Die sieben Leben der Gleichstellungsklausel
Offenbar haben nicht nur Katzen sieben Leben. Der deutschen Gleichstellungsklausel, nach der bestimmte als ernährungsphysiologische Zusätze verwendete Substanzen wie technologische Zusatzstoffe zulassungspflichtig sein sollen, möchte das BMEL offenbar wieder einmal neues Leben einhauchen. Welche Vitalfunktionen sind aktuell eigentlich noch wahrnehmbar? Und kann die (Nachfolge-)Regelung tatsächlich ein weiteres mal am Leben gehalten werden?
Bereits 2010 hatte der BGH in Bezug auf Glucosaminsulfat und Chondroitinsulfat in Nahrungsergänzungsmitteln entschieden, dass die Anwendung von § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 i.V. m. § 6 Abs. 1 LFGB bei Substanzen europarechtswidrig ist, für die es auf EU-Ebene eine positive Sicherheitsbewertung gibt (vgl. BGH, ZLR 2011, 212 – “Gelenknahrung II” mit Anmerkung Rathke). Nach sechs langen Jahren hat das BVerfG Ende 2016 die beiden in Parallelverfahren ergangenen Entscheidungen des BGH als grundrechtswidrig aufgehoben (BVerfG, Beschlüsse v. 15.12.2016, 2 BvR 221/11 und 222/11). Nach Meinung der Verfassungsrichter hätte der BGH die entscheidungserhebliche Frage, ob Art. 14 Abs. 9 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 einer sicherheitsbasierten nationalen Verbotsvorschrift vorgeht, dem EuGH vorlegen müssen. Darüber hinaus hat sich das BVerfG zu § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB inhaltlich nur am Rande geäußert. Die an den BGH zurückverwiesenen Verfahren sind inzwischen außergerichtlich beendet worden. Der nationale Gesetzgeber hat § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB trotz der Rechtsprechung des BGH bis heute nicht aufgehoben oder eingeschränkt; die Regelung steht weiter im LFGB, sie wird in der Praxis aber kaum noch beachtet.
Aufgrund der Beharrlichkeit eines Herstellers von Nahrungsergänzungsmitteln mit der Aminosäure L-Histidin hat sich die Aufmerksamkeit der lebensmittelrechtlich Interessierten zuletzt auf die Parallelregelung in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 LFGB gerichtet. Danach sind in Deutschland alle Aminosäuren den zulassungspflichtigen Zusatzstoffen gleichgestellt. Das VG Braunschweig hatte die Frage, ob die Regelung zusammen mit dem Verfahren der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 68 LFGB europarechtskonform ist, dem EuGH vorgelegt. In seiner vor wenigen Monaten veröffentlichten Antwort (EuGH, Rs. C-282/15, ZLR 2017, 209 – “Queisser Pharma” mit Anmerkung Gundel) stellt der Gerichtshof klar, dass die nationalen Gesetzgeber Freiraum haben, um auf der Grundlage des Gesundheitsschutzes eigenständige Verbots- und Genehmigungsverfahren einzuführen. Allerdings wird dieser Freiraum dadurch beschränkt, dass die nationalen Regelungen nach den Vorgaben aus Art. 6 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 auf transparenten und objektiven wissenschaftlichen Risikobewertungen beruhen müssen. In diesem Zusammenhang geht der EuGH davon aus, dass die erforderliche Risikobewertung regelmäßig nur konkret stoffbezogen erfolgen kann. Deshalb entschied er gegen § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 LFGB. Die dort geregelte pauschale Gleichstellung aller Aminosäuren mit den
Mit seiner Aminosäuren-Entscheidung hat der EuGH auch der Gleichstellungsklausel in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 LFGB für Mineralstoffe und deren Derivate die Luft genommen. Die Regelung kann wie § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 und 3 LFGB nicht mehr angewendet werden, weil die pauschale Gleichbehandlung aller Mineralstoffe gewiss nicht auf einer europarechtlich notwendig stoffbezogenen und transparenten Risikobewertung einzelner Mineralstoffverbindungen beruht. Die Parallele zu der Regelung für Aminosäuren ist insoweit nicht zu übersehen.
