FG Münster: Überlassung eines Leiharbeitnehmers an einen Kunden für die gesamte Dauer des Dienstverhältnisses regelmäßige Arbeitsstätte?
FG Münster, Urteil vom 11.10.2011 - 13 K 456/10
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die Absetzbarkeit von Fahrtkosten als Werbungskosten.
Der Kläger war bei der "B. GmbH ............." (nachfolgend B.) als Leiharbeitnehmer tätig. Die Gesellschaft ist auf Grund einer Verfügung der Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion ..................., im Besitz einer unbefristeten Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Überlassung von Arbeitnehmern an Dritte. Das Arbeitsverhältnis begann mit Vertrag vom 31. Oktober 2007 und war zunächst auf den 29. Februar 2008 befristet. Es sollte mit Ablauf dieses Datums enden, ohne dass es einer Kündigung bedurfte. Ein bestimmter Einsatzort oder die Zuordnung zu einem bestimmten Entleiher ist in dem Vertrag nicht geregelt. Vielmehr ist unter Nr. 2 des Vertrages ausdrücklich bestimmt, dass der Arbeitnehmer im gesamten Bundesgebiet eingesetzt werden kann.
In einer Zusatzvereinbarung vom gleichen Tage heißt es unter anderem: " Für den Einsatz als gewerblicher Helfer bei der I. M. System Gruppe erfolgt Ihre Eingruppierung in die Entgeltgruppe EG.... Die einsatzbezogenen Entgeltbestandteile werden nur während Ihres Einsatzes bei dem derzeitigen Kunden bezahlt." Danach folgen Ausführungen zur Beantragung von Arbeitslosengeld.
Mit Vertrag vom 25. Februar 2008 wurde das Arbeitsverhältnis bis zum 31. Juli 2008 verlängert. Am 3. Juli 2008 erfolgte eine weitere Verlängerung bis zum 31. Oktober 2008. Am 28. Oktober 2008 wurde das Arbeitsverhältnis letztmalig bis zum 18. Januar 2009 verlängert. Während der gesamten Zeit war der Kläger bei dem gleichen Entleiher eingesetzt. Im Rahmen der Einkommensteuererklärung für das Jahr 2008 machte der Kläger Mehraufwendungen für Verpflegung für 230 Arbeitstage à 6 EUR in einer Gesamthöhe von 1.380 EUR geltend. Hinsichtlich der Fahrtkosten gab er die Anzahl der Arbeitstage mit 230 und die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit 35 km an.
Mit Einkommensteuerbescheid vom 7. Juli 2009 setzte der Beklagte die Einkommensteuer auf ...... EUR fest. Die geltend gemachten Mehraufwendungen für Verpflegung berücksichtigte er nicht, weil eine beruflich veranlasste Auswärtstätigkeit nicht nachgewiesen worden sei. Die Aufwendungen für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte setzte er nach § 9 Abs. 2 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit 0,30 EUR pro Entfernungskilometer an.
Hiergegen legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein, den er jedoch nicht begründete. Den Einspruch wies der Beklagte mit Entscheidung vom 4. Januar 2010 zurück. Zur Begründung führte er aus, dass der Kläger die steuermindernden Tatsachen nicht dargelegt und glaubhaft gemacht habe.
Mit der fristgerecht erhobenen Klage beantragt der Kläger nunmehr, Fahrtkosten mit den tatsächlichen Aufwendungen in Höhe von 0,30 EUR pro gefahrenen Kilometer zu berücksichtigen. Zur Begründung legte er die abgeschlossenen Arbeitsverträge vor.
