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BB 2017, I
Nielebock 

Zeitsouveränität statt mehr Flexibilisierung

Abbildung 1

Die Behauptung, das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) gebe einen starren Rahmen vor, der für neue Arbeitszeitgestaltungen weder Arbeitgebern noch Beschäftigten diene – wie dies Brunn in seinem Beitrag (BB 2017, Heft 27/28, Die Erste Seite) behauptet – ist nicht zutreffend. Richtig ist, dass die Arbeitszeitflexibilität in einem bisher ungekanntem Ausmaß zugenommen hat: 57 % der Beschäftigten und 38 % der Betriebe nutzen Arbeitszeitkonten, ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten arbeitet mehr als 45 Stunden pro Woche (Std/W), die Hälfte zwischen 40 und 47 Std/W. Durchschnittlich werden 5 Std/W mehr als vertraglich vereinbart geleistet. 57 % der Beschäftigten – 20 % mehr als 1991 – leisten Schicht-, Nacht- und Samstagsarbeit. 26 % der Beschäftigten sind ständig in Abend- und Nachtschicht, ein Viertel leisten regelmäßig Sonn- und Feiertagsarbeit, und 40 % arbeiten immer samstags. 2012 hatten 27 % der Betriebe Vertrauensarbeitszeit. Untersuchungen brachten hervor, dass Personen mit Vertrauensarbeitszeit die meisten unbezahlten Überstunden leisten. Ein Drittel der Beschäftigten mit flexiblen Arbeitsregelungen haben keine festen Arbeitszeitvorgaben. Auch wenn die tariflich vereinbarten Arbeitszeiten in Deutschland im EU-Durchschnitt relativ gering sind, gehört Deutschland mit der tatsächlichen Arbeitszeit von durchschnittlich 43 Std/W zu den Ländern mit den höchsten wöchentlichen Arbeitszeiten in Europa.

Das alles zeigt: Nicht starr, sondern sehr flexibel und obendrein noch billig für die Unternehmen wird in Deutschland gearbeitet. Und das, obwohl es einen äußersten Rahmen durch das ArbZG mit einer täglichen Höchstarbeitszeit von 8 bzw. 10 Stunden gibt und die Möglichkeit, bis zu 60 Stunden in der Woche zu arbeiten. 1993 wurde dies zugunsten der Arbeitgeber noch durch eine 6-monatige Ausgleichszeit flexibilisiert. Aber wie sieht es dann mit dem Gesundheitsschutz bei diesen flexiblen Arbeitszeiten aus?

Der Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) von 2016 hält fest, dass ab 2 Überstunden pro Woche bei Vollzeitbeschäftigen die Erschöpfung und Schlafstörungen zunehmen. Studien belegen darüber hinaus, dass bei Arbeitszeiten von mehr als täglich 8 Stunden die Fehleranfälligkeit bereits steigt. Daten des Hauptverbandes der betrieblichen Unfallkassen in Deutschland zufolge, steigt das Unfallrisiko nach der 8. Arbeitsstunde exponentiell an, nach der 12. Arbeitsstunde ist es nahezu verdoppelt. Der BAuA-Erwerbstätigenreport hat zudem ergeben, dass psychische Belastungen in einem deutlichen Zusammenhang zur Dauer der Arbeitszeit stehen. Besonders stark sind die Belastungen bei starkem Termin- und Leistungsdruck oder bei der Abarbeitung verschiedenartiger Arbeiten gleichzeitig sowie, wenn Arbeit bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit erfolgt. Diese Befragung hat auch einen Zusammenhang aufgezeigt bezüglich der Lage der Arbeitszeit zwischen 7 und 19 Uhr und Arbeitszeiten außerhalb dieser Arbeitszeiten, ohne dass es sich dabei um Nacht- und Schichtarbeit handelt: Es liegen dann mehr grundsätzliche Beschwerden vor. Bei der Belastung durch Stress infolge von Arbeitshetze, Schichtarbeit, Arbeit am Wochenende und Überstunden liegt Deutschland mit 50 % über dem EU-Durchschnitt von 44 %. Andere EU-Länder wie z. B. Österreich und Spanien kennen wesentlich engere gesetzliche Höchstarbeitsgrenzen als Deutschland.

Wie aber ist es um die Zeitsouveränität der Beschäftigten bestellt? – 79 % der Beschäftigten nutzen für ihre tägliche Arbeit mobile Geräte, wie Notebooks, Tablets, PC oder Smartphones, zumindest auch gelegentlich von unterwegs: im Auto, in Zügen oder in Hotels (Bitkom, 2011). Laut Bitkom-Umfrage von 2015 sind 77 % auch außerhalb der vereinbarten Arbeitszeit erreichbar, vorwiegend für Kunden und Arbeitskollegen – durchschnittlich 34 Minuten pro Anfrage (IGA, 23. Bericht). Nach dem DGB-Index “Gute Arbeit” von 2015 geben 52 % der Beschäftigten an, gar keinen oder nur geringen Einfluss auf die Arbeitszeitgestaltung zu haben, bei der Arbeitsmenge sind es sogar 65 %. Auch nach der 3. Unternehmensbefragung von Eurofonds von 2015 bieten nur knapp 32 % der Unternehmen dem Großteil ihrer Mitarbeiter an, Arbeitsbedingungen und -ende ihren Bedürfnissen anzupassen.

Fazit: Ein guter Gesundheitsschutz bei flexibler Arbeit ist nicht gewährleistet, und eine wirkliche Selbstbestimmung bei der Lage und Dauer der Arbeitszeit kennen die Beschäftigten in der Regel nicht. Deshalb ist es an der Zeit, durch ausreichende gesetzliche Rahmenregelungen dem spezifischen Gesundheitsschutz und der Zeitsouveränität der Beschäftigten mittels Rechtsanspruch besser Rechnung zu tragen. Die Verkürzung der täglichen Ruhezeit und die Verlängerungsmöglichkeit der täglichen Höchstarbeitszeit auf bis zu 13 bzw. 15 Stunden sind der falsche Weg. Dies kommt den Arbeitgeberinteressen an einer erweiterten Nutzung der Arbeitskraft entgegen, bringt aber den Beschäftigten weder mehr Lebensqualität, noch wahrt dies ihre Gesundheitsinteressen mittel- und langfristig. Der öffentlich-rechtliche Arbeitszeitschutz ist Ausfluss der Schutzpflicht des Staates, für das gesundheitliche Wohl seiner BürgerInnen zu sorgen. Dieser Schutz schont mittelfristig auch die Staatskasse und die Beitragszahler. Das EU-Recht und die Rechtsprechung setzen ebenfalls enge Grenzen. Zu Recht! Deshalb ist folgerichtig, dass durch die anstehende Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie Arbeitszeitregelungen, die mehr den Wünschen der Beschäftigten entsprechen, erreicht werden sollen: Wünsche nach kleinerer Vollzeit und größerer Teilzeit (Korridore zwischen 28 und 32 Std/W) und Wahlmöglichkeiten entlang des Lebenslaufes. Gesunde und zufriedene Beschäftigte sind unverzichtbar. Das kommt letztlich dann allen – auch den Unternehmern – zugute.

Helga Nielebock ist Leiterin der Abteilung Recht im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Berlin.

 
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