Warten auf die AGVO . . .
. . . – und währenddessen ändert sich die (beihilferechtliche) Welt
Das beihilferechtliche Jahr 2023 begann mit dem gespannten Blick nach Brüssel: Wann würde die ersehnte Überarbeitung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) am Horizont erscheinen und den Instrumentenkasten für nicht-notifizierungspflichtige Beihilfen erweitern? Noch während des Wartens platzten aufgeregte Meldungen zu einer “Lockerung” oder gar “temporären Abschaffung” des EU-Beihilfenrechts herein. Was war geschehen?
Mit dem US-Inflation Reduction Act (IRA), einer Gesetzesoffensive zur Eindämmung der Inflation, aber auch zur Förderung der Klimatransformation der Wirtschaft mit massiven (Steuer-)Subventionen und Anreizen zur Produktion im eigenen Land, setzte die US-Regierung im Herbst 2022 ein Ausrufezeichen, auf das es durch die EU mit einer einheitlichen Linie zu reagieren galt. Diese Linie sollte – wie sich Ende 2022 in ersten Äußerungen der Kommissionspräsidentin zeigte – u. a. mit der Flexibilisierung des EU-Beihilfenrechts einhergehen. Wie sehr sich das Beihilfenrecht “locker machen” sollte, um dem Berg an Aufgaben zu begegnen, der sich für Europa durch die auslaufende Pandemie, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die Anpassung an den Klimawandel sowie den weltweiten Wettbewerb als Wirtschaftsstandort ergibt, wurde Anfang 2023 in einem Brief von Wettbewerbskommission Vestager deutlich. Darin skizzierte sie – neben dem fast schon obligatorischen Hinweis auf die Möglichkeiten, die sich durch die AGVO böten – die beihilferechtlichen Ansätze, um den “grünen und digitalen Wandel in einen starken Wachstumsmotor” zu verwandeln. Hierzu solle der “Befristete Krisenrahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge der Aggression Russlands gegen die Ukraine” zu einem “Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Krisenbewältigung und zur Gestaltung des Wandels” (TCTF) umgewandelt werden. Die wesentlichen Zielsetzungen seien dabei: 1) die Berechnung von Beihilfebeträgen für die Mitgliedstaaten zu vereinfachen (insb. die Regelungen des Krisenrahmens auf alle Technologien für erneuerbare Energien zu erstrecken) und die Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, 2) die gänzlich neue Möglichkeit, mittels Investitionsbeihilfen für grüne Vorhaben Unternehmen in strategischen Sektoren dazu zu bewegen, in der EU zu investieren, statt ihre Produktionsstandorte in Drittstaaten zu verlagern. Vestager wies allerdings zugleich darauf hin, dass sich die Kommission des Risikos eines Subventionswettlaufs innerhalb Europas und der Gefährdung der europäischen Kohäsion bewusst sei; nicht alle Mitgliedstaaten verfügten über die gleichen “tiefen Taschen”. Es sei erforderlich, dieser Gefahr durch weitere Unterstützung der mitgliedstaatenübergreifenden “Wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse” (IPCEI) und dem Förderfonds “REPowerEU” sowie einem neuen kollektiven Transformationsfonds zu begegnen.
Einer ersten Konsultation folgten am 1. 2. 2023 der “Industrieplan für den Grünen Deal” und die Übermittlung eines Konsultationsentwurfs für den TCTF. Im Industrieplan stellte die Kommission klar, dass der schnellere Zugang zu ausreichender öffentlicher und privater Finanzierung eine der tragenden Säulen zur Erreichung der europäischen Ziele ist, insb. der Transformation zu einer klimaneutralen Industrie. In diesem Kontext müsse temporär mehr Flexibilität zur Gewährung staatlicher Beihilfen eingeräumt werden. Entlang von fünf Achsen bedürfe es zusätzlicher Regelungen, wobei vier dieser Achsen durch den Befristeten Krisen- und Transformationsrahmen abgedeckt würden, die fünfte stelle die erhebliche Erhöhung der Anmeldeschwellen für Beihilfen in Schlüsselsektoren (z. B. erneuerbarer Wasserstoff, klimaneutrale Fahrzeuge, CO2-Abscheidung/-speicherung) und -infrastrukturen (z. B. Ladeinfrastrukturen) sowie für entsprechende Ausbildungsbeihilfen in der überarbeiteten AGVO dar. Der TCTF, der für bis zum 31. 12. 2025 ausgereichte Klima- und Transformationsbeihilfen gilt, solle 1) Beihilfen für den Ausbau erneuerbarer Energien und 2) für die Dekarbonisierung der Industrie weiter erleichtern, 3) den Rahmen setzen für Investitionsbeihilferegelungen für strategische Technologien, die für den Übergang zur CO2-Neutralität erforderlich sind, einschl. der Möglichkeit, höhere Beihilfen zu gewähren, um jenen Subventionen zu entsprechen, die Wettbewerber außerhalb der EU erhalten, 4) unter Berücksichtigung der globalen Finanzierungslücken die Grundlage für gezielte Beihilfen zur Unterstützung großer neuer Produktionsprojekte in strategischen Wertschöpfungsketten setzen.
Im Ergebnis war bereits der Entwurf des TCTF als eine Mischung einzuordnen zwischen der Erweiterung der bereits durch den Befristeten Krisenrahmen 2020 eingeführten Erleichterungen für Investitionsbeihilfen in erneuerbare Energien sowie in die industrielle Dekarbonisierung und der Schaffung neuer Anreize für grüne Produktionsinvestitionen in Europa. Am 9. 3. 2023 nahm die Kommission den TCTF final an. Zeitgleich billigte sie die flugs erweiterten Ergänzungen an der AGVO.
Die Lockerungen werden dabei behutsam angegangen, wohl wissend, dass insb. mit dem Zulassen von Gegenanreizbeihilfen für den Standort Europa eine Abkehr von bestehenden Grundsätzen vollzogen wird. Die Maßnahmen müssen – weil “nicht unschuldig” und “weitreichend” (so Vestager) – begrenzt und temporär sein. Denn sie haben angesichts der unterschiedlichen Finanzstärken der Mitgliedstaaten das Potential, zu Verwerfungen innerhalb Europas zu führen. Die “Lockerungsübungen” des TCTF sind daher zwangsläufig an klare Voraussetzungen geknüpft und sie sollen vorrangig mitgliedstaatliche Beihilferegelungen erfordern. Ob dadurch die gewünschte Flexibilität und Schnelligkeit herbeigeführt werden? Das wird wohl abzuwarten sein. Die Mitgliedstaaten werden sich nun zügig an das Aufsetzen von sportlichen Förderrichtlinien und Notifizierungen machen und sich – sobald sie in Kraft getreten ist – akrobatisch durch die neue AGVO schlängeln. Gegenwärtig scheinen einzelne Großprojekte schneller in die Spur zu kommen als die regulatorischen Rahmen. Festzuhalten bleibt aber: Das EU-Beihilfenrecht ist einmal wieder das kleine Rechtsgebiet für die großen Probleme. Es wird sich zeigen, ob es den Spagat zwischen dem ökologischen Wandel (“green transition”) und der Stärkung Europas im internationalen Wettbewerb einerseits und der Verteidigung des Binnenmarkts ohne Wettbewerbsverzerrungen andererseits leisten kann!
Julia Lipinsky, M.E.S., Rechtsanwältin, Berlin