EuGH: Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 Richtlinie 2011/16/EU –– Informationsersuchen
EuGH, Urteil vom 25.11.2021 – C-437/19; État luxembourgeois gegen L
ECLI:EU:C:2021:953
Volltext BB-Online BBL2021-2901-1
Tenor
1. Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG sind dahin auszulegen, dass sich ein Auskunftsersuchen auf Informationen bezieht, die nicht offenkundig voraussichtlich unerheblich sind, wenn die Personen, denen eine Kontrolle oder Ermittlung im Sinne der letztgenannten Vorschrift gilt, in diesem Ersuchen zwar nicht namentlich und individuell bezeichnet sind, die ersuchende Behörde aber auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegt, dass sie eine gezielte, eine beschränkte Personengruppe betreffende Untersuchung durchführt, die durch einen begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist.
2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine Informationen besitzende Person,
– gegen die eine Geldbuße wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung verhängt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen im Rahmen eines Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 angeordnet wurde und die nach dem internen Recht des ersuchten Mitgliedstaats nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbar ist, und
– die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Klage gegen die Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde, inzident in Frage gestellt hat und so im Lauf des diesen Rechtsbehelf betreffenden gerichtlichen Verfahrens Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestinformationen erlangt hat,
nach der endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieser gegen sie ergangenen Entscheidungen die Möglichkeit erhalten muss, der Anordnung zur Übermittlung von Informationen innerhalb der hierfür nach dem nationalen Recht ursprünglich vorgesehenen Frist nachzukommen, ohne dass dies die Aufrechterhaltung der Sanktion zur Folge hat, der sie sich zur Ausübung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aussetzen musste. Erst wenn die betreffende Person dieser Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist nachkommt, wird die verhängte Sanktion fällig.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem luxemburgischen Staat und L, einer Gesellschaft luxemburgischen Rechts, der die Rechtmäßigkeit einer finanziellen Sanktion betrifft, die gegen L verhängt wurde, weil diese sich geweigert hatte, auf ein Ersuchen um Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten in Steuersachen bestimmte Informationen zu übermitteln.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 1, 2 und 6 bis 9 der Richtlinie 2011/16 heißt es:
„(1) Im Zeitalter der Globalisierung wird der Bedarf der Mitgliedstaaten an gegenseitiger Amtshilfe im Bereich der Besteuerung immer vordringlicher. Durch die erhebliche Zunahme der Mobilität der Steuerpflichtigen, der Anzahl der grenzüberschreitenden Transaktionen und der Internationalisierung der Finanzinstrumente wird es für die Mitgliedstaaten immer schwieriger, die geschuldeten Steuern ordnungsgemäß festzusetzen. Diese zunehmende Schwierigkeit wirkt sich auf das Funktionieren der Steuersysteme aus und zieht Doppelbesteuerung nach sich, was wiederum zu Steuerbetrug und Steuerhinterziehung Anlass gibt …
(2) Ein einzelner Mitgliedstaat ist daher nicht in der Lage, sein internes Steuersystem, insbesondere was die direkten Steuern angeht, zu verwalten, ohne Informationen aus anderen Mitgliedstaaten zu erhalten. Um die negativen Auswirkungen dieser Situation zu beseitigen, ist es unumgänglich, eine neue Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten zu entwickeln. Es besteht Bedarf an Instrumenten zur Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedstaaten, die dafür Sorge tragen, dass für alle Mitgliedstaaten dieselben Regeln, Pflichten und Rechte gelten.
…
(6) … Die vorliegende neue Richtlinie wird daher als geeignetes Instrument für eine wirksame Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden angesehen.
(7) Diese Richtlinie baut auf dem durch die Richtlinie 77/799/EWG [des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (ABl. 1977, L 336, S. 15)] Erreichten auf, sieht aber klarere und präzisere Regeln für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten vor, wenn dies erforderlich ist, um, insbesondere was den Austausch von Informationen angeht, den Anwendungsbereich der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden zwischen den Mitgliedstaaten auszudehnen. Klarere Regeln sollten es auch möglich machen, sämtliche juristische und natürliche Personen in der Union zu erfassen, wobei die immer größere Zahl der Arten von Rechtsvereinbarungen, einschließlich, aber nicht nur, klassische Vereinbarungen wie Trusts, Stiftungen oder Investmentfonds wie auch neuartige Vereinbarungen, die Steuerpflichtige in den Mitgliedstaaten schließen können, zu berücksichtigen sind.
(8) … [Es] sollten mehr direkte Kontakte zwischen den Verwaltungsdienststellen vorgesehen werden, um die Zusammenarbeit effizienter zu machen und sie zu beschleunigen. …
(9) Mitgliedstaaten sollten Informationen über einzelne Fälle austauschen, wenn sie von einem anderen Mitgliedstaat darum ersucht werden, und sollten die notwendigen Ermittlungen durchführen, um die betreffenden Informationen zu beschaffen. Mit dem Standard der ‚voraussichtlichen Erheblichkeit‘ soll gewährleistet werden, dass ein Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten im größtmöglichen Umfang stattfindet, und zugleich klargestellt werden, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, sich an Beweisausforschungen (‚fishing expeditions‘) zu beteiligen oder um Informationen zu ersuchen, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie für die Steuerangelegenheiten eines bestimmten Steuerpflichtigen erheblich sind. Zwar enthält Artikel 20 dieser Richtlinie Verfahrensvorschriften, aber diese müssen großzügig ausgelegt werden, damit der effiziente Informationsaustausch nicht vereitelt wird.“
4 Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 lautet:
„Diese Richtlinie legt die Regeln und Verfahren fest, nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die in Artikel 2 genannten Steuern voraussichtlich erheblich sind.“
5 In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie heißt es:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
11. ‚Person‘
a) eine natürliche Person;
b) eine juristische Person;
c) sofern diese Möglichkeit nach den geltenden Rechtsvorschriften besteht, eine Personenvereinigung, der die Rechtsfähigkeit zuerkannt wurde, die aber nicht über die Rechtsstellung einer juristischen Person verfügt, oder
d) alle anderen Rechtsvereinbarungen gleich welcher Art und Form – mit oder ohne Rechtspersönlichkeit – die Vermögensgegenstände besitzen oder verwalten, welche einschließlich der daraus erzielten Einkünfte einer der von dieser Richtlinie erfassten Steuern unterliegen;
…“
6 Art. 5 („Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen“) der Richtlinie 2011/16 sieht vor:
„Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde alle in Artikel 1 Absatz 1 genannten Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“
7 Art. 20 („Standardformblätter und elektronische Formate“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Ersuchen um Informationen und behördliche Ermittlungen gemäß Artikel 5 sowie die entsprechenden Antworten, Empfangsbestätigungen, Ersuchen um zusätzliche Hintergrundinformationen und Mitteilungen über das Unvermögen zur oder die Ablehnung der Erfüllung des Ersuchens gemäß Artikel 7 werden soweit möglich mit Hilfe eines Standardformblatts übermittelt, das die Kommission nach dem Verfahren gemäß Artikel 26 Absatz 2 annimmt.
