FG Münster: Zum groben Verschulden bei der versehentlich unterlassenen Erklärung einer Sonderausgabe durch einen Steuerberater in eigener Sache
FG Münster, Urteil vom 30.10.2024 – 4 K 925/23 E
ECLI:DE:FGMS:2024:1030.4K925.23E.00
Volltext BB-Online BB-ONLINE BBL2025-21-1
Nicht Amtliche Leitsätze
1. Die versehentliche Ablage eines Zahlungsbelegs – hier im Belegordner für 2021 – stellt eine üblicherweise vorkommende Nachlässigkeit, welche bei Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht als grobes Verschulden qualifiziert werden kann (sog. Alltagsversehen), dar. Ein schwerwiegender Sorgfaltsverstoß ist nicht gegeben, weil ein derartiges Versehen in der Hektik des Alltags jederzeit und jedermann passieren kann.
2. Gegen ein grobes Verschulden spricht zudem die besondere Situation, die gerichtsbekannt ist, dass die Angehörigen der steuerberatenden Berufe aufgrund des allgemeinen Fachkräftemangels und der zahlreichen Zusatzaufgaben – insbesondere in der Corona-Pandemie – einer enormen Arbeitsbelastung ausgesetzt sind.
Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für 2020 vorliegen.
Die Kläger werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger war und ist als Steuerberater selbständig tätig. Die Klägerin war im Streitjahr als Angestellte bei dem Kläger angestellt.
Am 26. 11. 2020 zahlte die Klägerin von ihrem Konto zum Ausgleich einer Rentenminderung bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente einen Betrag in Höhe von rrr € an die Deutsche Rentenversicherung X (DRV). Der Kläger hatte hiervon Kenntnis. Die DRV bestätigte die Zahlung mit Schreiben vom 4. 12. 2020. Den Zahlungsbeleg übergab die Klägerin an den Kläger und dieser legte den Beleg versehentlich in dem Belegordner für die Steuererklärung 2021 ab.
Zum 31. 3. 2021 kündigte eine Mitarbeiterin des Klägers und eine weitere Mitarbeiterin war ab Mitte November 2021 bis Ende Februar 2022 arbeitsunfähig. Im Übrigen waren im Jahr 2021 die Klägerin im Rahmen eines Minijobs und der als X qualifizierte Sohn der Kläger, S., im Rahmen einer Teilzeitbeschäftigung von zehn Stunden pro Woche bei dem Kläger beschäftigt, wobei die Klägerin Verwaltungstätigkeiten erledigte und der Sohn in der Beratung von Mandanten eingesetzt wurde.
Der Kläger erstellte die Einkommensteuererklärung für 2020 und reichte sie im September 2021 elektronisch bei dem Beklagten ein. In der Anlage Vorsorgeaufwand waren – die in der Lohnsteuerbescheinigung ausgewiesenen – Altersvorsorgebeiträge der Klägerin (Arbeitnehmeranteil in Höhe von xx € und Arbeitgeberanteil in Höhe von yy €), nicht aber die Einmalzahlung in Höhe von rrr € eingetragen (Bl. 91 GA); auch erfolgte insoweit keine automatische Übermittlung durch die DRV.
Entsprechend der seit Jahren bei den Klägern üblichen Praxis unterschrieb die Klägerin den für die eigenen Unterlagen erstellten Ausdruck der Steuererklärung, ohne dabei die einzelnen Positionen auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen.
Der Beklagte setzte die Einkommensteuer für 2020 mit Bescheid vom 29. 12. 2021 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung fest (Bl. 93 GA). Nachdem der Kläger – auf Bitten des Beklagten – Unterlagen zu hier nicht streitbefangenen Besteuerungsgrundlagen nachgereicht hatte, hob der Beklagte den Vorbehalt der Nachprüfung mit Einkommensteuerbescheid für 2020 vom 13. 1. 2022 auf (Bl. 100 ff GA).
Im Rahmen des sich anschließenden Einspruchsverfahrens beantragte der Kläger, den Ertragsanteil einer von ihm bezogenen Rente steuerfrei zu stellen. Zur Begründung verwies er auf das Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 1. 7. 2021 VIII R 4/18, BFHE 273, 293. Der Beklagte half dem Einspruch mit Einkommensteuerbescheid für 2020 vom 24. 2. 2022 ab. In den Erläuterungen führte er aus, dass sich hierdurch der Einspruch erledige (Bl. 107 ff GA).
