Wachstumschancengesetz: Zielerreichung fraglich
Punktuelle, durchaus willkommene Maßnahmen zur Vereinfachung und Entbürokratisierung werden durch neue, komplexere Regelungen konterkariert.
Als im Juli der Referentenentwurf des Wachstumschancengesetzes vorgelegt wurde, war das Echo sehr positiv. Manche sprachen von der größten Steuerreform seit Jahren. Die in der Gesetzesbegründung aufgeführten Ziele klingen allesamt begrüßenswert. Durch verschiedene steuerliche Erleichterungen im Unternehmensbereich sollen die Liquiditätssituation der Unternehmen verbessert und Impulse gesetzt werden, damit Unternehmen dauerhaft mehr investieren und Innovationen wagen können. Das Steuersystem soll an zentralen Stellen vereinfacht, und es soll insgesamt für mehr Steuerfairness gesorgt werden. Steuererleichterungen soll es insbesondere durch verbesserte Abschreibungs- und Verlustverrechnungsmöglichkeiten, Tarifbegünstigungen für Personengesellschaften und eine Ausweitung der steuerlichen Forschungsförderung (s. zu diesem Punkt im RefE und RegE auch den Beitrag von Müller auf S. 2391 ff. in diesem Heft) geben. Weiter ist eine Investitionsprämie für bestimmte Klimaschutzmaßnahmen angekündigt.
Wie aktuell bei so vielen gut gemeinten politischen Maßnahmen verläuft die Umsetzung indes holprig. Zunächst blockierte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Verabschiedung des Gesetzentwurfs im Kabinett, um einen Kompromiss bei der Kindergrundsicherung zu erzwingen. Als der Beschluss dann Ende August im Rahmen der Klausurtagung in Meseberg im zweiten Anlauf gelang, waren einige Kernelemente der Steuererleichterungen schon weniger attraktiv ausgestaltet, und die Euphorie der Wirtschaft war entsprechend geringer (s. dazu auch Bünning, BB 2023, 2284): Die Mindestbesteuerung bei der Verlustnutzung soll nicht mehr komplett ausgesetzt, sondern nur noch abgeschwächt werden. Technische Detailänderungen bei der Tarifbegünstigung für Personengesellschaften werden ihre positiven Effekte reduzieren. Damit aber nicht genug, denn aktuell droht eine weitere Blockade des Gesetzes im Bundesrat (s. dazu auch BB 2023, 2324). Verschiedene Bundesländer machen geltend, dass ein Großteil der vorgesehenen Steuererleichterungen zu Lasten der Länder und Gemeinden gehe. Da Konjunkturpolitik “in erster Linie Sache des Bundes” sei, so ein Sprecher der hessischen Landesregierung, müssten die geplanten Regelungen nach Aussage einer Sprecherin der Landesregierung Rheinland-Pfalz noch “im Einzelnen auf ihre Zielgenauigkeit” überprüft werden (Wirtschaftswoche, 4.9.2023, abrufbar unter https://www.wiwo.de/politik/deutschland/gesetzesvorhaben-wachstumschancengesetz-droht-blockade-im-bundesrat/29371206.html, Abruf: 10.10.2023). Es steht daher zu befürchten, dass die geplanten Steuererleichterungen im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch weiter abgeschwächt werden.
Unverändert bleiben dürften dagegen die im Wachstumschancengesetz unter dem Schlagwort “Steuerfairness” vorgesehenen zahlreichen Verschärfungen. Hier liegt das eigentliche Problem nicht nur des Wachstumschancengesetzes: Das deutsche Steuerrecht wird – entgegen allen Beteuerungen – immer komplizierter und bürokratischer. Punktuelle, durchaus willkommene Maßnahmen zur Vereinfachung und Entbürokratisierung werden durch neue, komplexere Regelungen konterkariert. Erleichterungen bei der Buchführungspflicht in bestimmten Fällen, die Befreiung von Kleinunternehmern von umsatzsteuerlichen Erklärungspflichten, die Beseitigung des Schriftformerfordernisses an verschiedenen Stellen des Riester-Verfahrens oder die Digitalisierung des Spendenverfahrens werden einige Steuerpflichtige sicherlich entlasten. Größere Unternehmen, die es aktuell im internationalen Wettbewerb eigentlich zu stärken gilt, sehen sich dagegen mit umfangreichen neuen Prüfungs- und Dokumentationspflichten konfrontiert: Verschärfung des Zinsabzugsverbots unter der Zinsschranke, kombiniert mit der Einführung einer neuartigen – im internationalen Vergleich einzigartigen – Zinshöhenschranke, Verschärfungen bei Investmentfonds sowie die Ausweitung der Mitteilungspflichten auf rein innerstaatliche Steuergestaltungen. Hinzu kommen die Herausforderungen, die sich im Zusammenhang mit der Einführung der globalen Mindestbesteuerung, erweiterten Verrechnungspreisdokumentationspflichten, der Verschärfung der Hinzurechnungsbesteuerung, schwer verständlichen Abzugsverboten bei Besteuerungsinkongruenzen, der unklaren Terminologie des Steueroasenabwehrgesetzes oder jüngst den Informationspflichten im Zusammenhang mit der Schaffung eines Europäischen CO2-Zolls stellen. Daneben gibt es noch zahlreiche weitere EU-Initiativen, wie etwa die Unshell Directive, Business in Europe: Framework for Income Taxation (BEFIT) oder EU-einheitliche Verrechnungspreisrichtlinien, die es ebenfalls zu beobachten gilt.
Die immer zahlreicheren, wenig aufeinander abgestimmten und hochkomplexen Regelungskonvolute stellen nicht nur die Unternehmen und ihre Berater, sondern auch die Finanzverwaltung vor immer größere Herausforderungen. Fälle, die noch vor wenigen Jahren in Monaten erledigt waren, dauern inzwischen oft Jahre.
Es fragt sich, ob man angesichts der Einführung einer globalen Mindeststeuer, ausgereifter Verrechnungspreisregelungen und einem sehr weitgehenden Informationsaustausch wirklich noch alle anderen Missbrauchsregelungen der Vergangenheit benötigt bzw. diese sogar noch ausweiten muss. Wenn hier mit Augenmaß das über viele Jahre gewachsene Regelungsdickicht gelichtet würde und hochqualifizierte Fachkräfte wieder mehr Zeit für produktivere Dinge hätten, könnten erhebliche Wachstumschancen entstehen.
Florian Lechner, RA, ist Partner im Steuerbereich bei Allen & Overy LLP in Frankfurt a. M. Er verfügt über 25 Jahre Erfahrung in der steuerlichen Beratung von großen internationalen Unternehmen und Finanzinvestoren zu M&A-Transaktionen, Umstrukturierungen, Finanzierungen, strukturierten Finanzprodukten und Fonds-Investments. In den letzten Jahren hat er zunehmend an internen Untersuchungen im Finanzsektor mitgewirkt.