Dem Standardformblatt können Berichte, Bescheinigungen und andere Schriftstücke oder beglaubigte Kopien von Schriftstücken oder Auszüge daraus beigefügt werden.
(2) Das Standardformblatt nach Absatz 1 beinhaltet zumindest die folgenden Informationen, die von der ersuchenden Behörde zu übermitteln sind:
a) die Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt;
b) der steuerliche Zweck, zu dem die Informationen beantragt werden.
Die ersuchende Behörde kann – soweit bekannt und im Einklang mit den Entwicklungen auf internationaler Ebene – Name und Anschrift jeder Person, von der angenommen wird, dass sie über die gewünschten Informationen verfügt, wie auch jede Angabe übermitteln, welche die Beschaffung von Informationen durch die ersuchte Behörde erleichtern könnte.
…“
Luxemburgisches Recht
Gesetz vom 29. März 2013
8 Art. 6 des Gesetzes vom 29. März 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16 und 1. zur Änderung des allgemeinen Steuergesetzes und 2. zur Aufhebung des geänderten Gesetzes vom 15. März 1979 über die internationale Amtshilfe im Bereich der direkten Steuern (Mémorial A 2013, S. 756) sieht vor:
„Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte luxemburgische Behörde ihr alle für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Mitgliedstaats über die … Steuern voraussichtlich erheblichen Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“
Gesetz vom 25. November 2014
9 Das Gesetz vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren sowie zur Änderung des Gesetzes vom 31. März 2010 über die Genehmigung der Besteuerungsübereinkünfte und über das darauf anzuwendende Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen (Mémorial A 2014, S. 4170, im Folgenden: Gesetz vom 25. November 2014) findet u. a. auf Ersuchen um Informationsaustausch gemäß Art. 6 des in der vorstehenden Randnummer angeführten Gesetzes vom 29. März 2013 Anwendung.
10 In Art. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 heißt es:
„(1) Die Steuerbehörden sind befugt, die zur Durchführung des in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Informationsaustauschs erbetenen Informationen aller Art von demjenigen zu verlangen, der über sie verfügt.
(2) Der Informationsinhaber ist verpflichtet, die verlangten Auskünfte vollständig, genau und unverändert innerhalb eines Monats nach Zustellung der die verlangten Auskünfte anordnenden Entscheidung zu erteilen. Diese Verpflichtung schließt die Übermittlung der unveränderten Schriftstücke ein, auf denen diese Auskünfte beruhen.
…“
11 Art. 3 dieses Gesetzes sah in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung vor:
„(1) Die zuständige Steuerverwaltung prüft die formale Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens um Informationsaustausch. Das Ersuchen um Informationsaustausch ist formal ordnungsgemäß, wenn es die Angabe der rechtlichen Grundlage und der ersuchenden zuständigen Behörde sowie die weiteren in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Angaben enthält.
…
(3) Verfügt die zuständige Steuerverwaltung nicht über die erbetenen Informationen, stellt der Leiter der zuständigen Steuerbehörde oder dessen Vertreter dem Informationsinhaber seine die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnende Entscheidung durch eingeschriebenen Brief zu. …
…“
12 Art. 5 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:
„Werden die verlangten Auskünfte nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung der die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnenden Entscheidung erteilt, kann gegen den Informationsinhaber eine steuerliche Geldbuße von bis zu 250 000 Euro verhängt werden. Ihre Höhe wird vom Leiter der zuständigen Finanzbehörde oder dessen Vertreter festgesetzt.“
13 Art. 6 dieses Gesetzes lautete in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung:
„(1) Gegen die in Art. 3 Abs. 1 und 3 genannten Ersuchen um Informationsaustausch und Anordnungen findet kein Rechtsbehelf statt.
(2) Gegen die in Art. 5 genannten Entscheidungen kann der Informationsinhaber Abänderungsklage vor dem Verwaltungsgericht erheben. Diese Klage ist innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung an den Inhaber der verlangten Informationen zu erheben. Die Klage hat aufschiebende Wirkung. …“
Gesetz vom 1. März 2019
14 Das Gesetz vom 1. März 2019 zur Änderung des Gesetzes vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren (Mémorial A 2019, S. 112, im Folgenden: Gesetz vom 1. März 2019) trat am 9. März 2019 in Kraft.
15 Art. 6 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 in der Fassung des Gesetzes vom 1. März 2019 sieht vor:
„(1) Gegen die in Art. 3 Abs. 3 genannte Anordnung kann der Informationsinhaber Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht erheben. …
(2) Die Klage gegen die in Art. 3 Abs. 3 genannte Anordnung und die in Art. 5 genannte Entscheidung ist innerhalb eines Monats ab Zustellung der Anordnung oder Entscheidung an den Inhaber der erbetenen Informationen zu erheben. Die Klage hat aufschiebende Wirkung. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16 Am 27. April 2017 richtete die französische Steuerverwaltung u. a. auf der Grundlage der Richtlinie 2011/16 ein Informationsersuchen an die luxemburgische Steuerverwaltung (im Folgenden: Informationsersuchen vom 27. April 2017).
17 In diesem Ersuchen war F, eine Immobiliengesellschaft französischen Rechts, als im ersuchenden Staat zu überprüfende juristische Person und L, eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts, als mittelbare Muttergesellschaft von F und zugleich als im ersuchten Staat zu überprüfende juristische Person angegeben. Zum steuerlichen Zweck dieses Ersuchens war darin angegeben, dass F eine Immobilie in Frankreich halte und L ebenfalls unmittelbar eine weitere Immobilie in Frankreich halte. Hierzu war erläutert, dass nach den französischen Rechtsvorschriften natürliche Personen, die in Frankreich belegene Immobilien unmittelbar oder mittelbar hielten, diese anmelden müssten und dass die französische Steuerverwaltung erfahren wolle, wer die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigten von L seien.
18 Am 28. Februar 2018 kam der Directeur de l’administration des contributions directes (Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben, Luxemburg) dem Informationsersuchen vom 27. April 2017 nach, indem er eine Entscheidung an L richtete, mit der er dieser aufgab, bis spätestens 5. April 2018 Informationen zum Zeitraum 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2016 zu übermitteln, die verschiedene Angaben betrafen, nämlich die Namen und Anschriften der Anteilseigner sowie – unabhängig von den zwischengeschalteten Strukturen – der tatsächlichen, direkten und indirekten Begünstigten von L, die Verteilung ihres Kapitals und eine Kopie ihrer Wertpapierregister (im Folgenden: Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018). In dieser Entscheidung wurde darauf hingewiesen, dass gegen sie gemäß Art. 6 des Gesetzes vom 25. November 2014 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung kein Rechtsbehelf statthaft sei.