Der Kläger beantragt -sinngemäß-,
den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 vom 7. Juli 2009 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 4. Januar 2010 dahingehend abzuändern, dass weitere 2.415 EUR Fahrtkosten berücksichtigt werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung macht er geltend, dass der Kläger zwar als Leiharbeiter tätig gewesen sei, jedoch während der gesamten Tätigkeit für die B. bei der I. M.-Systeme in Q. tätig gewesen sei. Die Vertragsverlängerungen seien jeweils für eine Tätigkeit bei dieser Gesellschaft erfolgt. Gemäß dem BMF-Schreiben vom 21.12.2009 - IV C 5-S 2353/08/10010 - BStBl I 2010, 21 habe der Arbeitnehmer seine regelmäßige Arbeitsstätte in einer außerbetrieblichen Einrichtung, wenn dieser von einem Arbeitnehmerverleiher (Arbeitgeber) - wie vorliegend - für die gesamte Dauer seines Arbeitsverhältnisses dem Entleiher zur Tätigkeit in dessen betrieblichen Einrichtungen überlassen werde. In diesem Fall könne nicht von einer Auswärtstätigkeit in Form der Tätigkeit an typischerweise ständig wechselnden Tätigkeitsstätten ausgegangen werden. Der Arbeitnehmer müsse nicht damit rechnen, im Rahmen des Arbeitsverhältnisses an wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt zu werden. Vielmehr sei er dauerhaft an einer regelmäßigen (wenn auch außerbetrieblichen) Arbeitsstätte tätig. Ein Abzug der tatsächlichen Kfz-Kosten pro gefahrenen Kilometer und nicht - wie bereits berücksichtigt - pro Entfernungskilometer komme daher nicht in Betracht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Steuerakten des Beklagten.
Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert. Im Rahmen des Erörterungstermins haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Aus den Gründen
Die zulässige Klage, über die der Senat nach § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.
Der angegriffene Steuerbescheid für das Jahr 2007 vom 7. Juli 2009 und die Einspruchsentscheidung vom 4. Januar 2010 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Die vom Kläger geltend gemachten Fahrtkosten sind als Werbungskosten im Sinne des § 9 Abs.1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen. Nach dieser Vorschrift sind Werbungskosten alle Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Zu diesen gehören auch die Fahrtkosten zur Tätigkeitsstätte. Handelt es sich bei der Tätigkeitsstätte jedoch um eine regelmäßige Arbeitsstätte, sind die abzugsfähigen Aufwendungen durch § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG - wovon der Beklagte hier ausgegangen ist - auf einen Betrag von 0,30 pro Entfernungskilometer der Strecke zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte begrenzt.
Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Berücksichtigung der tatsächlichen Fahrtkosten - hier mangels Einzelnachweises der Kosten in Höhe der Pauschale von 0,30 EUR nach H 38 der Lohnsteuerrichtlinien 2008. Die Begrenzung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG greift vorliegend nicht ein, da der Kläger nicht über eine regelmäßige Arbeitsstätte verfügt. Regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist jeweils jede dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nachhaltig, fortdauernd und immer wieder aufsucht. Das ist regelmäßig im Betrieb des Arbeitgebers oder im Zweigbetrieb der Fall (vgl. Bundesfinanzhof [BFH] Urteile vom 18. Dezember 2008 VI R 39/07, BFHE 224, 111, BStBl II 2009, 475; vom 18. Juni 2009 VI R 61/06, BFHE 226, 59, BStBl II 2010, 564; vom 21. Januar 2010 VI R 51/08, BFHE 228, 85), nicht aber bei der Tätigkeitsstätte in einer betrieblichen Einrichtung des Kunden des Arbeitgebers (BFH-Urteile vom 10. Juli 2008 VI R 21/07, BFHE 222, 391, BStBl II 2009, 818; vom 9. Juli 2009 VI R 21/08, BFHE 225, 449, BStBl II 2009, 822).
Regelmäßige Arbeitsstätten im vorgenannten Sinne sind dadurch gekennzeichnet, dass sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten etwa durch die Bildung von Fahrgemeinschaften, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und gegebenenfalls sogar durch die entsprechende Wohnsitznahme hinwirken kann. Für diesen Fall erweist sich die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG als sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip (vgl. BFH-Urteile vom 11. Mai 2005 VI R 25/04, BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791; vom 10. Juli 2008 VI R 21, 02, BFHE 222, 391, BStBl II 2010, 564; vom 18. Dezember 2008 VI R 39/07, BFHE 224, 111, BStBl II 2009, 475, ).
