EuGH: Vortrag von Überschüssen aus definitiv besteuerten Einkünften auf nachfolgende Steuerjahre – nationale Regelung zur Beschränkung der Übertragung dieser Überschüsse auf die übernehmende Gesellschaft
EuGH, Urteil vom 20.10.2022 – C-295/21, Allianz Benelux SA gegen État belge, SPF Finances
ECLI:EU:C:2022:812
Volltext BB-Online BBL2022-2517-1
Tenor
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die vorsieht, dass die von einer Gesellschaft bezogenen Dividenden in ihre Besteuerungsgrundlage einbezogen werden, bevor sie davon zu 95 % abgezogen werden, und die gegebenenfalls den Vortrag dieses Abzugs auf spätere Steuerjahre zulässt, jedoch im Fall der Übernahme dieser Gesellschaft im Rahmen einer Fusion die Übertragung des Vortrags dieses Abzugs auf die übernehmende Gesellschaft im Verhältnis des Anteils begrenzt, den das Steuerreinvermögen der übertragenden Gesellschaft in der Summe aus dem Steuerreinvermögen der übernehmenden und der übertragenden Gesellschaft ausmacht.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6) in Verbindung mit der Dritten Richtlinie 78/855/EWG des Rates vom 9. Oktober 1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften (ABl. 1978, L 295, S. 36) und der Sechsten Richtlinie 82/891/EWG des Rates vom 17. Dezember 1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften (ABl. 1982, L 378, S. 47).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Allianz Benelux SA und dem État belge (Belgischer Staat), SPF Finances (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen), über die Bestimmung des körperschaftsteuerpflichtigen Ergebnisses dieser Gesellschaft für die Steuerjahre 2004 bis 2007.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 90/435
3 Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Richtlinie 90/435 lauten:
„Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtert werden.
Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinnausschüttungen, so
– besteuert der Staat der Muttergesellschaft diese entweder nicht oder
– lässt er im Fall einer Besteuerung zu, dass die Gesellschaft den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, auf die Steuer anrechnen kann.“
4 Art. 1 Abs. 1 erster und zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie sieht vor:
„Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an
– auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Staates von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen;
– auf Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften dieses Staates an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten.“
5 Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinne, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so
– besteuert der Staat der Muttergesellschaft diese Gewinne entweder nicht oder
– lässt er im Fall einer Besteuerung zu, dass die Gesellschaft auf die Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, und gegebenenfalls die Quellensteuer, die der Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft nach den Ausnahmebestimmungen des Artikels 5 erhebt, bis zur Höhe der entsprechenden innerstaatlichen Steuer anrechnen kann.
(2) Jeder Mitgliedstaat kann bestimmen, dass Kosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft und Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung ihrer Gewinne ergeben, nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können. Wenn in diesem Fall die mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten pauschal festgesetzt werden, darf der Pauschalbetrag 5 % der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht übersteigen.“
6 Die Richtlinie 90/435 wurde u. a. durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 (ABl. 2004, L 7, S. 41) geändert. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 in der Fassung der Richtlinie 2003/123 lautet:
„Fließen einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund ihrer Beteiligung an der Tochtergesellschaft Gewinne zu, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so
– besteuern der Staat der Muttergesellschaft und der Staat der Betriebstätte diese Gewinne entweder nicht oder
– lassen im Falle einer Besteuerung zu, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichtet, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können, vorausgesetzt, dass die Gesellschaft und die ihr nachgeordnete Gesellschaft auf jeder Stufe die Bedingungen gemäß Artikel 2 und Artikel 3 erfüllen.“
7 Die Richtlinie 90/435 wurde durch die Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8), die am 18. Januar 2012 in Kraft trat, aufgehoben. In Anbetracht des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraums ist in zeitlicher Hinsicht jedoch die Richtlinie 90/435 anwendbar.