Im August 2022 beantragten die Kläger, die Zahlung an die DRV als beschränkt abziehbare Sonderausgaben zu berücksichtigen. Zur Begründung führten sie an, dass die Zahlung vom Konto der Klägerin geleistet worden sei. Erst bei der Vorbereitung der Steuererklärung für 2021 sei aufgefallen, dass die Zahlung nicht für das Jahr 2020 erklärt und die Belege in den Rentenunterlagen für 2021 abgelegt worden seien. Wegen der allgemeinen Arbeitsüberlastung der Angehörigen der steuerberatenden Berufe, der Corona-Pandemie und unerwarteter Personalengpässe in seinem, des Klägers, Büro könne – unter Berücksichtigung des BFH-Urteils vom 10. 2. 2015 IX R 18/14, BStBl II 2017, 7 – ein grobes Verschulden nicht angenommen werden.
Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. 8.2022 ab. Auch der dagegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 30. 3. 2023).
Mit der Klage machen die Kläger geltend, dass der Beleg über die streitbefangene Zahlung versehentlich in dem Ordnerregister für das Jahr 2021 abgelegt und daher bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung für 2020 nicht berücksichtigt worden sei. Dieses Versehen sei auf die enorme, durch zahlreiche Zusatzaufgaben bedingte Arbeitsbelastung der steuerberatenden Berufe während der Corona-Pandemie sowie Personalengpässe zurückzuführen. So habe eine Mitarbeiterin, welche planmäßig am 30. 9. 2021 in den Ruhestand habe treten wollen, bereits kurzfristig zum 31. 3. 2021 gekündigt und eine weitere Mitarbeiterin sei mit Voruntersuchungszeiten von Mitte November 2021 bis Ende Februar 2022 nach einer Operation an der Hüfte arbeitsunfähig gewesen. In dieser Zeit habe der Bürobetrieb nur von ihm, dem Kläger, und einer Angestellten aufrechterhalten werden können. Die Neueinstellung von Personal sei aufgrund des Fachkräfte- und Nachwuchsmangels nicht möglich gewesen.
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung könne in Fehlern und Nachlässigkeiten, die üblicherweise vorkommen und mit denen immer gerechnet werden müsse, keine grobe Fahrlässigkeit gesehen werden; insbesondere bei unbewussten – mechanischen – Fehlern, die selbst bei sorgfältiger Arbeit nicht zu vermeiden seien, könne grobe Fahrlässigkeit ausgeschlossen sein (BFH-Urteil vom 10. 2. 2015 IX R 18/14, BFHE 249, 195, BStBl II 2017, 7). Auch nach AEAO zu § 173 Nr. 5.1.1. ergebe sich aus offensichtlichen Versehen und alltäglichen Irrtümern, die sich nie ganz vermeiden ließen, wie beispielsweise Verwechslungen, Schreib-, Rechen- oder Übertragungsfehler, kein grobes Verschulden. Vorliegend sei in dem falschen Abheften des Zahlungsbelegs ein mechanischer Fehler oder jedenfalls eine üblicherweise vorkommende Nachlässigkeit zu sehen. Ein Fehler bei der Sachverhaltsermittlung könne nicht angenommen werden, weil der Beleg sachlich ordnungsgemäß vorsortiert gewesen sei.
Einem groben Verschulden stünden jedenfalls die außergewöhnlichen Arbeitserschwernisse entgegen. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass besondere Krisensituationen persönlicher oder beruflicher Art zu berücksichtigen seien (BFH-Urteil vom 16. 11. 2006 III R 44/06, BFH/NV 2007, 643). Hier sei mehr als die Hälfte seiner Mitarbeiter plötzlich ausgefallen. Wie der Gesetzgeber zur Begründung der verlängerten Abgabefristen nach dem Vierten Corona-Steuerhilfegesetz ausgeführt habe, sei auch die besondere Arbeitsbelastung während der Corona-Pandemie zu berücksichtigen und die Sorgfaltsanforderungen schon im Interesse des Allgemeinwohls zu reduzieren. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass der Beklagte die Feststellungslast für ein grobes Verschulden trage (BFH-Urteil vom 10. 2. 2015 IX R 18/14, BFHE 249, 195, BStBl II 2017, 7).
