Die 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich: Auslöser einer massenweisen Tarifflucht?
Bei einem Verbandsaustritt oder einem Wechsel in die OT-Mitgliedschaft ist das Timing entscheidend.
Die IG Metall hat eine Kampfansage an die Arbeitgeber der Stahlindustrie gemacht: Sie setzt die 4-Tage-Woche auf die Agenda. Hierbei soll die Wochenarbeitszeit von 35 auf 32 Stunden verkürzt werden – bei vollem Lohnausgleich.
So äußerte sich Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall Nordrhein-Westfalen. Ein entsprechender Beschluss der Tarifkommission für die Stahl-Tarifrunde Ende 2023 steht noch aus. Sollte die IG Metall Nordrhein-Westfalen eine solche Tarifforderung beschließen, dürfte das Signalwirkung haben: Es handelt sich um den mit ca. 476 000 Mitgliedern größten Bezirk der Gewerkschaft, dessen Tarifabschlüsse regelmäßig von weiteren Bezirken übernommen werden.
Die Signalwirkung könnte aber noch weiterreichen und auch die Metall- und Elektroindustrie erfassen, wo die nächste Tarifrunde im Spätsommer 2024 ansteht.
Mit ihrem Ansinnen will die IG Metall die Lebensqualität der Arbeitnehmer verbessern und strukturwandelbedingte Arbeitsplatzverluste verhindern. Die IG Metall verweist auf andere Länder und Branchen, in welchen kürzere Arbeitszeiten zu höherer Produktivität, Innovation und Motivation geführt und damit auch den Arbeitgebern genutzt hätten. Die Arbeitgeber warnen dagegen vor einem massiven Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich führe zu einer massiven Lohnkostensteigerung, die nicht finanzierbar sei. Die Arbeitgeberseite befürchtet auch, dass Flexibilität und Leistungsfähigkeit der Betriebe eingeschränkt würden, während die Unternehmen auf diese angewiesen seien, um auf dem Markt zu bestehen.
Gewerkschaftliche Bestrebungen nach verkürzter Arbeitszeit sind nicht neu: In den 1950er Jahren wurde die 40-Stunden-Woche gefordert, in den 1980er Jahren die 35-Stunden-Woche. Damals ging es vor allem um die Verteilung von Arbeit und die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Heute ist die Lage eine andere. So wird konstatiert, dass die Forderung zur Unzeit komme: Der Arbeitsmarkt ist nicht von Arbeitslosigkeit geprägt, sondern von Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass im nächsten Jahrzehnt ca. ein Drittel der Erwerbstätigen in Rente geht. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen müssen andere bewerten. Jedenfalls aber wird die Forderung Auswirkungen auf die Tariflandschaft haben: Ein Großteil der Arbeitgeber lehnt sie kategorisch ab.
Welche Handlungsoptionen haben Arbeitgeber?
Zunächst kann sich ein Arbeitgeber dafür einsetzen, dass sein regionaler Arbeitgeberverband der Tarifforderung widersteht, es also nicht zu einem derartigen Tarifabschluss kommt.
Viele Arbeitgeber werden sich aber nicht auf die Widerstandsfähigkeit ihres Verbands verlassen, sondern einen Verbandsaustritt oder einen Wechsel in die OT-Mitgliedschaft erwägen. Nach § 3 Abs. 1 TVG sind Tarifverträge, die der Arbeitgeberverband für seine Mitglieder abschließt, für diese bindend. Die Tarifbindung ist also an die Mitgliedschaft geknüpft. § 3 Abs. 3 TVG begründet aber eine Nachbindung. Danach gelten Tarifverträge, die für einen Arbeitgeber bei dessen Verbandsaustritt gelten, für diesen fort bis der Tarifvertrag endet. Daran schließt sich die Nachwirkung an, § 4 Abs. 5 TVG. Tarifabschlüsse die erst nach dem Verbandsaustritt erfolgen, binden einen Arbeitgeber dagegen grundsätzlich nicht. Entsprechendes gilt für den Wechsel in die OT-Mitgliedschaft.
Beabsichtigen Arbeitgeber einen Verbandsaustritt oder einen Wechsel in die OT-Mitgliedschaft, ist also das Timing entscheidend.
Ein Verbandsaustritt oder Statuswechsel kann Arbeitgeber nur vor den Rechtsfolgen eines Tarifabschlusses bewahren, wenn dieser vor Tarifabschluss wirksam wird.
In der Regel erfolgt ein Austritt durch ordentliche Kündigung der Mitgliedschaft. Eine außerordentliche, fristlose Kündigung ist nur möglich, wenn die Verbandssatzung sie vorsieht oder ein wichtiger Grund vorliegt. Die Vermeidung der Bindung an einen bevorstehenden Tarifabschluss begründet in der Regel keinen wichtigen Grund. Denkbar ist allerdings auch ein Aufhebungsvertrag mit sofortiger Wirkung (sog. Blitzaustritt, BAG, 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, BB 2012, 2441). Die Satzungen der Arbeitgeberverbände in der Stahlindustrie sehen teils Kündigungsfristen von sechs Monaten vor, teils zu Stichtagen, etwa zum Kalenderhalbjahresende.
Erfolgt der Austritt oder Statuswechsel während laufender Tarifverhandlungen, ist dies der Gewerkschaft anzuzeigen; andernfalls ist der Vorgang tarif- und arbeitskampfrechtlich unbeachtlich (BAG, 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, BB-Entscheidungsreport Beeken, BB 2010, 1799; BAG, 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, BAGE 142, 98–115 Ls.). Ohne eine Anzeige tritt also eine Bindung an den Tarifvertrag ein, der Gegenstand der Verhandlungen zur Zeit des Statuswechsels gewesen ist (BAG, 21.11.2012 – 4 AZR 27/11, NZA-RR 2014, 545). Der Arbeitgeber kann auch Ziel von verbandsbezogenen Arbeitskämpfen werden, als wäre der Statuswechsel nicht erfolgt. Gleiches gilt für den Verbandsaustritt.
Arbeitgeber können aber auch nach erfolgter Anzeige Ziel von Arbeitskämpfen werden. Erstens kann die Gewerkschaft sich um die kampfweise Durchsetzung eines entsprechenden Haustarifvertrages bemühen. Zweitens ist nicht auszuschließen, dass gerade “tariffliehende” Arbeitgeber mit Unterstützungsstreiks überzogen werden. Deren Rechtmäßigkeit ist im Einzelfall genau zu prüfen.
Enthalten Arbeitsverträge Bezugnahmeklauseln, ist die Reichweite einer etwaigen Dynamik zu ermitteln. Besteht ein Haustarifvertrag, der Verbandstarifverträge zur Anwendung bringt (Anerkennungstarifvertrag), ist zu prüfen, wie weit eine etwaige Dynamik der Anerkennung reicht. Hier kann die Kündigung des Haustarifvertrags in Betracht gezogen werden, um die Dynamik zu beenden (BAG, 22.3.2017 – 4 AZR 462/16, BB 2017, 1011 Ls.).
Ausblick: Ob es wirklich zur Durchsetzung einer 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich kommen wird, bleibt abzuwarten. Fest steht jedenfalls, dass Arbeitgeber sich möglichst frühzeitig mit den damit verbundenen Folgen und etwaigen Handlungsmöglichkeiten befassen sollten.
Thomas Ubber, RA/FAArbR, Partner bei Allen & Overy LLP (Frankfurt), ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und verfügt über langjährige Erfahrungen in allen Bereichen des Arbeitsrechts. Er berät Unternehmen insbesondere auf den Gebieten des Tarif- und Arbeitskampfrechts.