigter, die – aus den in der erstinstanzlichen Entscheidung im Einzelnen dargelegten Gründen – sachlich nicht gerechtfertigt ist.

 

Darüber hinaus würde die seitens der Beklagten aufgestellte Regel – wie in der erstinstanzlichen Entscheidung bereits angedeutet – jedoch auch zu einer Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten im Krankengeldbezug im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten im Krankengeldbezug führen: Während letztere nach dem oben Ausgeführten keine Kürzung der Inflationsausgleichsprämie hinnehmen müssten, der Krankengeldbezug mithin keine Auswirkungen hätte, würde dieser bei Teilzeitbeschäftigten insoweit Relevanz entfalten, als bei ihnen nicht von einer Kürzung gemäß § 2 Abs. 5 TV Inflationsausgleichsprämie abgesehen würde. Die Regel beinhaltet mithin eine generalisierende Schlechterstellung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer gegenüber vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern und verstößt deshalb auch gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG als Konkretisierungsnorm des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes.

 

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG, § 97 Abs. 1 ZPO.

 

IV. Die Kammer hat gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG die Revision zugelassen, weil vorliegend die Auslegung eines bundesweit geltenden Tarifvertrages in grundsätzlichen Fragen streitig ist. Soweit entscheidungserheblich liegt noch keine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vor.

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