19 Am 5. April 2018 legte L gegen diese Entscheidung einen verwaltungsinternen förmlichen Rechtsbehelf ein. Mit Bescheid vom 4. Juni 2018 wies der Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben diesen Rechtsbehelf als unzulässig zurück. Eine von L gegen diesen Bescheid erhobene Anfechtungsklage ist gegenwärtig beim Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg) anhängig.
20 Am 6. August 2018 erließ der Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben gegen L eine Entscheidung, in der festgestellt wurde, dass L der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 nicht nachgekommen sei, und daher gemäß Art. 5 des Gesetzes vom 25. November 2014 eine steuerliche Geldbuße gegen L verhängt wurde (im Folgenden: Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018).
21 Mit Klageschrift, die am 5. September 2018 bei der Kanzlei des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) einging, erhob L Klage auf Abänderung, hilfsweise auf Aufhebung dieser Entscheidung.
22 Mit Urteil vom 18. Dezember 2018 hob das Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) die genannte Entscheidung mit der Begründung auf, dass ein Widerspruch zwischen der Bezeichnung des Steuerpflichtigen in der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und den Erläuterungen im Informationsersuchen vom 27. April 2017 hinsichtlich des Zwecks der erbetenen Informationen bestehe und daher weiterhin Zweifel hinsichtlich der Identität des Steuerpflichtigen bestünden, auf den sich dieses Ersuchen beziehe. Nach Ansicht des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) legen diese Erläuterungen nämlich den Schluss nahe, dass die Ermittlungen der französischen Steuerverwaltung nicht F beträfen, die im Informationsersuchen vom 27. April 2017 gleichwohl als die Person bezeichnet worden sei, der diese Ermittlungen gälten, sondern vielmehr die wirtschaftlich begünstigten natürlichen Personen von L, die nach französischem Recht verpflichtet seien, den Besitz in Frankreich belegener Immobilien anzumelden. Aufgrund dieser Ungewissheit über die Identität des Steuerpflichtigen, auf den sich dieses Ersuchen beziehe, sei davon auszugehen, dass den erbetenen Informationen offenkundig die voraussichtliche Erheblichkeit fehle.
23 Mit am 21. Dezember 2018 bei der Kanzlei der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) eingegangenem Schriftsatz legte der luxemburgische Staat gegen dieses Urteil Berufung ein.
24 In ihrer Vorlageentscheidung vertritt die Cour administrative erstens hinsichtlich der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen die Auffassung, dass entgegen der Ansicht des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) kein Widerspruch zwischen der Bezeichnung des Steuerpflichtigen in der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und dem mit dem Informationsersuchen vom 27. April 2017 verfolgten steuerlichen Zweck bestehe.
25 Aus dem gesamten Inhalt dieses Ersuchens ergebe sich nämlich, dass es sich bei F und L um die juristischen Personen handle, die als Gesellschaften, die in Frankreich belegene Immobilien hielten, von der im ersuchenden Staat geführten steuerlichen Ermittlung betroffen seien. In Anbetracht der Anmeldepflichten, denen natürliche Personen, die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigte solcher Gesellschaften seien, nach französischem Recht unterlägen, ist die Cour administrative der Auffassung, dass sich derartige Ermittlungen auch auf die Feststellung der Identität dieser natürlichen Personen erstrecken dürften, wobei die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigten von L nach der hier in Rede stehenden Gesellschaftsstruktur auch wirtschaftlich Begünstigte von F seien. Daraus folge, dass den erbetenen Informationen unter diesem Gesichtspunkt nicht die voraussichtliche Erheblichkeit fehle.
26 Die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) weist jedoch darauf hin, dass das Informationsersuchen vom 27. April 2017 die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigten von L nicht namentlich und individuell bezeichne, sondern sich auf sie als Gruppe von Personen beziehe, die Gegenstand einer globalen Bezeichnung anhand gemeinsamer, von der ersuchenden Behörde abgesteckter Kriterien seien.
27 Gemäß den Vorschriften der Richtlinie 2011/16 in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund (C‑682/15, EU:C:2017:373), sei aber die Bezeichnung des Steuerpflichtigen, dem die Ermittlung im ersuchenden Staat gelte, ein Element, das das Informationsersuchen zwingend enthalten müsse, um die voraussichtliche Erheblichkeit der erbetenen Informationen zu begründen, die ihrerseits eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit eines solchen Ersuchens darstelle.
28 Diese Richtlinie lege zwar den Inhalt dieser Verpflichtung, den von der Ermittlung im ersuchenden Staat betroffenen Steuerpflichtigen zu bezeichnen, nicht näher fest, doch genüge es zur Erfüllung der durch die Richtlinie aufgestellten Anforderung der Identifizierung nicht, dass die Identität dieses Steuerpflichtigen bestimmbar sei. Nach dem gewöhnlichen Wortsinn setze die Identifizierung einer Person nämlich die Angabe von Merkmalen voraus, die ausreichten, um sie zu individualisieren.
29 Daher sei der Begriff „Bezeichnung“ des Steuerpflichtigen im Sinne dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass das Informationsersuchen selbst bereits ausreichende Informationen enthalten müsse, die eine individuelle Identifizierung des oder der von der Ermittlung im ersuchenden Staat betroffenen Steuerpflichtigen ermöglichten, und dass es nicht ausreiche, wenn mit dem Ersuchen lediglich gemeinsame Merkmale übermittelt würden, anhand deren sich eine mehr oder weniger große Gruppe nicht näher bezeichneter Personen bestimmen lasse, mit dem Ziel, gerade die Auskünfte zu erhalten, die erforderlich seien, um diese zu ermitteln.
30 Zwar ergebe sich aus dem Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund (C‑682/15, EU:C:2017:373), dass zur Auslegung dieses Begriffs „Bezeichnung“ auch Art. 26 des Musterabkommens der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Kommentar zu diesem Artikel zu berücksichtigen seien. Dieser Kommentar in der Fassung einer nach dem Erlass der Richtlinie 2011/16 erfolgten Aktualisierung lasse aber die Annahme zu, dass ein Informationsersuchen, das sich auf eine Gruppe von nicht individuell identifizierten Steuerpflichtigen beziehe, gleichwohl die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit erfüllen könne, wenn es sich um eine gezielte, auf die Kontrolle der Einhaltung einer präzisen gesetzlichen Verpflichtung gerichtete Untersuchung in Bezug auf eine begrenzte Gruppe und nicht bloß um eine allgemeine steueraufsichtliche Ermittlung handle.
