Die KapMuG-Reform: Der Elefant im Porzellanladen?
§ 10 Abs. 2 KapMuG-RegE – Sargnagel für das deutsche Kapitalanlegermusterverfahren?
Musterfeststellungsklage und Verbandsklage – die Instrumente für (neue) Massenverfahren des kollektiven Rechtsschutzes in Deutschland waren und sind in den letzten Jahren in aller Munde. Die deutsche Justiz, welche im Bereich der Commercial Litigation über sinkende Fallzahlen klagt und gegen die Sorge, in Europa nicht (mehr) wettbewerbsfähig zu sein, englischsprachige staatliche Verfahren und Schiedsverfahren ins Leben ruft (siehe hierzu zuletzt Umbeck, Die Erste Seite, BB Heft 11/2024), wendet sich gleichzeitig an anderer Stelle mit massiven Hilferufen an die Öffentlichkeit und den Gesetzgeber. Die Welle an Reklamationen, welche im Zusammenhang mit dem sog. “Abgas-Skandal” bei Dieselmotoren von den deutschen Gerichten zu bewältigen war und ist, ist mehr als nur herausfordernd; das OLG Stuttgart hat deswegen erstmals in der Geschichte der deutschen Justiz ein auf Künstlicher Intelligenz basierendes Assistenzsystem eingeführt.
Der im Hinblick auf die Anzahl der Geschädigten und die enorme Summe der erlittenen Schäden wohl größte Fall der deutschen Rechtsgeschichte, welcher gleichzeitig sämtliche öffentlichkeitswirksame Bestandteile eines Wirtschaftskrimis in sich vereint, fällt dagegen mit dem Großteil der erhobenen Ansprüche in einen Bereich des kollektiven Rechtschutzes, welcher in Deutschland seit fast 20 Jahren in Kraft ist; die Rede ist vom deutschen Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG), erstmals anwendbar seit 2005. Dieses wurde in der Folgezeit wiederholt reformiert und ist im Bereich der Haftung für Fehlinformation bei Kapitalanlagen “alternativlos”, so das Bundesministerium der Justiz (BMJ).
Dessen Schwächen liegen aber auf der Hand: Der erste in besagtem Wirtschaftskrimi von Tilp auf seiner Website veröffentlichte Musterverfahrensantrag datiert sogar noch unmittelbar vor dem öffentlichkeitswirksamen Zusammenbruch des “Houses of Wirecard” im Jahr 2020. Bis auf diesen Antrag hin ein Vorlagebeschluss zum Bayerischen Obersten Landesgericht (BayObLG) erlassen wurde, vergingen fast zwei Jahre. Mehr als ein weiteres Jahr verstrich bis in diesem Verfahren ein Musterkläger bestellt wurde. Ein erster Termin zur mündlichen Verhandlung ist für die zweite Jahreshälfte 2024 avisiert. Ist die Verfahrensdauer den Gerichten anzulasten? Mitnichten! Verantwortlich ist die Komplexität der Angelegenheit und das zivilprozessuale Instrument, das KapMuG; alle bisherigen Änderungen haben dessen Hauptproblem, die überlange Verfahrensdauer, nicht lösen können.
Nunmehr hat das BMJ, wie der PM Nr. 24/2024 vom 13.3.2024 zu entnehmen ist, einen erneuten Versuch unternommen (so wörtlich), “schnellere Musterverfahren bei Anlegerschäden” zu ermöglichen. Die vorgeschlagenen Therapien: Verkürzung gesetzlicher Fristen, Formulierung der Feststellungsziele für das Musterverfahren durch das OLG und Parallelität von weiterhin zu führenden Einzelklagen einerseits, dem daneben laufenden Musterverfahren andererseits.
In der PM heißt es, wie folgt: “Die häufig hohe Zahl der Verfahrensbeteiligten in Musterverfahren soll reduziert werden. Deshalb sollen künftig nicht mehr automatisch alle Einzelklagen, die den Gegenstand des Musterverfahrens betreffen, in dieses hineingedrängt werden. Wollen Parteien nicht am Musterverfahren teilnehmen, sollen sie den Rechtstreit künftig unabhängig als Individualverfahren führen können.” Dies regelt nunmehr § 10 Abs. 2 des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung KapMuG-RegE, Stand 13.3.2024.
Gerade dieser Vorschlag könnte – wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen – ungewollt eine zerstörerische Kraft auf sämtliche kunstvolle Details haben, die in den vergangenen 20 Jahren gerade für die Einführung eines kollektiven Rechtschutzes im Bereich der Haftung bei Kapitalanlagen sprachen. Die Entlastung der deutschen Gerichte sollte gerade dadurch stattfinden, dass vorgreifliche Einzelfragen, welche für eine Vielzahl von Rechtstreitigkeiten entscheidungsrelevant sind, nicht etwa an verschiedensten Gerichtsstandorten in Deutschland jeweils individuell durch drei Instanzen bis hin zum BGH entschieden werden (verbunden mit der Gefahr, widerstreitende Entscheidungen der jeweils mit dem Fall befassten Gerichte hervorzubringen). Die verbindliche Konzentration dieser zentralen vorgreiflichen Fragen in einem einzigen Verfahren, welches vor einem OLG geführt wird und als einzige Kontrollinstanz den BGH hat, war und ist bis heute das Herzstück des deutschen KapMuG.
Würde das Gesetz dieses zentralen Elements beraubt, sind zwei Dinge höchstwahrscheinlich: Das Verfahren verliert einerseits die Attraktivität für viele Beteiligten, da in erster Linie “Trittbrettfahrer” ohne eigene Mühen und Kosten den Weg über das schwerfällige Musterverfahren um einen zu bestimmenden Musterkläger wählen werden, während der Großteil der Anspruchsteller künftig sein Heil in einem schnelleren isolierten Verfahren “auf eigene Gefahr”, aber auch mit eigenen Chancen suchen wird. Es würde aber auch die Realisierung des Grundgedankens des kollektiven Rechtschutzes per se verhindert: Die ursprünglich intendierte Entlastung der deutschen Gerichte durch die zentrale und verbindliche Beantwortung wesentlicher Rechtsfragen in einem einzigen Verfahren und die damit einhergehende Sicherstellung der Gerechtigkeit durch die Vorgreiflichkeit dieser Entscheidung für sämtliche mit der Angelegenheit befasste Gerichte. Sollte dieser Gesetzesvorschlag in § 10 Abs. 2 KapMuG-RegE in die Realität umgesetzt werden, könnte dies zum Sargnagel für das deutsche Kapitalanlegermusterverfahren werden.
Dr. Michael Zoller, RA/FAStR, ist Partner und Leiter der Praxisgruppen Bank- und Kapitalmarktrecht sowie Litigation und Arbitration bei LUTZ|ABEL Rechtsanwalts PartG mbB München. Er berät und vertritt seit mehr als 25 Jahren Banken, Vermögensverwalter und Berufsträger bei der Anspruchsabwehr insbesondere gegen Kapitalanleger und ist Autor des in der 4. Auflage erschienenen Werkes “Die Haftung bei Kapitalanlagen”.