Was bleibt also von § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB? Auf den ersten Blick erscheint zumindest § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 LFGB als stoffbezogene Regelung, die bei den Vitaminen konkret nur Vitamin A und D sowie deren Derivate betrifft. Allerdings sind Zusätze der beiden Vitamine (bzw. konkreter Verbindungen des jeweiligen Vitamins) nach der Anreicherungs-Verordnung (EG) Nr. 1925/2006 ausdrücklich EU-weit zugelassen. Das Bundesministerium meint, es dürfe sich wegen der Übergangsregelung in Art. 17 Abs. 3 der Verordnung auf eine Anreicherungshöchstmenge von “0” berufen. Allerdings kann dafür europarechtlich nichts anderes gelten, als für die Bewertung der Gleichstellungsklauseln in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, 3 und 4 LFGB. Neben dem Stoffbezug fordert der EuGH in diesem Zusammenhang eine objektive wissenschaftliche Bewertung sowie Transparenz. Dass diesen Kriterien bei der nationalen Einstufung von Vitamin A und D ausreichend Rechnung getragen worden ist, muss man bezweifeln (näher Rathke/Teufer/Hahn, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, 165. EL 2016, C 126, Art. 17, Rdnr. 12 ff.).
Aufschlussreich ist insoweit eine noch ganz frische Entscheidung des EuGH zu Höchstmengen der Verwendung von Vitaminen und Mineralstoffen bei Nahrungsergänzungsmitteln in Frankreich (EuGH, Urt. v. 27.4.2017, Rs. C-672/15 – “Noria Distribution SARL”). In dem Urteil fordert der EuGH bei mitgliedstaatlichen Beschränkungen erneut ausdrücklich eine stoffbezogene Bewertung anhand konkreter wissenschaftlicher Daten. Dabei muss der internationale Stand der Wissenschaft ausgewertet werden. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass es geeignete Verfahren gibt, mit denen Produkte aus dem Ausland, die dort verkehrsfähig sind, Zugang zu dem betroffenen nationalen Markt finden können.
Das BMEL scheint von alldem bislang nicht sonderlich beeindruckt. Offenbar plant man, katzenhaft geschmeidig in ein formal neues, inhaltlich aber wenig verändertes nationales Zulassungssystem hinüberzugleiten. Das legt jedenfalls ein Schreiben an die Branchenverbände vom 15.2.2017 nahe. Regelungsversuche aus den Jahren 2010 (vgl. Hahn/Sieckmann, ZLR 2010, 681) und 2012 (zu “Ergänzungsstoffen”, vgl. Breitweg-Lehmann, ZLR 2013, 373, 384 sind nach heftiger Kritik vom
Auch wenn Katzen bekanntlich große Sprungkraft haben: Der EuGH hat für eine neue nationale Gleichstellungsregelung oder vergleichbare Alternativen hohe Hürden aufgebaut. Um daran nicht erneut zu scheitern, muss eine zukünftige Regelung zwingend auf stoffbezogenen, objektiven und transparenten Risikobewertungen beruhen. Der Gesetzgeber wird auch nicht daran vorbeikommen, an dem Verfahren der Allgemeinverfügung nach § 54 LFGB für Lebensmittel festzuhalten, die im Ausland rechtmäßig im Verkehr sind. Es zeichnet sich also möglicherweise ab, dass zahlreiche Lebensmittelhersteller eine “Flucht über die Grenze” antreten, um von dort aus auf dem deutschen Markt zu agieren. Im Sinne eines fairen Wettbewerbs mit Unternehmen, die weiter in Deutschland herstellen, ist das natürlich nicht.
Vielleicht sollte sich der deutsche Gesetzgeber einmal die Frage stellen, weshalb die meisten Mitgliedstaaten schon jetzt ohne vergleichbare nationale Regelungen auskommen. Ein Grund dafür dürfte sein, dass es längst einen ausreichenden Rechtsrahmen für den Zusatz gesundheitlich kritischer Stoffe gibt. Denn neben den Anreicherungsregelungen der Verordnung (EG) Nr. 1925/2006, der Richtlinie 2000/46/EG und auch der Novel-Food-Verordnung (EG) Nr. 258/97 (zukünftig Verordnung (EU) 2015/2283) verbietet Art. 14 Abs. 1 i.V. m. Abs. 2 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 das Inverkehrbringen gesundheitsschädlicher Lebensmittel in der ganzen Union. Bei der Anwendung des Verbots steht es den nationalen Behörden frei, eine eigenständige Sicherheitsbewertung konkreter Stoffe und Produkte vorzunehmen, wenn sie wissenschaftlich fundiert, objektiv und transparent ist. Kein Zufall, dass es sich genau um die Kriterien handelt, die der EuGH den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des EU-Rechts für nationale Beschränkungen ohnehin aufgegeben hat. Aber diese Erkenntnis wird einer neu belebten nationalen Gleichstellungsregelung voraussichtlich wieder einmal den Buckel runterrutschen.
Rechtsanwalt Dr. Tobias Teufer, LL.M. (UCL), Hamburg