31 Doch selbst unter der Annahme, dass die schrittweisen Änderungen des genannten Kommentars bei der Auslegung dieser Richtlinie anwendbar und maßgeblich seien, da sie eine Entwicklung in der Auslegung des Standards der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen widerspiegelten, hat die Cour administrative Zweifel daran, dass diese Entwicklung bewirken könne, dass das durch die genannte Richtlinie aufgestellte Erfordernis der individuellen Identifizierung des von der Ermittlung betroffenen Steuerpflichtigen außer Acht zu lassen sei.
32 Zweitens weist die Cour administrative zur Ausübung des Rechts der Informationen besitzenden Person auf einen Rechtsbehelf gegen eine gegen sie erlassene Anordnung, Informationen zu übermitteln, darauf hin, dass L im vorliegenden Fall, da kein direkter Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung vorgesehen sei, Klage gegen die Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 erhoben habe und die Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 in diesem Rahmen inzident anfechte.
33 Insoweit hebt die Cour administrative hervor, dass Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 dieser Klage aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Vollziehung der Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 verleihe, bis eine endgültige gerichtliche Entscheidung über diese Klage ergehe. Sie weist jedoch darauf hin, dass L verpflichtet sei, sowohl die erbetenen Informationen zu übermitteln als auch die Geldbuße zu zahlen, wenn die Rechtmäßigkeit der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und der Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 im Rahmen dieser Klage endgültig festgestellt werden sollte.
34 Dann aber hätte, so die Cour administrative, die Informationsinhaberin erst im Rahmen ihrer Klage gegen die wegen Nichtbeachtung der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, erlassene Geldbußenentscheidung Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 genannten Mindestinformationen bezüglich u. a. des steuerlichen Zwecks des dieser Anordnung zugrunde liegenden Informationsersuchens erhalten. Sie hätte somit zu keinem Zeitpunkt über eine angemessene Frist verfügt, um in voller Kenntnis aller Mindestinformationen darüber zu entscheiden, ob sie der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, nachkommen wolle.
35 Es stelle sich daher die Frage, ob sich aus dem in Art. 47 der Charta verankerten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht ergeben müsse, dass der Informationen besitzenden Person nach einer möglichen endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, und der Entscheidung über die Festsetzung der Geldbuße eine gewisse Frist für die Befolgung der Anordnungsentscheidung gewährt werden sollte und die Geldbuße nur dann fällig werden könne, wenn diese Person der Anordnung nicht fristgerecht nachkomme.
36 Unter diesen Umständen hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen, dass ein von einer Behörde eines ersuchenden Mitgliedstaats gestelltes Ersuchen um Auskunftsaustausch, in dem die Steuerpflichtigen, auf die sich das Ersuchen bezieht, allein anhand ihrer Eigenschaft als Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigte einer juristischen Person bestimmt sind, ohne zuvor von der ersuchenden Behörde individuell namentlich identifiziert worden zu sein, den in dieser Vorschrift aufgestellten Identifizierungserfordernissen entspricht?
2. Bei Bejahung der ersten Frage: Sind Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen, dass die Einhaltung des Standards der voraussichtlichen Erheblichkeit voraussetzt, dass die Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats zum Nachweis darüber, dass trotz des Fehlens einer individuellen Identifizierung der betreffenden Steuerpflichtigen keine Beweisausforschung vorliegt, auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegen kann, dass sie eine gezielte Untersuchung betreffend eine beschränkte Personengruppe und nicht bloß eine einfache allgemeine steueraufsichtliche Ermittlung durchführt und diese Untersuchung durch den begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist?
3. Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass einem Bürger,
– gegen den die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats eine nach dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats selbst nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbare finanzielle Verwaltungssanktion wegen Nichteinhaltung einer behördlichen Entscheidung verhängt hat, mit der ihm aufgegeben wurde, im Rahmen eines Austauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 Informationen zu übermitteln, und der die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer gegen die finanzielle Sanktion gerichteten verwaltungsrechtlichen Klage inzident angefochten und
– erst im Verlauf des auf seine Klage gegen die Sanktion eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens hin Kenntnis von den Mindestinformationen gemäß Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 erhalten hat,
nach der inzident erfolgten endgültigen Anerkennung der Gültigkeit der Anordnungsentscheidung und der Entscheidung über die Festsetzung der Geldbuße, die ihm gegenüber ergangen sind, ein Aufschub für die Zahlung der Geldbuße gewährt werden muss, damit er, nachdem er auf diese Weise Kenntnis von den Einzelheiten in Bezug auf die vom zuständigen Richter endgültig bestätigte voraussichtliche Erheblichkeit erhalten hat, der Anordnungsentscheidung nachkommen kann?
Verfahren vor dem Gerichtshof
37 Durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. Januar 2020 ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bis zur Verkündung des Urteils in den verbundenen Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19, Luxemburgischer Staat (Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen), ausgesetzt worden.
38 Das Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat (Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen) (C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795), ist dem vorlegenden Gericht im vorliegenden Verfahren zugestellt worden, um zu überprüfen, ob es beabsichtigt, sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten. Mit Schreiben vom 16. November 2020, das am 17. November 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es dieses Ersuchen aufrechterhalten wolle. Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. November 2020 ist daher die Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens beschlossen worden.
39 Am 2. Februar 2021 sind die Parteien des Ausgangsverfahrens und die übrigen in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Beteiligten gemäß Art. 61 Abs. 1 der Verfahrensordnung gebeten worden, einige Fragen schriftlich zu beantworten. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die luxemburgische Regierung, Irland, die griechische, die spanische, die französische, die italienische, die polnische und die finnische Regierung sowie die Kommission haben diese Fragen beantwortet.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
40 Mit der ersten und der zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass sich ein Auskunftsersuchen auf Informationen bezieht, die nicht offenkundig voraussichtlich unerheblich sind, wenn die Personen, denen eine Kontrolle oder Ermittlung im Sinne der letztgenannten Vorschrift gilt, in diesem Ersuchen zwar nicht namentlich und individuell bezeichnet sind, die ersuchende Behörde aber auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegt, dass sie eine gezielte, eine beschränkte Personengruppe betreffende Untersuchung durchführt, die durch einen begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist.
41 Zur Beantwortung dieser Fragen ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 ergibt, dass die voraussichtliche Erheblichkeit der von einem Mitgliedstaat bei einem anderen Mitgliedstaat erbetenen Informationen eine Voraussetzung ist, die das Informationsersuchen erfüllen muss, damit der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, ihm zu entsprechen, und dadurch eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat an eine Person, die über diese Informationen verfügt, gerichteten Anordnung, die betreffenden Informationen zu übermitteln, und der gegen sie wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängten Sanktion ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 74).
