Wege aus der Polykrise der Europäischen Union
Die EU kämpft aktuell mit multiplen Krisen, wie der “Spaltung der Wertegemeinschaft”, der “Migrationskrise”, dem “Brexit” und der “Banken- und Finanzkrise”. Angesichts ihrer Parallelität haben sich die Krisenszenarien zu einer Situation verdichtet, in der sich die europäische Integration einer Bewährungsprobe ausgesetzt sieht. Die vier zentralen Problemkreise waren daher Gegenstand der 25. Würzburger Europarechtstage zum Thema “Die EU zwischen Niedergang und Neugründung: Wege aus der Polykrise”.
1. Der Wertekanon des Art. 2 EUV stellt einen Grundpfeiler des Handelns der EU nach innen wie nach außen dar. Dennoch klaffen Anspruch und politische Wirklichkeit zunehmend auseinander. Davon zeugt der Widerstand mancher Regierungen gegen geltendes EU-Recht. Außerdem schmälern einige Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit ihres nationalen Justizsystems. Beide Phänomene bewirken eine Destabilisierung der europäischen “Rule of Law”. Deshalb haben die Unionsorgane Sanktionsverfahren gegen Polen und Ungarn initiiert. Gleichzeitig hat der EuGH verschiedene Entscheidungen gefällt, die auf die Aufrechterhaltung eines liberalen Verfassungsrechts zielen. Weder die eingeleiteten politischen Maßnahmen noch die EuGH-Entscheidungen sind jedoch in der Lage, die Rechtsstaatlichkeit innerhalb eines Mitgliedstaates wiederherzustellen. Sie können bloß zur Selbstheilung beitragen, die durch den innerstaatlichen Verfassungsprozess erfolgen muss. Insofern setzt demokratische Legitimation aber ein definiertes Minimum an Rechtsstaatlichkeit voraus. Eine getrennte Betrachtung dieser beiden Strukturprinzipien ist ebenso wenig zielführend wie eine rein nationale Antwort auf im Kern auch europäische Fragen.
2. Der Topos des gegenseitigen Vertrauens bei der mitgliedstaatlichen Durchführung von Unionsrecht berührt ebenfalls die europäische Rechtsstaatlichkeit. Gegenseitiges Vertrauen ist bei der Umverteilung von Asylsuchenden essentiell. Im Zuge des Migrationsdrucks hat sich das Sekundärrecht des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems allerdings als dysfunktional erwiesen. Insbesondere die Dublin III-Verordnung, welche die verfahrensrechtliche Zuständigkeit des Ersteinreisestaates begründet, konnte sich nicht bewähren. Da eine Revision der Dublin III-Verordnung nicht die erforderliche Zustimmung findet, sind Alternativen zu erwägen. So könnte eine administrative Zentralisierung in Betracht zu ziehen sein, die das Dublin-System mit dem Schengen-Raum verknüpft und beide Bereiche in die ursprüngliche Intergouvernementalität zurückführt. Umgekehrt wäre eine Optimierung der supranationalen Verteilungsregelung dergestalt denkbar, dass die Feststellung des Schutzstatus gemeinsam mit der Wahl des präferierten Zufluchtstaates erfolgt. Auf diese Weise könnten die Mitgliedstaaten und die Schutzsuchenden ihre jeweiligen Interessen bestmöglich austarieren. Eine solche von M. Nettesheim vorgeschlagene “Verhandlungslösung” hätte den Vorteil, dass sie die Sekundärmigration minimieren würde.
3. Das Brexit-Votum der Briten von 2016 hat eine intensive Debatte ausgelöst, deren Ende auch nach zweifacher Verschiebung des Austrittsdatums nicht absehbar ist. Aus Unionsperspektive wurde vom EuGH im Wightman-Urteil (EWS 2019, 326) ein Ausweg eröffnet. Danach existiert die Möglichkeit zur einseitigen Rücknahme der Austrittsmitteilung auch ohne Zutun der anderen Mitgliedstaaten. Im Vereinigten Königreich steht die Zuständigkeitsverteilung zwischen Parlament und Regierung im Fokus. Jüngst hat der Supreme Court die vom Premierminister veranlasste fünfwöchige Zwangspause des Parlaments, die als Strategie zur Ausschaltung des Unterhauses im Brexit-Prozess gewertet werden könnte, für rechtswidrig, ungültig und wirkungslos erklärt. Unmittelbar vor der Suspendierung gelang es dem Parlament zudem, die Regierung zur erneuten Vertagung der Austrittsfrist bis 31. 1. 2020 zu verpflichten, sollte am 19. 10. 2019 kein Abkommen vorliegen. Ungeachtet dessen bleibt die von K. Ziegler entwickelte These diskutabel, wonach die Austrittsmitteilung bei fehlender Zustimmung des Parlaments zum Abkommen als Folge einer geltungserhaltenden Reduktion von Art. 50 Abs. 3 EUV gegenstandslos werde.
4. Aktuelle Brennpunkte der Banken- und Finanzkrise bilden neben der jüngst vom BVerfG bestätigten Verfassungskonformität der Bankenunion (EWS 2019, 206) vor allem das Verfahren zum Public Sector Purchase Programme (PSPP) sowie die Neuausrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Dabei droht mit der Entscheidung zum PSPP nun auch eine Krise im Verfassungsgerichtsverbund. Grund ist zum einen, dass der EuGH (EWS 2018, 328) die vom BVerfG formulierten Kriterien für Anleihekaufprogramme partiell negiert hat. Zum anderen wurde eine der Karlsruher Vorlagefragen für unzulässig erklärt, so dass offen blieb, ob im PSPP eine unbegrenzte Risikoteilung für die sich auf 2,1 Billionen Euro summierenden Anleihekäufe angelegt ist. Nicht weniger bedeutsam ist die Debatte um eine Neuausrichtung des ESM als Herzstück der Eurozonenreform. Seit dem Euro-Gipfel vom 21. 6. 2019 sind Konturen erkennbar. Zur Vielzahl neuer Aufgaben zählen ein stärkeres Mitspracherecht bei künftigen Kreditprogrammen und die Etablierung einer Letztsicherung des Bankenabwicklungsfonds. Auf dieser Linie erscheint das Ziel erreichbar, den ESM als Institution für europäische Solidarität zu festigen.
Die multiplen Krisenherde wurden auf der Tagung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Neben einer Bestandsaufnahme stand die Suche nach Lösungsvorschlägen im Zentrum. Die Referate werden durch einen Tagungsbericht (EWS 2019, 273) nachgezeichnet und alsbald in einem Sammelband dokumentiert.
Prof. Dr. Markus Ludwigs und
Prof. Dr. Stefanie Schmahl, Julius-Maximilians-Universität Würzburg