Streiks gegen Standortverlagerung versus europäische Niederlassungsfreiheit – Der EuGH ist am Zug
“Die Wirkung des Urteils in Gewerkschaftskreisen war so, als hätte Mrs. Justice Gloster eine Katze mitten in einen Taubenschlag gesetzt.” Mit diesem Satz beginnen die Industrial Relations Law Reports den Bericht über eine Entscheidung des englischen High Court, deren Sachverhalt an der nördlichen Außengrenze der Gemeinschaft spielt. Dort will die finnische Viking Line eine Fähre zwischen Helsinki und Tallinn mit dem schönen Namen “Rosella” an eine zu diesem Zweck gegründete estnische Tochtergesellschaft übereignen. Der Grund für die Ausflaggung ist simpel: Die Einnahmen der “Rosella” können die Betriebskosten nicht decken, weil der Besatzung – anders als bei der estnischen Konkurrenz auf derselben Strecke – finnische Tariflöhne gezahlt werden müssen.
Als die Viking Line ihre Pläne im Oktober 2003 erstmals publik machte, drohte die Finnische Seeleute-Gewerkschaft (FSU) – unterstützt von der Internationalen Transportarbeiter-Föderation ITF – mit Arbeitskampfmaßnahmen (Streik und Boykott). Deren erklärtes Ziel war es, Viking zu zwingen, die Ausflaggungspläne aufzugeben. Am 1. 5. 2004 trat Estland der EU bei. Kurz darauf beantragte Viking gegen die beiden Gewerkschaften am Londoner Sitz der ITF eine Unterlassungsverfügung (injunction), unter anderem mit der Begründung, der angekündigte Arbeitskampf beschränke die Niederlassungsfreiheit der Viking Line aus Art. 43 EG. Die Gewerkschaften beriefen sich demgegenüber auf das Sozialkapitel des EG-Vertrags. Es nimmt in Art. 136 EG auf die sozialen Grundrechte Bezug, die auch die Koalitionsfreiheit umfassen (Einzelheiten bei Blanke, AuR 2006, 1, 4 f.).
In einem ausführlich begründeten Urteil gab die Richterin der handelsrechtlichen Abteilung des High Court (die oben im Zusammenhang der Katze erwähnte Frau Gloster) im Juni 2005 dem Antrag der Viking Line statt: Ein Arbeitskampf mit dem Ziel, eine Reederei mit Sitz in der EU an der Ausflaggung eines Schiffes in einen anderen Mitgliedstaat zu hindern, verletze die Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EG und sei deshalb rechtswidrig. Eine Vorlage an den EuGH hatte die Richterin erwogen, aber verworfen: Mit einer Vorlage sei stets eine unerquickliche Verfahrensverzögerung verbunden; ernsthafte Zweifel an der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts bestünden nicht.
Im Berufungsverfahren hob der Court of Appeal am 3. 11. 2005 die einstweilige Verfügung auf, setzte das Hauptsacheverfahren aus und stellte dem EuGH zehn Fragen, insbesondere zur Reichweite der Niederlassungsfreiheit, zur horizontalen Wirkung des Art. 43 EG und zur Rechtfertigung möglicher Beschränkungen, insbesondere aus der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften. Der Court of Appeal macht deutlich, dass von den Antworten des EuGH der Ausgang des Rechtsstreits abhänge.
Ersetzt man im Sachverhalt die Ausflaggung des Schiffes durch die Verlagerung einer Nürnberger Hausgeräteproduktion (“AEG”), so ist klar, dass auch den deutschen Gewerkschaften das weitere Schicksal der “Rosella” nicht gleichgültig sein kann – ist es doch erklärtes Primärziel vieler Streiks um sog. “Sozialtarifverträge”, den Arbeitgeber zu veranlassen, die unternehmerische Entscheidung aufzugeben, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen. Dass ein solcher Streik direkt und offen auf eine Behinderung der Niederlassungsfreiheit zielt, kann im Geltungsbereich des EG-Vertrags nicht zweifelhaft sein. Auch die horizontale Wirkung dieser Marktfreiheit erscheint nicht als Problem (ebenso Blanke, AuR 2006, 1, 4). Dann konzentriert sich die Vorlageproblematik auf die Frage, ob die sozialen Rechte der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften eine unmittelbare Behinderung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können. Wenn sich der Gerichtshof nicht mit Formelkompromissen aus der Affäre zieht, könnte sich mit dem klangvollen Namen “Rosella” – so oder so – ein neues Kapitel der Arbeitsbeziehungen in Europa verbinden.
Professor Dr. Abbo Junker, Göttingen