42 Insoweit ergibt sich aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16, dass der Zweck der Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen darin besteht, es der ersuchenden Behörde zu ermöglichen, alle Informationen zu verlangen und zu erlangen, von denen sie nach vernünftigem Ermessen davon ausgehen kann, dass sie sich für ihre Untersuchung als erheblich erweisen werden, ohne ihr jedoch zu gestatten, den Rahmen der Untersuchung offensichtlich zu überschreiten oder der ersuchten Behörde eine übermäßige Belastung aufzuerlegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 68, und vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 110).
43 In Anbetracht der mit der Richtlinie 2011/16 eingeführten Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden, die – wie aus den Erwägungsgründen 2, 6 und 8 der Richtlinie hervorgeht – auf Regeln beruht, die das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten bilden sollen und eine effiziente und schnelle Zusammenarbeit ermöglichen, muss die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde nämlich grundsätzlich vertrauen und annehmen, dass das ihr vorgelegte Informationsersuchen sowohl mit dem nationalen Recht der ersuchenden Behörde im Einklang steht als auch für die Bedürfnisse ihrer Ermittlung erforderlich ist. Jedenfalls darf die ersuchte Behörde die von der ersuchenden Behörde vorgenommene Beurteilung des etwaigen Nutzens der erbetenen Informationen nicht durch ihre eigene ersetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 77).
44 Zwar verfügt die ersuchende Behörde, die die dem Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde liegenden Ermittlungen führt, bei der anhand der Umstände des Falles durchzuführenden Beurteilung, ob die erbetenen Informationen voraussichtlich erheblich sind, über einen Beurteilungsspielraum, kann jedoch die ersuchte Behörde nicht um Informationen ersuchen, die für die betreffende Ermittlung völlig unerheblich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Somit können Informationen, die für die Zwecke der im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 erwähnten Beweisausforschungen („fishing expeditions“) erbeten werden, keinesfalls als „voraussichtlich erheblich“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 113 und 114).
46 Insoweit muss die ersuchte Behörde prüfen, ob die Begründung des an sie gerichteten Informationsersuchens der ersuchenden Behörde ausreicht, um zu belegen, dass den fraglichen Informationen unter Berücksichtigung der Identität des Steuerpflichtigen, gegen den sich die dem Ersuchen zugrunde liegende Ermittlung richtet, der Zwecke einer solchen Untersuchung und, falls es erforderlich ist, die fraglichen Informationen von einer Person zu erhalten, in deren Besitz sie sich befinden, der Identität dieser Person, die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Hierzu ergibt sich aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16, dass zu den für diese Prüfung erheblichen Gesichtspunkten, die von der ersuchenden Behörde anzugeben sind, u. a. die in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a und b dieser Richtlinie genannten gehören, nämlich die Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, und der steuerliche Zweck, zu dem um die Informationen ersucht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 79).
48 Vor diesem Hintergrund ist daher davon auszugehen, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 in der Auslegung durch die in den Rn. 41 bis 47 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dass die „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne der letztgenannten Vorschrift, einen der Gesichtspunkte darstellt, den die Begründung des Informationsersuchens zwingend enthalten muss, damit die ersuchte Behörde feststellen kann, dass den erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt, und der ersuchte Mitgliedstaat somit verpflichtet ist, diesem Ersuchen zu entsprechen.
49 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 hinsichtlich der Bedeutung der Wendung „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, nicht auf die innerstaatlichen Rechtsordnungen verweist.
50 Daher ist davon auszugehen, dass es sich bei dieser Wendung um ein autonomes Konzept des Unionsrechts handelt, das im gesamten Unionsgebiet einheitlich auszulegen ist, wobei nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat [Beeinträchtigung eines Drittstaats], C‑872/19 P, EU:C:2021:507, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Was zunächst den Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „Bezeichnung“ nach seinem allgemeinen Wortsinn alle Angaben erfasst, die eine Person individualisieren können, ohne sich auf ihre namentliche Identifizierung zu beschränken, wie die Generalanwältin in den Nrn. 46 und 47 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat.
52 Was ferner den Zusammenhang betrifft, in den sich diese Vorschrift einfügt, ist zum einen hervorzuheben, dass Art. 3 Nr. 11 dieser Richtlinie den Begriff „Person“ weit definiert, da dieser nicht nur natürliche Personen erfasst, sondern auch juristische Personen, Personenvereinigungen, denen die Rechtsfähigkeit zuerkannt wurde, oder alle anderen Rechtsvereinbarungen gleich welcher Art und Form mit oder ohne Rechtspersönlichkeit.
53 Somit umfasst diese Definition auch eine Gesamtheit juristischer Personen, deren Identität nicht anhand personenbezogener Daten wie der Personenstandsangaben einer natürlichen Person festgestellt werden kann. Zum Zweck der Überprüfung der Angabe bezüglich der Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, im Sinne der in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung müssen diese Personen daher durch eine Gesamtheit tatsächlicher und rechtlicher Unterscheidungsmerkmale identifiziert werden können.
54 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 20 dieser Richtlinie enthaltenen Verfahrensvorschriften gemäß dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 großzügig ausgelegt werden müssen, damit der effiziente Informationsaustausch nicht vereitelt wird, da mit dem Standard der „voraussichtlichen Erheblichkeit“ gewährleistet werden soll, dass ein Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten im größtmöglichen Umfang stattfindet.
55 Folglich muss das in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie genannte Erfordernis, dass das Informationsersuchen Begründungselemente enthalten muss, die sich auf die Bezeichnung der Personen, denen die Untersuchung oder Ermittlung gilt, beziehen, ebenfalls großzügig dahin ausgelegt werden, dass es nicht unbedingt eine individuelle und namentliche Identifizierung dieser Personen verlangt.
56 Was schließlich die Ziele der Richtlinie 2011/16 angeht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Ziel der Bekämpfung des internationalen Steuerbetrugs und der internationalen Steuerhinterziehung u. a. in den Art. 5 bis 7 dieser Richtlinie zum Ausdruck kommt, indem ein Verfahren zum Informationsaustausch auf Ersuchen eingeführt wird, das es den zuständigen nationalen Behörden ermöglicht, effizient und schnell zusammenzuarbeiten, um im Rahmen von Ermittlungen betreffend einen bestimmten Steuerpflichtigen Informationen zu sammeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 86 und 89 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Hierzu baut diese Richtlinie nach ihrem siebten Erwägungsgrund auf dem durch die Richtlinie 77/799 Erreichten auf, indem sie klarere und präzisere Regeln für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten vorsieht, wenn dies erforderlich ist, um den Anwendungsbereich dieser Zusammenarbeit auszudehnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 47). Insbesondere geht aus diesem Erwägungsgrund hervor, dass diese Regeln es auch möglich machen sollten, sämtliche juristische und natürliche Personen in der Union zu erfassen, wobei die immer größere Zahl der Arten von Rechtsvereinbarungen, die Steuerpflichtige in den Mitgliedstaaten schließen können, zu berücksichtigen sind.
