Back to the roots
Kaum etwas führt so häufig und so zuverlässig zu sozialem Verdruss im Büro wie die Teeküche. Die Spülmaschine wird tagelang nicht ausgeräumt; in der Spüle verrotten Teebeutel; niemand kauft Kaffee nach; die Kaffeekasse bleibt leer.
Ist zum Zwecke der Beseitigung der Missstände Videoüberwachung (selten genug!) nicht gewünscht oder (häufig genug?) nicht zulässig, helfen auch sehr viel einfachere Mittel: Wie sich experimentell zeigen lässt, reicht es, in der Küche ein Schwarz-Weiß-Bild, das ein Augenpaar zeigt, aufzuhängen – und schon steigt der Anteil normkonformen Verhaltens hoch signifikant (Vgl. Bateson/Nettle/Roberts, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1686213/).
Es gibt kaum ein Thema des IT-Rechts, das so kontrovers beurteilt wird, wie das der Vorratsdatenspeicherung von Verbindungsdaten. Das gilt nicht nur für die politische Einschätzung, sondern auch für die (grund)rechtliche Beurteilung getroffener und in Gesetzesform gegossener Entscheidungen durch Gerichte. Es gibt ja inzwischen auch kaum ein – nationales oder europäisches – Höchstgericht, das nicht schon mit der rechtlichen Beurteilung der Vorratsdatenspeicherung befasst war.
Seit Dezember 2016 ist diese Diskussion um eine weitere Facette reicher. Der EuGH hatte in der Entscheidung C-203/15 und C-698/15 (“Tele2 Sverige AB”, K&R 2017, 105 ff.) nämlich Gelegenheit, sich mit der europarechtlichen Zulässigkeit nationalstaatlicher Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung zu befassen. Prüfungsobjekt waren dabei die nationalen Regelungen Schwedens und des Vereinigten Königreichs.
Kontext der Entscheidung ist, dass der EuGH die RL 2006/24/EG, die Anlass und Grundlage (großer Teile) der nun zu prüfenden nationalen Gesetze gewesen war, insgesamt bekanntlich für ungültig erklärt hatte (verbundene Rechtssachen C-293/12 und C-594/12, “Digital Rights Ireland”, K&R 2014, 405 ff.). Dies hatte nationale Gesetzgeber (darunter bekanntlich auch den deutschen) jedoch nicht daran gehindert, nationale Verpflichtungen zur Vorratsdatenspeicherung beizubehalten oder gar neu einzuführen.
Es ist nicht erstaunlich, dass der EuGH seine prinzipiellen Vorbehalte gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung weiter geschrieben hat. Wie schon in “Digital Rights Ireland” und in C-362/14 (“Schrems”) betont der EuGH erneut und zu Recht die hohe Eingriffsintensität einer anlasslosen, massenhaften Speicherung von Verbindungsdaten unterschiedslos aller Kommunikationsteilnehmer und erklärt diese für unzulässig. Europäisches Recht steht einer nationalen Regelung entgegen, die “für Zwecke der Bekämpfung von Straftaten eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung sämtlicher Verkehrs- und Standortdaten aller Teilnehmer und registrierten Nutzer in Bezug auf alle elektronischen Kommunikationsmittel vorsieht.” (“Tele2 Sverige AB” Rn. 112).
Vor diesen engen Grenzen wird nun die deutsche Diskussion weiterzuführen sein. Zwar ist nach den ersten Reaktionen auf das Urteil nicht zu erwarten, dass dieses zu einer politischen Kehrwende und zu einer freiwilligen erneuten Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung führen wird. Jedoch wird das Urteil in der anstehenden Auseinandersetzung (erneut) vor BVerfG und EuGH genau zu lesen sein.
Deswegen sei hier auf Zweierlei hingewiesen. Erstens hat der EuGH in “Tele2 Sverige AB” zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass massenhafte Speicherung und ein daraus entstehendes Gefühl anlassloser Dauerüberwachung “auch die Einhaltung der in Art. 11 der Charta gewährleisteten Freiheit der Meinungsäußerung betreffen.” (Rn. 92). Anders formuliert: Das Gefühl, beobachtet zu werden, erzeugt Konformitätsdruck und kann zum Schweigen bringen. Dieses Verhalten ist, wie sich in jeder Teeküche mit aufgeklebten Papieraugen zeigen lässt, nicht rational, sondern instinktgesteuert.
Damit bietet “Tele2 Sverige AB”, zweitens, Anlass, eine ebenso weitsichtige wie zeitlose Einschätzung des Volkszählungsurteils leicht variiert zu wiederholen: “Wer [...] sicher ist, [dass] abweichende Verhaltensweisen [...] dauerhaft gespeichert [...] werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.” Das gefährdet schon heute nicht nur das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern insbesondere auch das auf Meinungs- und Informationsfreiheit. Und vielleicht – vor dem Hintergrund des heute schon verbreiteten, Handy genannten, Standortfinders in jeder Hosentasche – schon morgen weitere Grundrechte, etwa das der Freizügigkeit.
Prof. Dr. Nikolaus Forgó, Hannover