Soweit der Beklagte darauf abstelle, dass sie den Bescheid bis zur Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung oder bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens nicht hinreichend überprüft hätten, so sei zu berücksichtigen, dass der Bundesfinanzhof zwar davon ausgehe, dass auch das Verhalten des Steuerpflichtigen bis zum Eintritt der Bestandskraft zu berücksichtigen sei, ein grobes Verschulden im Einzelfall aber nur angenommen werden könne, wenn sich dem Steuerpflichtigen die neuen Tatsachen in diesem Zeitraum hätten aufdrängen müssen (BFH-Urteil vom 25. 11. 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256). Diese Voraussetzung läge im Streitfall nicht vor, weil sich bis zum Ablauf der Einspruchsfrist keine neuen Erkenntnisse zu der Rentenzahlung ergeben hätten. Vielmehr habe sich das Versehen bei der Erstellung der Steuererklärung „perpetuiert“. Außerdem sei die Rechtsprechung, welche auch Pflichtverletzung nach Ergehen des Bescheides für relevant halte, umstritten (z.B. Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rn. 76c) und nicht überzeugend. Neben dem Wortlaut des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung – AO – spreche gegen eine zeitliche Ausdehnung, dass das Einlegen eines Einspruchs nicht zu den gesetzlichen Mitwirkungspflichten gehöre. Sollte allein die fehlende Überprüfung des Bescheides während der Einspruchsfrist zu einem groben Verschulden führen, so sei für nicht erkennbare Versehen des Steuerpflichtigen keine Korrekturmöglichkeit eröffnet, da auch die Voraussetzungen der §§ 129, 173a AO nicht vorlägen.
Schließlich sei zu berücksichtigen, dass der Bundesfinanzhof in einer jüngeren Entscheidung betont habe, dass nicht zu schnell von einem groben Verschulden ausgegangen werden dürfe (BFH-Urteil vom 18. 4. 2023 VIII R 9/20, BFHE 279, 514, BStBl II 2023, 895). Dies sei in der Fachliteratur auf Zustimmung gestoßen (Jachmann-Michel, DStR 2023, 1315).
Die Kläger beantragen,
den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 11. 8. 2022 und der Einspruchsentscheidung vom 30. 3. 2023 zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für 2020 vom 24. 2. 2022 dahin zu ändern, dass Rentenversicherungsbeiträge der Klägerin in Höhe von rrr € als beschränkt abziehbare Sonderausgaben (mit 90 % der Aufwendungen) berücksichtigt werden,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er macht geltend, dass für den als Steuerberater tätigen Kläger erhöhte Sorgfaltsanforderungen zu berücksichtigen seien. Zwar sei das Abheften im falschen Ordner als mechanisches Versehen zu qualifizieren, jedoch hätte die Rentenbeitragszahlung bei der Prüfung des Bescheides angesichts der steuerlichen Auswirkungen (ca. 5.600 €) auffallen müssen. Die angespannte berufliche Situation könne den Kläger, welcher die Steuererklärung als Privatperson abzugeben habe, nicht entschuldigen. Außerdem sei ein grobes Verschulden der Klägerin darin zu sehen, dass sie die Steuererklärung nicht hinreichend überprüft habe.
Der Berichterstatter hat die Sache mit den Beteiligten am 5. 9. 2024 erörtert und der Senat hat das Verfahren am 30. 10. 2024 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschriften wird Bezug genommen.
Aus den Gründen
Die Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 11. 8. 2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 30. 3. 2023 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 101 FGO). Die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für 2020 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO liegen vor. Die Kläger trifft kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Rentenbeitragszahlung.
I. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
Die Rentenbeitragszahlung ist dem Beklagten unstreitig nachträglich bekannt geworden. Auch trifft die Kläger kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden.
1. Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat. Grob fahrlässiges Handeln nimmt die Rechtsprechung insbesondere dann an, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er unvollständige Steuererklärungen abgibt. Beruht die unvollständige Steuererklärung auf einem Rechtsirrtum wegen mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften, ist dies dem Steuerpflichtigen in der Regel nicht als grobes Verschulden anzulasten. Auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum kann sich der Steuerpflichtige – auch wenn ihm steuerrechtliche Kenntnisse fehlen – andererseits nicht berufen, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage bewusst nicht beantwortet (BFH-Urteil vom 28. 4. 2020 VI R 24/17, BFH/NV 2020, 1249). Denn um eine Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muss ein Steuerpflichtiger das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen (BFH-Urteil vom 9. 8. 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65).
Fehler und Nachlässigkeiten, die üblicherweise vorkommen und mit denen immer gerechnet werden muss, stellen keine grobe Fahrlässigkeit dar; insbesondere bei unbewussten – mechanischen – Fehlern, die selbst bei sorgfältiger Arbeit nicht zu vermeiden sind, kann grobe Fahrlässigkeit – nicht stets, aber im Einzelfall – ausgeschlossen sein. Nicht als grobes Verschulden anzusehen ist es etwa, wenn der Steuerpflichtige grundsätzlich um die steuerliche Berücksichtigungsfähigkeit von Aufwendungen weiß, die Eintragung im Steuererklärungsformular aber aufgrund eines bloßen – mechanischen – Versehens unter erschwerten Arbeitsbedingungen unterbleibt (BFH-Urteil vom 10. 2. 2015 IX R 18/14, BFHE 249, 195, BStBl II 2017, 7, unter Verweis auf Finanzgericht Rheinland-Pfalz Urteil vom 30. 8. 2011 3 K 2674/10, EFG 2012, 15, zur unübersichtlichen Programmführung des Elster-Formulars). Auch in der versehentlichen Ablage einer Rechnung bei den Belegen des Folgejahres ist nicht notwendig ein grobes Verschulden zu sehen (FG Köln Urteil vom 5. 9. 1991 7 K 4769/90, EFG 1992, 171).
Einem Steuerpflichtigen kann aber ein eigenes grobes Verschulden angelastet werden, wenn er die von seinem steuerlichen Berater angefertigte Steuererklärung nicht auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit durchgesehen hat und ihm ohne Weiteres hätte auffallen müssen, dass steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht berücksichtigt wurden (BFH-Urteile vom 28. 4. 2020 VI R 24/17, BFH/NV 2020, 1249, vom 16. 5. 2013 III R 12/12, BFHE 241, 226, BStBl II 2016, 512 und vom 28. 8. 1992 VI R 93/89, BFH/NV 1993, 147). Dabei sind die Umstände des Einzelfalls zu beachten (BFH-Urteil vom 28. 8. 1992 VI R 93/89, BFH/NV 1993, 147). Kennt der Steuerpflichtige die Umstände, die für die Besteuerung bedeutsam sind, muss er dafür Sorge tragen, dass sie Eingang in die Einkommensteuererklärung finden. Er muss insbesondere die von seinem steuerlichen Berater vorbereitete Erklärung daraufhin überprüfen, ob sie alle Angaben tatsächlicher Art enthält, die nur der Steuerpflichtige erteilen kann (BFH-Beschluss vom 28. 2. 2001 VI B 314/00, BFH/NV 2001, 1011). Auch ein beruflich stark in Anspruch genommener Steuerpflichtiger handelt grob fahrlässig, wenn er seine Steuererklärung nicht daraufhin überprüft, ob alle wesentlichen Erwerbsgrundlagen mitgeteilt werden (BFH-Urteil vom 8. 12. 1998 IX R 14/97, BFH/NV 1999, 743).
Bei Ehegatten ergibt sich ein grobes Verschulden nicht bereits daraus, dass ein Ehegatte dem anderen die „Verwaltungsangelegenheiten“ überlässt, wenn er seinen Ehegatten bei der Pflichtenerfüllung hinreichend überwacht (Finanzgericht des Saarlandes Gerichtsbescheid vom 17. 8. 2012 2 K 1303/11, EFG 2012, 2254). Bei zusammenveranlagten Eheleuten muss sich jeder das grobe Verschulden des anderen als eigenes zurechnen lassen (BFH-Urteil vom 24. 7. 1996 I R 62/95, BFHE 181, 252, BStBl II 1997, 115).