58 Wie die Generalanwältin in Nr. 52 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, begründete eine Auslegung der Wendung „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, die darauf hinausliefe, Informationsersuchen zu verbieten, die sich nicht auf von der ersuchenden Behörde namentlich und individuell identifizierte Personen beziehen, aber die Gefahr, dass dem Informationsersuchen als Instrument der Zusammenarbeit die praktische Wirksamkeit genommen würde, und liefe somit dem mit diesem Instrument verfolgten Ziel der Bekämpfung von internationalem Steuerbetrug und internationaler Steuerhinterziehung zuwider.
59 Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, Informationsersuchen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu verbieten, mit denen im Rahmen einer steuerlichen Untersuchung, deren Reichweite durch die ersuchende Behörde bereits festgelegt ist, bezweckt wird, eine begrenzte Gruppe von Personen, die verdächtigt werden, den mutmaßlichen Verstoß oder die mutmaßliche Unterlassung begangen zu haben, anhand gemeinsamer Eigenschaften oder Merkmale, die sie von anderen unterscheiden, zu individualisieren.
60 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sowohl das Informationsersuchen als auch die Anordnungsentscheidung in der ersten Phase dieser Untersuchung oder Ermittlung ergangen sind, die dazu dient, Informationen zu sammeln, von denen die ersuchende Behörde naturgemäß keine genaue und vollständige Kenntnis hat (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 121).
61 Somit ergibt sich aus einer Auslegung nach Wortlaut, Kontext und Zweck der Wendung „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16, dass diese Wendung nicht nur den Namen und andere personenbezogene Angaben umfasst, sondern auch unterscheidungskräftige Eigenschaften oder Merkmale, anhand deren die Person oder die Personen, der bzw. denen diese Untersuchung oder Ermittlung gilt, identifiziert werden kann bzw. können.
62 Daraus folgt, dass die „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne dieser Vorschrift als Angabe im Sinne der Rn. 48 des vorliegenden Urteils, die die Begründung des Informationsersuchens zwingend enthalten muss, damit die ersuchte Behörde feststellen kann, dass den erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt, nicht nur Personen, die von der ersuchenden Behörde namentlich und individuell identifiziert werden, sondern auch eine begrenzte Gruppe von Personen erfassen kann, die anhand gemeinsamer Eigenschaften oder Merkmale, die sie von anderen unterscheiden, identifizierbar sind.
63 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach der in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs die ersuchende Behörde zwar über einen Beurteilungsspielraum bei der Bewertung der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen verfügt, von der ersuchten Behörde jedoch keine Informationen zum Zweck einer Beweisausforschung, wie sie im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 genannt ist, anfordern kann, da solche Informationen nicht als „voraussichtlich erheblich“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden können.
64 Drittens sind daher in Bezug auf ein Informationsersuchen, das sich nicht auf namentlich und individuell identifizierte Personen bezieht, die Angaben zu präzisieren, die die ersuchende Behörde der ersuchten Behörde übermitteln muss, um dieser die Feststellung zu ermöglichen, dass die Informationen nicht zum Zweck einer solchen Beweisausforschung erbeten werden und ihnen damit die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt im Sinne der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung. Wie die Generalanwältin in Nr. 54 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist nämlich die Gefahr einer Beweisausforschung besonders hoch, wenn das Informationsersuchen eine Gruppe nicht namentlich und individuell identifizierter Steuerpflichtiger betrifft.
65 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Angaben in der Begründung, die sich auf die „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 beziehen, neben den Angaben, die sich auf den steuerlichen Zweck dieses Ersuchens im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie beziehen, vorliegen müssen.
66 Des Weiteren ergibt sich aus dem neunten Erwägungsgrund und Art. 20 der Richtlinie 2011/16 in der Auslegung durch die in den Rn. 42 bis 45 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine ersuchende Behörde weder Informationen erbitten darf, die den Rahmen ihrer steuerlichen Untersuchung offenkundig überschreiten, noch der ersuchenden Behörde eine übermäßige Belastung auferlegen darf.
67 Daher ist, wie die Generalanwältin in den Nrn. 58 bis 62 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die ersuchende Behörde verpflichtet, erstens die Gruppe der Steuerpflichtigen, denen eine Untersuchung oder Ermittlung gilt, so konkret und umfassend wie möglich zu beschreiben und dabei die unterscheidungskräftigen Eigenschaften oder Merkmale der zu dieser Gruppe gehörenden Personen anzugeben, damit die ersuchte Behörde sie identifizieren kann, zweitens zu erläutern, welchen spezifischen steuerlichen Pflichten diese Personen unterliegen, und drittens darzulegen, warum Grund zu der Annahme besteht, dass diese Personen die Unterlassungen oder Verstöße begangen haben, die Gegenstand der Untersuchung oder Ermittlung sind.
68 Im vorliegenden Fall scheint, wie die Generalanwältin in Nr. 64 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Begründung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Informationsersuchens, wie sie der in der Vorlageentscheidung enthaltenen und in Rn. 17 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Sachverhaltsschilderung zu entnehmen ist, die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils ausgeführten Voraussetzungen zu erfüllen – was jedoch das vorlegende Gericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Inhalts dieses Ersuchens zu überprüfen hat.
69 Schließlich entspricht diese Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2011/16 der Auslegung des in Art. 26 Abs. 1 des OECD-Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen verwendeten Begriffs „voraussichtliche Erheblichkeit“ der erbetenen Informationen, die sich aus den am 17. Juli 2012 angenommenen Kommentaren des OECD-Rates zu diesem Artikel ergibt.
70 Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass der u. a. im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 enthaltene Ausdruck „voraussichtliche Erheblichkeit“ der erbetenen Informationen den in Art. 26 Abs. 1 dieses Musterabkommens verwendeten Ausdruck widerspiegelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 67).
71 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in den Nrn. 5.1 und 5.2 der Kommentare zu Art. 26 des OECD-Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ausgeführt ist, dass „ein Auskunftsersuchen nicht schon deshalb eine ‚fishing expedition‘ darstellt, weil in ihm nicht der Name oder die Anschrift (oder beides) des Steuerpflichtigen, dem die Untersuchung oder Ermittlung gilt, angegeben ist“, sofern der ersuchende Staat „genügend andere Informationen [aufnimmt], um eine Identifizierung des Steuerpflichtigen zu ermöglichen“. Außerdem wird in diesen Nummern klargestellt, dass die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit auch in Fällen erfüllt sein kann, die „eine Gruppe von (namentlich oder auf andere Weise identifizierten) Steuerpflichtigen betreffen“.