Auf Grundlage der gesetzlich angelegten und in der vorgenannten Weise gerechtfertigten Zweiteilung der Berücksichtigung von Erwerbsaufwendungen unterscheiden sich Fahrten zur regelmäßigen Arbeitsstätte von Fahrten im Rahmen einer Auswärtstätigkeit nach der zitierten Rechtsprechung des BFH nicht danach, ob der Arbeitnehmer aus einer ex post-Betrachtung tatsächlich an einem bestimmten Ort für längere Zeit tätig gewesen war, sondern danach, ob sich der Arbeitnehmer zu Beginn der jeweiligen Tätigkeit ("ex ante") darauf hatte einrichten können, dort dauerhaft tätig zu sein. Daher ist eine Tätigkeitsstätte beim Kunden des Arbeitgebers regelmäßig keine regelmäßige Arbeitsstätte. Denn selbst dann, wenn der Arbeitnehmer jahrelang bei einem bestimmten Kunden seines Arbeitgebers tätig gewesen sein sollte, hatte sich der Arbeitnehmer darauf typischerweise nicht einstellen können (BFH-Urteil vom 17.06.2010 VI R 35/08 BStBl II 2010, 852; BFHE 230, 147).
Unter Zugrundelegung dieser Betrachtungsweise fehlte es im Rahmen der Tätigkeit des Klägers an einer regelmäßigen Arbeitsstätte. Denn der Kläger ging seiner beruflichen Tätigkeit nicht in einer betrieblichen Einrichtung seines Arbeitgebers, sondern nur in der eines Kunden (Entleiher) seines Arbeitgebers nach. Er war auch - zumindest rechtlich - nicht nur für diesen einen Kunden eingestellt. Denn in den von der B. mit dem Kläger geschlossenen Arbeitsverträgen war der Kläger eben gerade nicht einem Entleiher fest zugeordnet. Vielmehr war dort ausdrücklich eine Einsatzmöglichkeit des Klägers im gesamten Bundesgebiet - auch bei anderen Entleihern - geregelt. Hieran ändert auch die im Tatbestand dargestellte Zusatzvereinbarung vom 31. Oktober 2007 nichts. Denn dort ist lediglich eine abweichende Entgeltregelung für die Dauer der Beschäftigung des Klägers bei der I. M. System Gruppe festgelegt. Die Vereinbarung enthält keinen Hinweis auf die Dauer der Tätigkeit des Klägers bei der I. M. System Gruppe. Vielmehr ist dort sogar ausdrücklich festgehalten, dass bestimmte Entgeltbestandteile nur gezahlt werden, solange der Kläger bei diesem Entleiher beschäftigt ist. Damit hatten die Vertragsbeteiligten die Möglichkeit eines anderweitigen Einsatzes des Klägers offensichtlich in ihre Überlegungen eingestellt.
Darauf, dass der Kläger letztlich für die gesamte Dauer seines Arbeitsverhältnisses mit der B. bei dem gleichen Entleiher und auch immer in der gleichen Tätigkeitsstätte eingesetzt worden ist, kommt es nicht an. Denn nach der zitierten Rechtsprechung sind Abzugsbeschränkungen für Wegekosten (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) im Hinblick auf das objektive Nettoprinzip nur gerechtfertigt, wenn sich der Arbeitnehmer zu Beginn seiner jeweiligen Tätigkeit darauf hat einstellen können, dort dauerhaft tätig sein zu können (vgl.: Winfried Bergkemper, jurisPR-SteuerR 45/2010 Anm. 2). Nach dieser gebotenen ex ante Betrachtung konnte der Kläger sich als Leiharbeitnehmer aber eben nicht darauf einrichten, immer wieder und auf Dauer bei dem gleichen Kunden eingesetzt zu werden. Zwar war er - im nachhinein betrachtet - stets bei dem gleichen Kunden seines Arbeitgebers tätig. Dies war aber letztlich von der konkreten Ausgestaltung und der Dauer der jeweiligen vertraglichen Beziehung zwischen dem Arbeitgeber und dessen Kunden abhängig und damit seinem Einfluss weitgehend entzogen. Dies wird auch daran deutlich, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers, welches nach der Begründung mit Vertrag vom 31. Oktober 2007 dreimal verlängert wurde, schließlich im Januar 2009 endete.