Eine Pflichtverletzung gilt als entschuldbar, wenn sich der Betroffene vorübergehend in einer ganz besonderen Krisensituation persönlicher oder beruflicher Art befindet, die ausnahmsweise den ansonsten begründeten Vorwurf grober Fahrlässigkeit ausschließt (BFH-Urteil vom 16. 11. 2006 III R 44/06, BFH/NV 2007, 643). Auch eine außergewöhnlich hohe Arbeitsbelastung kann gegen ein grobes Verschulden sprechen (BFH-Urteil vom 28. 8. 1992 VI R 93/89, BFH/NV 1993, 147). Krankheit stellt nur dann einen Entschuldigungsgrund dar, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar auftritt oder so schwerwiegend ist, dass weder die Wahrung der Frist noch die Bestellung eines Vertreters möglich sind (BFH-Beschluss vom 3. 7. 2006 IV B 98/05, BFH/NV 2006, 2226). Ein grobes Verschulden liegt auch dann nicht vor, wenn ein Steuerpflichtiger es unterlässt, rechtzeitig Werbungskosten geltend zu machen, weil er den Beleg darüber in einer Krisensituation aus verständlichen Gründen verlegt, somit den entstandenen Aufwand nicht zur Kenntnis nimmt und auch später nicht ohne weiteres aus den Umständen auf seine Existenz schließen kann (FG Berlin Urteil vom 24. 3. 1987 VII 100/86, EFG 1987, 594).
Der Steuerpflichtige hat auch ein Verschulden seines steuerlichen Beraters, dessen er sich zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, bei der Anfertigung der Steuererklärung zu vertreten. Dabei sind an einen steuerlichen Berater, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, erhöhte Anforderungen hinsichtlich der von ihm zu erwartenden Sorgfalt zu stellen (BFH-Urteile vom 3. 2. 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324 und vom 18. 4. 2023 VIII R 9/20, BFHE 279, 514, BStBl II 2023, 895). Insbesondere ist ein steuerlicher Berater verpflichtet, den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln (BFH-Urteil vom 28. 4. 2020 VI R 24/17, BFH/NV 2020, 1249). Ein steuerlicher Berater handelt grob fahrlässig, wenn er eine in einer Anlage zur Steuererklärung ausdrücklich gestellte Frage unbeantwortet lässt, obwohl er bei sorgfältiger Prüfung und Aufbereitung des relevanten Sachverhalts die steuererhebliche Tatsache hätte erkennen können (BFH-Urteil vom 28. 4. 2020 VI R 24/17, BFH/NV 2020, 1249 zur Anlage N-Gre). Ledig einfache Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn ein Steuerberater bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung versehentlich nur die Schuldzinsen aus einem Darlehen als Werbungskosten erklärt, obwohl die Zinsbescheinigung eines anderen Darlehens vorgelegen hat (FG Münster Urteil vom 10. 8. 2021 2 K 1117/19 AO, juris). Das Vorliegen grober Fahrlässigkeit beurteilt sich bei einem Steuerberater in eigener Sache nach denselben Kriterien wie bei der Wahrnehmung von Mandanteninteressen (Finanzgericht des Saarlandes Urteil vom 29. 6. 1999 1 K 50/98, EFG 1999, 1060; so auch BFH-Urteil vom 2. 3. 1993 IX R 75/89, BFH/NV 1993, 578 zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand).
Anhaltspunkte, die auf ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen hindeuten, sind von der Finanzbehörde darzulegen und zu beweisen. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Fehler des Steuerpflichtigen im Regelfall auf einem Versehen, also auf leichter Fahrlässigkeit, beruhen; verbleibende Zweifel hieran gehen daher zu Lasten der Behörde, die insoweit die Feststellungslast trägt (BFH-Urteile vom 10. 2. 2015 IX R 18/14, BFHE 249, 195, BStBl II 2017, 7 und vom 22. 5. 1992 VI R 17/91, BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80).
