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BB 2020, I
Graewe 

New Corporate Governance: bessere Unternehmenskontrolle ohne Menschen?

Abbildung 1

Die OECD hat durch eine Studie herausgefunden, dass 46 % aller Jobs durch Automatisierung in Zukunft entweder ganz oder zu großen Teilen überflüssig werden könnten. Wer dachte, Vorstände und Aufsichtsräte seien davor verschont, der ist schon seit dem Jahr 2014 im Irrtum; dem Jahr, in dem in Hongkong der Algorithmus “VITAL” zum Aufsichtsrat bei Deep Knowledge Ventures “berufen” wurde. Angeblich habe er das Unternehmen einige Jahre später durch kluge Investmentvorschläge sogar vor der Insolvenz bewahrt. Es lohnt sicher nicht, darüber zu diskutieren, ob das rechtlich überhaupt (schon) möglich ist, da es sich wohl eher um eine PR-Aktion gehandelt hat. Trotzdem sind wir nicht mehr allzu weit entfernt von der realistischen Frage, wie viel Mensch noch in der Unternehmensführung und -kontrolle benötigt wird und was im Bereich der Corporate Governance nicht (schon längst) von Maschinen übernommen werden kann, weil sie es besser, schneller und günstiger können.

Wo Vertrauen, Überwachung, Incentivierung oder Ethikappelle im Rahmen der Corporate Governance bislang versagten, dort kann jetzt vielleicht Technologie helfen, Unternehmen besser zu überwachen – der elektronische Aufsichtsrat. Big Data, künstliche Intelligenz, selbstlernende Maschinen, Blockchains & Distributed Ledger und smarte Verträge könnten es in der Summe (schließlich) möglich machen – die sog. Corporate Technolgie, kurz “CorpTech”. Ebenso wie das Zusammenschalten der zahlreichen Assistenzsysteme in Autos – mehr als die Summe der Einzelsysteme – autonomes Fahren ermöglichen kann. Die Vorteile des Einsatzes von CorpTech liegen dabei auf der Hand: die mit der Tätigkeit von Menschen zwangsweise einhergehenden Schwächen, wie etwa Gruppenzwang bei Abstimmungen, persönliche Präferenzen von Einzelpersonen aufgrund einer individuellen Nutzenmaximierung, sonstige (bewusste oder unbewusste, direkte oder indirekte) Beeinflussungen, Vergessen oder Verdrängen von Informationen etc., werden weitgehend eliminiert.

Schon heute werden daher CorpTechs eingesetzt, etwa von einem der größten Asset Manager, deren Programm mithilfe von Blockchain-Technologie gesellschaftsrechtliche Wahlprozesse, z. B. auf Hauptversammlungen, managen kann. Daneben existiert eine ganze Reihe von Anbietern, die kapitalmarktbezogene Analysetools auf der Basis von Big Data Technologien anbieten. Bemerkenswert ist auch eine Anwendung, die auf Basis von Smart Contracts Aufsichtsratssitzungen überwacht, etwa hinsichtlich der Anwesenheit der Organmitglieder, Protokolle teilautomatisiert erstellt und fälschungssicher archiviert, wodurch ein in der Realität nicht selten anzutreffendes “Rückdatieren” von Protokollen und Beschlüssen verhindert werden kann. Selbstlernende Maschinen werden zudem eingesetzt, um Verträge zu analysieren, Compliance-Themen, z. B. im Bereich Kartellrecht oder Datenschutz, aufzudecken oder die Bilanzen zu analysieren.

Unbestritten ist, dass die Tätigkeit von Aufsichtsräten im schnelllebigen Informationszeitalter zunehmend herausfordernder und damit auch haftungsträchtiger wird. Diese Entwicklung wirkt sich bereits heute auf die Bereitschaft von Menschen aus, diese Verantwortung tatsächlich anzunehmen. Schon heute setzen daher professionelle Aufsichtsräte auf die Unterstützung von CorpTech bei der Informationsgewinnung, -auswertung und Überwachung. Diese Technologie kann Aufsichtsräten helfen, Optionen und Risiken gewahr zu werden, menschliche Fehler weitgehend zu vermeiden und kognitive Nachteile auszugleichen. Auch eine der Kernaufgaben des Aufsichtsrats, die Auswahl von neuen Vorständen, kann CorpTech durch die Messung der Performance von Kandidaten bereits heute weitgehend unterstützen. Dies alles ermöglicht dem Aufsichtsrat, seine begrenzten Kapazitäten effizient auf strategische Themen zu fokussieren, anstatt Key Performance Indicators (KPI's) zu prüfen und Namenslisten durchzugehen, was die Tätigkeit auch weniger haftungsintensiv und eintönig gestaltet. Die Folge ist, dass wir zunehmend Business- und Branchenexperten in Aufsichtsgremien benötigen und weniger Finanzfachleute. Diese Gewissheit ist allerdings bis heute nicht beim deutschen Gesetzgeber angelangt. So wirkt es wie aus der Zeit gefallen, dass das gesetzliche Erfordernis eines Financial Experts in das Aktiengesetz (§ 100 Abs. 5 AktG) aufgenommen wurde. Eine Funktion, die zwar gut gemeint war, aber durch kurzfristiges Denken und die enormen technologischen Fortschritte inzwischen schlicht überholt ist.

Dennoch soll nicht der Eindruck erweckt werden, in der CorpTech läge die Lösung aller derzeitigen Corporate-Governance-Probleme. Auch hier haben wir es mit fundamentalen Problemen zu tun, die schwer in den Griff zu bekommen sind (Training, Musterqualität, Conflicted Coding, Kreativität, Ethik etc.). Nach wie vor verlangt die Überwachung des Vorstands eine gewisse themenbezogene Einarbeitung und Auseinandersetzung, nicht nur in die Strategie, sondern auch in die organisatorischen Besonderheiten des jeweiligen Unternehmens. Aber zunehmend werden zentrale Aufgaben des Aufsichtsrats von CorpTech erledigt. In der nahen Zukunft wird sich diese Entwicklung noch beschleunigen: Ein Großteil der Unternehmenskontrolle wird durch moderne Informationstechnologie in Echtzeit erfolgen können, gleiches gilt für das Accounting, was zu einer wesentlichen Steigerung der Transparenz zugunsten der Aktionäre führen wird und diese aus ihrer jetzt noch lethargischen Überwachungsposition befreit.

Wenn Technologie die Unternehmensführung und -kontrolle so fundamental umgestaltet werden, dürfen wir folgerichtig nicht mehr von klassischer Corporate Governance sprechen, sondern von New Corporate Governance.

Prof. Dr. Daniel Graewe, LL.M., ist Rechtsanwalt und Direktor des Instituts für angewandtes Wirtschaftsrecht an der Nordakademie Hochschule der Wirtschaft in Hamburg. Er arbeitet schwerpunktmäßig im Bürgerlichen Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht einschließlich M&A und im Recht der Non-Profit-Organisationen.

 
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