72 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass sich ein Auskunftsersuchen auf Informationen bezieht, die nicht offenkundig voraussichtlich unerheblich sind, wenn die Personen, denen eine Kontrolle oder Ermittlung im Sinne der letztgenannten Vorschrift gilt, in diesem Ersuchen zwar nicht namentlich und individuell bezeichnet sind, die ersuchende Behörde aber auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegt, dass sie eine gezielte, eine beschränkte Personengruppe betreffende Untersuchung durchführt, die durch einen begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist.
Zur dritten Frage
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
73 Die luxemburgische Regierung stellt implizit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der dritten Frage in Abrede. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass diese Frage rein innerstaatliche Aspekte betreffe, die sich auf die zeitliche Anwendung nationaler Verfahrensregeln bezögen und daher keinen Bezug zum Unionsrecht aufwiesen. Da Art. 47 der Charta auf einen innerstaatlichen Rechtsstreit aber nur Anwendung finde, wenn dieser einen hinreichenden Bezug zum Unionsrecht aufweise, falle die dritte Frage nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs.
74 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Gesetz vom 25. November 2014 eine Durchführung dieser Richtlinie darstellt, da es die Modalitäten des durch die Richtlinie 2011/16 eingeführten Verfahrens zum Informationsaustausch auf Ersuchen, insbesondere die zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens dieses Verfahrens festgelegten Modalitäten der Durchführung und der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, mit denen die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, und von Entscheidungen, mit denen Sanktionen wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt werden, präzisiert und daher in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 34 bis 41, und vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 45 und 46).
75 Daraus folgt, dass Art. 47 der Charta gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 42 und 50, sowie vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 46) und der Gerichtshof für die Beantwortung der dritten Frage zuständig ist.
Zur Zulässigkeit
76 Die luxemburgische Regierung äußert auch Zweifel an der Zulässigkeit der dritten Frage. Zum einen habe der Informationsinhaberin zwar gemäß Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung nur gegen die Entscheidung über die Verhängung einer Sanktion wegen Nichtbefolgung der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, ein Rechtsbehelf zugestanden, doch sei durch das Gesetz vom 1. März 2019 eine Anfechtungsklage gegen die letztgenannte Entscheidung eingeführt worden.
77 Da das Gesetz vom 1. März 2019 Verfahrensregeln vorsehe, könne es ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens auf laufende Sachverhalte Anwendung finden. Da dieses Gesetz auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbar sei, sei folglich die dritte Frage für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nicht erheblich, da die Informationsinhaberin gemäß diesem Gesetz nunmehr berechtigt sei, eine Anfechtungsklage gegen die Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, zu erheben, um diese unmittelbar anzufechten.
78 Zum anderen habe im vorliegenden Fall die Gesellschaft, die Inhaberin der Informationen sei, selbst unter der Geltung des Gesetzes vom 25. November 2014 in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügt, mit dem sie die Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 unmittelbar habe anfechten können.
79 Diese Gesellschaft hat nämlich, wie Rn. 19 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, neben der Klage gegen die Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 eine Anfechtungsklage gegen die Entscheidung des Direktors der Verwaltung für direkte Abgaben erhoben, mit der der von ihr gegen die Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 eingelegte verwaltungsinterne förmliche Rechtsbehelf für unzulässig erklärt worden war. Diese Anfechtungsklage, von der feststeht, dass sie keine aufschiebende Wirkung in Bezug auf die letztgenannte Entscheidung hat, ist gegenwärtig beim Verwaltungsgericht anhängig. Dieses hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof die im vorliegenden Verfahren zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen beantwortet hat.
80 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor Din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 115 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
81 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor Din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 116 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
82 Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung insbesondere „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Das Vorabentscheidungsverfahren setzt daher insbesondere voraus, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor Din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 117 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
83 Im vorliegenden Fall ist zum einen hinsichtlich des durch das Gesetz vom 1. März 2019 eingeführten direkten Rechtsbehelfs gegen Entscheidungen, mit denen die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, festzustellen, dass dieses Gesetz, wie das vorlegende Gericht in seiner Antwort zur Aufrechterhaltung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ausgeführt hat, auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist. Dieser Rechtsstreit ist nämlich vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes anhängig geworden und geht auf einen Rechtsbehelf zurück, der nicht gegen eine Entscheidung eingelegt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wurde, sondern gegen eine spätere Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen der Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde.
84 Zum anderen genügt zu der in Rn. 79 des vorliegenden Urteils genannten Anfechtungsklage der Hinweis, dass diese, wie die luxemburgische Regierung selbst in ihrer Antwort auf die vom Gerichtshof gestellten Fragen zur schriftlichen Beantwortung ausgeführt hat, unter der Annahme, dass sie zulässig wäre, jedenfalls gegenstandslos würde, wenn am Ende des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren die Rechtmäßigkeit der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und der Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 inzident endgültig anerkannt würde.
85 Unter diesen Umständen ist die Beantwortung der dritten Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, erheblich und erforderlich im Sinne der in den Rn. 80 bis 82 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und diese Frage daher zulässig.
Zum Inhalt
86 Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass einer Informationen besitzenden Person,
– gegen die eine Geldbuße wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung verhängt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen im Rahmen eines Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 angeordnet wurde und die nach dem internen Recht des ersuchten Mitgliedstaats nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbar ist, und
– die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Klage gegen die Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde, inzident in Frage gestellt hat und so im Lauf des diesen Rechtsbehelf betreffenden gerichtlichen Verfahrens Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestinformationen erlangt hat,
nach der inzident erfolgten endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieser ihr gegenüber ergangenen Entscheidungen, ein Aufschub für die Zahlung der Geldbuße gewährt werden muss, damit sie, nachdem sie auf diese Weise Kenntnis von den Umständen erhalten hat, die sich auf die vom zuständigen Richter endgültig bestätigte voraussichtliche Erheblichkeit beziehen, der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, nachkommen kann.
87 Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Dieser Schutz kann somit von einer juristischen Person als durch das Recht der Union garantiertes Recht im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta geltend gemacht werden, um einen sie belastenden Rechtsakt wie eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen oder eine wegen Nichtbeachtung dieser Anordnung verhängte Sanktion gerichtlich anzufechten (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 57 und 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
88 Folglich muss einer juristischen Person wie der Beklagten des Ausgangsverfahrens, gegen die die zuständige nationale Behörde solche Entscheidungen erlassen hat, gegen diese Entscheidungen das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuerkannt werden, dessen Ausübung von den Mitgliedstaaten nur eingeschränkt werden kann, wenn die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 59, 60 und 64).