2. Nach diesen Grundsätzen trifft die Kläger kein grobes Verschulden daran, dass dem Beklagten die Zahlung an die DRV erst nachträglich bekannt geworden ist.
a) Ein grobes Verschulden des Klägers liegt auch unter Berücksichtigung der besonderen Sorgfaltsanforderungen für Steuerberater nicht vor.
Die fehlende Angabe der Beitragszahlung ist im Ausgangspunkt und auch im Kern auf ein bloßes mechanisches Versehen – nämlich die versehentliche Ablage des Zahlungsbelegs im Belegordner für 2021 – zurückzuführen. Hierbei handelt es sich um eine üblicherweise vorkommende Nachlässigkeit, welche bei Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht als grobes Verschulden qualifiziert werden kann (sog. Alltagsversehen). In der falschen Ablage eines Belegs kann kein schwerwiegender Sorgfaltsverstoß gesehen werden. Denn derartige Versehen können in der Hektik des Alltags jederzeit und jedermann passieren. Gegen ein grobes Verschulden spricht zudem die besondere Situation, in welcher sich der Kläger im Jahr 2021 befunden hat. Es ist gerichtsbekannt, dass die Angehörigen der steuerberatenden Berufe aufgrund des allgemeinen Fachkräftemangels und der zahlreichen Zusatzaufgaben – insbesondere in der Corona-Pandemie – einer enormen Arbeitsbelastung ausgesetzt sind. Bei dem Kläger kommt erschwerend hinzu, dass kurz vor Abgabe der Steuererklärung eine Mitarbeiterin vorzeitig gekündigt und damit als Arbeitskraft ausgefallen ist.
Ein grob fahrlässiger Sorgfaltsverstoß ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger nicht anhand anderer Unterlagen – wie z.B. Kontoauszügen – überprüft hat, ob die Beitragszahlung im Streitjahr zu berücksichtigen ist. Zwar sind Steuerpflichtige und Steuerberater verpflichtet, den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Auch kam der streitbefangenen Zahlung angesichts ihrer Höhe und ihres Anlasses (vorzeitiger Eintritt in den Ruhestand) eine besondere Bedeutung zu. Gleichwohl kann lediglich ein einfaches Verschulden angenommen werden, wenn der Steuerpflichtige die Sachverhaltsaufklärung dadurch sicherstellt, dass er die Zahlungsbelege in einem Belegordner abheftet und anhand der Belege die Steuererklärung erstellt. Wird der Beleg versehentlich in einem Ordner für das falsche Jahr abgelegt, so kann sich in Bezug auf die betroffene Aufwendung ein grob fahrlässiges Verhalten nicht daraus ergeben, dass der Steuerpflichtige auf die abgelegten Belege vertraut hat.
Nichts anderes ergibt sich daraus, dass in dem Steuererklärungsformular eine Zeile für die streitbefangene Zahlung vorgesehen ist. So sind in der Anlage Vorsorgeaufwand in Zeile 6 Beiträge zu gesetzlichen Rentenversicherungen – ohne Beiträge, die in Zeile 4 geltend gemacht werden – einzutragen, wobei Zeile 4 den Arbeitnehmeranteil zur Rentenversicherung nach Nr. 23a/b der Lohnsteuerbescheinigung betrifft. In der Anleitung zur Anlage Vorsorgeaufwand wird ausgeführt: „Sind Sie in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert und zahlen Sie über Ihre Pflichtbeiträge hinaus zusätzliche freiwillige Beiträge (z.B. zur Vermeidung von Abschlägen bei Renteneintritt vor der Altersgrenze), tragen Sie diese Beiträge ebenfalls in Zeile 6 ein.“ Denn die fehlende Angabe der Beitragszahlung ist nicht darauf zurückzuführen, dass der Kläger das Erklärungsformular nicht sorgfältig gelesen und ausgefüllt hat, sondern darauf, dass er den Beleg falsch abgeheftet hat und ihm die Aufwendungen damit bezogen auf das Streitjahr schon gar nicht mehr vergegenwärtig waren. Hierin kann – wie ausgeführt – kein grobes Verschulden gesehen werden.
b) Auch die Klägerin trifft kein grobes Verschulden. Es ist grundsätzlich zulässig, die Steuerangelegenheiten dem anderen Ehegatten zu überlassen. Zudem war der Kläger als Steuerberater entsprechend qualifiziert.