Der Senat folgt nicht der Rechtsansicht des Beklagten, die dieser aus dem BMF- Schreiben vom 21.12.2009 - IV C 5-S 2353/08/10010 - BStBl I 2010, 21 ableitet. Dort wird unter Nr. 2 des Schreibens die Auffassung vertreten, dass bei dem Entleiher dann eine regelmäßige Arbeitsstätte entsteht, wenn ein Arbeitnehmer von einem Arbeitnehmerverleiher (Arbeitgeber) für die gesamte Dauer seines Arbeitsverhältnisses zum Verleiher entweder dem Entleiher (zur Tätigkeit in dessen betrieblicher Einrichtung) überlassen oder mit dem Ziel der späteren Anstellung beim Entleiher (Kunden) eingestellt wird. In diesen Fällen könne nicht von einer Auswärtstätigkeit in Form der Tätigkeit an typischerweise ständig wechselnden Tätigkeitsstätten ausgegangen werden; der Arbeitnehmer müsse in solchen Fällen nicht damit rechnen, im Rahmen des Arbeitsverhältnisses an wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt zu werden. Vielmehr werde er in diesem Fall dauerhaft an einer regelmäßigen (wenn auch außerbetrieblichen) Arbeitsstätte tätig.
Zum Einen hat das Gericht schon Zweifel, ob das Schreiben die hier vorliegende Fallkonstellation überhaupt erfassen soll. Zwar heißt es unter Nr. 2 - wie dargestellt - "dem Entleiher (zur Tätigkeit in dessen betrieblicher Einrichtung) überlassen". Allerdings konkretisiert das Fallbeispiel 3. des Schreibens den Anwendungsbereich dahingehend, dass ein Arbeitnehmer ausschließlich für die Überlassung an die (Bau)Firma eingestellt wird und das Arbeitsverhältnis vertragsgemäß nach Abschluss eines bestimmten (Bau) Vorhabens endet. Unter diese Variante ließe sich der vorliegende Fall mangels abweichender Gestaltung des Arbeitsvertrages nicht einordnen.
Wenn das BMFSchreiben dahin zu verstehen wäre, dass es - unabhängig von der arbeitsvertraglichen Regelung - ausschließlich auf die tatsächlich andauernde Überlassung des Arbeitnehmers an den gleichen Kunden ankommen soll, könnte der Senat dieser Betrachtungsweise nicht folgen. Denn diese Rechtsansicht wäre mit dem bereits dargestellten Grundsatz der "ex ante Betrachtung" nicht zu vereinbaren.
Die Revision wird nach § 116 Abs. 2 Nr. 2 zugelassen, weil sie der Fortbildung des Rechts dienlich ist. Denn der BFH hat mit Urteil vom 17.06.2010 VI R 35/08 (betreffend Verpflegungsmehraufwand), BStBl II 2010, 852 die Frage, ob in einem Fall der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an einen Kunden für die gesamte Dauer des Dienstverhältnisses eine regelmäßige Arbeitsstätte entsteht, ausdrücklich offen gelassen. Daher gibt der vorliegende Fall Veranlassung, dem BFH Gelegenheit zu geben, diese offene, eine Vielzahl von Steuerpflichtigen betreffende Rechtsfrage zu klären.
Die Berechnung der festzusetzenden Steuer wird dem Beklagten nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO übertragen.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 135 FGO.
Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.