89 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass das nationale Gericht, bei dem eine Klage gegen die dem Verwaltungsunterworfenen wegen Nichtbefolgung der Anordnung zur Übermittlung von Informationen auferlegte Geldbuße anhängig ist, die Rechtmäßigkeit der Anordnung prüfen können muss, damit den Anforderungen von Art. 47 der Charta Genüge getan ist. Folglich hat ein Verwaltungsunterworfener, gegen den eine Geldbuße verhängt wurde, weil er eine Verwaltungsentscheidung nicht befolgt hatte, mit der von ihm im Rahmen eines Austauschs zwischen nationalen Steuerbehörden aufgrund der Richtlinie 2011/16 die Mitteilung von Informationen verlangt wurde, das Recht, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung anzufechten (Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 56 und 59).
90 In diesem Kontext hat der Gerichtshof zum einen entschieden, dass für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle erforderlich ist, dass die Begründung der ersuchenden Behörde das nationale Gericht in die Lage versetzt, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Informationsersuchens auszuüben. In Anbetracht des Beurteilungsspielraums der ersuchenden Behörde im Sinne der in den Rn. 42 und 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gelten die in den Rn. 43 und 46 des vorliegenden Urteils dargelegten Grenzen, denen die Prüfung durch die ersuchte Behörde unterliegt, ebenso für die Kontrolle durch das Gericht. Daher muss das Gericht nur prüfen, ob sich die Anordnung zur Übermittlung von Informationen auf ein hinreichend begründetes Ersuchen der ersuchenden Behörde stützt, das Informationen betrifft, denen im Hinblick auf die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 genannten Angaben zur Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, und zum steuerlichen Zweck der erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offenkundig völlig fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 84 bis 86).
91 Zum anderen hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats, damit es seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann, zwar Zugang zu dem vom ersuchenden Mitgliedstaat an den ersuchten Mitgliedstaat übermittelten Informationsersuchen haben können muss, es aber nicht erforderlich ist, dass der betreffende Verwaltungsunterworfene zu dem gesamten Informationsersuchen Zugang hat, damit seine Sache im Hinblick auf die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit in einem fairen Verfahren verhandelt wird. Hierfür genügt, dass er im Rahmen seines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen die Anordnung zur Übermittlung von Informationen und die Entscheidung zur Verhängung einer Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung Zugang zu den in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 genannten Mindestinformationen hat, nämlich der Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, und des steuerlichen Zwecks der erbetenen Informationen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 92, 99 und 100).
92 Hierzu ist jedoch hervorzuheben, dass es für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle erforderlich ist, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, entweder durch die Lektüre der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Entscheidung auszuüben (Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C 225/19 und C 226/19, EU:C:2020:951, Rn. 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Somit muss eine Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, nicht nur auf ein im Licht der in den Rn. 41 bis 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gültiges Informationsersuchen gestützt, sondern auch ordnungsgemäß begründet sein, um dem Adressaten dieser Entscheidung zu ermöglichen, deren Tragweite zu erfassen und zu entscheiden, ob er gerichtlich gegen diese vorgeht oder nicht.
94 Außerdem hat der Gerichtshof auch auf die ständige Rechtsprechung hingewiesen, nach der zum Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. gehört, dass die Person, die Inhaber dieses Rechts ist, Zugang zu einem Gericht erhalten kann, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der ihr durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen; dabei darf diese Person nicht gezwungen sein, gegen eine Regel oder eine rechtliche Verpflichtung zu verstoßen und sich der mit diesem Verstoß verbundenen Sanktion auszusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66).
95 In Bezug auf die im Ausgangsverfahren anwendbaren innerstaatlichen Rechtsvorschriften hat der Gerichtshof aber bereits festgestellt, dass die Person, an die eine die Übermittlung von Informationen anordnende Entscheidung gerichtet ist, nach diesen Rechtsvorschriften nur dann, wenn sie zum einen diese Entscheidung nicht beachtet, und wenn zum anderen anschließend aus diesem Grund eine Sanktion gegen sie verhängt wird, über eine Möglichkeit verfügt, diese Entscheidung im Rahmen des ihr gegen eine solche Sanktion zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfs inzident anzufechten (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 67).
96 Somit hat eine solche Person im Fall einer willkürlichen oder unverhältnismäßigen Anordnung der Übermittlung von Informationen keinen Zugang zu einem Gericht, es sei denn, sie verstößt gegen diese Entscheidung, indem sie es ablehnt, der in ihr enthaltenen Anordnung nachzukommen, und setzt sich damit der Sanktion aus, die an die Nichtbeachtung der Entscheidung geknüpft ist. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Person einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genießt (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 68).
97 Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass diese nationalen Rechtsvorschriften, soweit sie einer Informationen besitzenden Person, an die die zuständige nationale Behörde eine die Übermittlung dieser Informationen anordnende Entscheidung richtet, die Möglichkeit verwehren, einen unmittelbaren Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einzulegen, nicht den Wesensgehalt des durch Art. 47 der Charta garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf achten, und dass folglich Art. 52 Abs. 1 der Charta einer solchen Regelung entgegensteht (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 69).
98 Damit die Wirksamkeit des Wesensgehalts dieses Rechts unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens gewahrt wird, muss daher die Person, an die die Entscheidung gerichtet ist, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, nachdem diese Entscheidung gegebenenfalls durch das zuständige Gericht bestätigt wurde, die Möglichkeit erhalten, dieser Entscheidung innerhalb der hierfür nach dem nationalen Recht ursprünglich vorgesehenen Frist nachzukommen, ohne dass dies die Aufrechterhaltung der Sanktion zur Folge hat, der sie sich zur Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aussetzen musste. Erst wenn die betreffende Person dieser Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist nachkommt, wird die verhängte Sanktion fällig.
99 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine Informationen besitzende Person,
– gegen die eine Geldbuße wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung verhängt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen im Rahmen eines Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 angeordnet wurde und die nach dem internen Recht des ersuchten Mitgliedstaats nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbar ist, und
– die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Klage gegen die Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde, inzident in Frage gestellt hat und so im Lauf des diesen Rechtsbehelf betreffenden gerichtlichen Verfahrens Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestinformationen erlangt hat,
nach der endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieser gegen sie ergangenen Entscheidungen die Möglichkeit erhalten muss, der Anordnung zur Übermittlung von Informationen innerhalb der hierfür nach dem nationalen Recht ursprünglich vorgesehenen Frist nachzukommen, ohne dass dies die Aufrechterhaltung der Sanktion zur Folge hat, der sie sich zur Ausübung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aussetzen musste. Erst wenn die betreffende Person dieser Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist nachkommt, wird die verhängte Sanktion fällig.
Kosten
100 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.