Auch kann aus der fehlenden Überprüfung der Steuererklärung kein schwerwiegender Sorgfaltsverstoß hergeleitet werden. Da sich der Kläger bereits seit Jahrzehnten verlässlich um die Steuerangelegenheiten der Eheleute gekümmert hat, konnte die Klägerin davon ausgehen, dass der Kläger alle steuerlich relevanten Aufwendungen berücksichtigt hat. Dies gilt auch für die streitbefangene Zahlung. Denn auch wenn diese für die Klägerin eine besondere Bedeutung hatte, so ist zu beachten, dass auch der Kläger von der Zahlung Kenntnis hatte und insofern kein Wissensvorsprung der Klägerin gegeben war. Im Übrigen hatte die Klägerin den Zahlungsbeleg ordnungsgemäß an den Kläger weitergeleitet, der ihn dann versehentlich fehlerhaft abgelegt hat. Anders als im Verhältnis zwischen einem fremden Steuerberater und seinem Mandanten konnte die Klägerin im Grundsatz davon ausgehen, dass der Kläger von den Besteuerungsgrundlagen Kenntnis hat und sie in der Steuererklärung angeben wird.
Außerdem hätte der Klägerin auch bei Durchsicht der Erklärung die fehlende Angabe der Beitragszahlung nicht ohne Weiteres auffallen müssen, da der Zahlungsbeleg falsch abgelegt war und damit auch für die Klägerin keine offensichtlichen Anhaltspunkte für die fehlende Berücksichtigung gegeben waren.
Würde man die Sorgfaltsanforderungen bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten derart hoch ansetzen, dass der eine Ehepartner den anderen Ehepartner nach der Erstellung einer Steuererklärung immer und bis ins kleinste Detail überprüfen müsste (etwa durch erneute vollständige Durchsicht von Kontoauszügen und anderen Unterlagen etc.), dann wären sog. Alltagsversehen bei Eheleuten kaum vorstellbar. Das wäre aus der Sicht des Senats weder mit der zivilrechtlichen Behandlung des Ehegattenverhältnisses noch mit dem Schutzzweck des Art. 6 des Grundgesetzes vereinbar.
c) Ein grobes Verschulden der Kläger ergibt sich schließlich nicht daraus, dass sie die Beitragszahlung nicht nachträglich bis zum Eintritt der Bestandskraft – d.h. bis zur Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung oder bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens – geltend gemacht haben.
Zwar kann sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein grobes Verschulden auch aus einem Verhalten nach Abgabe der Steuererklärung ergeben. Dies setzt aber voraus, dass sich dem Steuerpflichtigen die Geltendmachung von dem Finanzamt bisher nicht bekannten Tatsachen hätte aufdrängen müssen (BFH-Urteile vom 25. 11. 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256 und vom 19. 3. 2009 IV R 84/06, BFH/NV 2009, 1394; zuletzt Hessisches Finanzgericht Urteil vom 15. 5. 2024 5 K 160/23, juris, Rev. anhängig unter II R 17/24).
Dies ist nicht der Fall. Denn nach Abgabe der Steuererklärung haben sich für die Kläger keine weiteren Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Beiträge bereits im Jahr 2020 gezahlt worden sind. Die nach Ergehen des Ausgangsbescheides vorgelegten Unterlagen sowie das Einspruchsverfahren betrafen andere Besteuerungsgrundlagen. Auch konnten sich aus der Überprüfung des Steuerbescheides anhand der bei der Abgabe der Steuererklärung erstellten Prüfberechnung keine Hinweise ergeben, da die Zahlung auch in der Prüfberechnung nicht berücksichtigt worden ist.
II. Für die Klägerin ist die Beitragszahlung in Höhe von rrr € als Sonderausgabe zu berücksichtigen, wobei für das Jahr 2020 90 % der Aufwendungen anzusetzen sind (§ 10 Abs. 3 Satz 4 bis 6 des Einkommensteuergesetzes). Da dies zwischen den Beteiligten nicht im Streit steht, sieht der Senat insofern von weiteren Ausführungen ab.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen nach § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen. Die Entscheidung ist auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls ergangen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.