Richtlinie 78/855
8 Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 78/855 lautet:
„Die Verschmelzung bewirkt ipso jure gleichzeitig [F]olgendes:
a) Sowohl zwischen der übertragenden Gesellschaft und der übernehmenden Gesellschaft als auch gegenüber Dritten geht das gesamte Aktiv- und Passivvermögen der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft über;
…“
Belgisches Recht
9 Art. 202 § 1 des Code des impôts sur les revenus de 1992 (Einkommensteuergesetzbuch 1992) in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung (im Folgenden: CIR 1992) sieht vor:
„Von den Gewinnen des Besteuerungszeitraums werden in dem Maße, wie sie sich darin befinden, ebenfalls abgezogen:
1. Dividenden ausschließlich … der Einkünfte, die anlässlich der Übertragung auf eine Gesellschaft ihrer eigenen Aktien oder Anteile oder anlässlich der Gesamt- oder Teilverteilung des Gesellschaftsvermögens einer Gesellschaft erzielt werden,
…“
10 Art. 204 Abs. 1 CIR 1992 bestimmt:
„Gemäß Artikel 202 § 1 Nr. 1, 3 und 4 abzugsfähige Einkünfte gelten als in den Gewinnen des Besteuerungszeitraums befindlich bis zu 95 Prozent des eingenommenen oder erhaltenen Betrags, eventuell erhöht um den tatsächlichen oder fiktiven Mobiliensteuervorabzug oder, in Bezug auf die in Artikel 202 § 1 Nr. 4 und 5 erwähnten Einkünfte, verringert um die dem Verkäufer vergüteten Zinsen, wenn die Wertpapiere im Besteuerungszeitraum erworben wurden.“
11 In Art. 205 § 2 CIR 1992 heißt es:
„Der in Artikel 202 vorgesehene Abzug wird auf den Betrag der Gewinne des Besteuerungszeitraums beschränkt, der nach der Anwendung von Artikel 199 übrig bleibt, verringert um …“
12 Art. 206 CIR 1992 bestimmt:
„§ 1 Vorherige berufliche Verluste werden nacheinander von den Berufseinkünften jedes folgenden Besteuerungszeitraums abgezogen.
§ 2 …
„Bei einer in Anwendung von Artikel 211 § 1 vorgenommenen Fusion bleiben berufliche Verluste, die eine übertragende Gesellschaft vor dieser Fusion hatte, abzugsfähig bei der übernehmenden Gesellschaft nach Verhältnis des proportionalen Teils des Steuerreinvermögens der übertragenen Bestandteile der ersterwähnten Gesellschaft vor der Fusion in der Gesamtsumme des Steuerreinvermögens der übernehmenden Gesellschaft und des Nettosteuerwertes der übertragenen Bestandteile, ebenfalls vor der Fusion. Bei einer in Anwendung von Artikel 211 § 1 vorgenommenen Aufspaltung ist vorerwähnte Regel auf den Teil der beruflichen Verluste anwendbar, der nach Verhältnis des Nettosteuerwertes der übertragenen Bestandteile in der Gesamtsumme des Steuerreinvermögens der übertragenden Gesellschaft festgelegt wird.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
13 Am 16. November 1995 übernahm die AGF l’Escaut SA zwei Versicherungsgesellschaften. Am 15. September 1999 wurden AGF l’Escaut selbst sowie fünf weitere Versicherungsgesellschaften von der Assubel-Vie SA übernommen.
14 Die von AGF l’Escaut und Assubel-Vie übernommenen Gesellschaften, die unter der Gesellschaftsfirma Allianz Benelux zusammengefasst sind, verfügten über Überschüsse definitiv besteuerter Einkünfte (im Folgenden: DBE), die auf spätere Geschäftsjahre vortragbar waren. Allianz Benelux trug diese DBE‑Überschüsse in den Geschäftsjahren 2004 bis 2007 vollständig vor. Dieser vollständige Vortrag wurde von der belgischen Steuerbehörde abgelehnt.
15 Nachdem sich Allianz Benelux gegen diese Ablehnung gewandt hatte, hielt der zuständige belgische Regionaldirektor der Steuerverwaltung in einer Entscheidung vom 19. Dezember 2012 fest, dass mangels einer gesetzlichen Bestimmung, die die Übertragung der DBE‑Überschüsse von der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft vorsehe, der in diesem Fall von Allianz Benelux beantragte Vortrag von DBE‑Überschüssen übertragender Gesellschaften einer rechtlichen Grundlage entbehre. Er ließ jedoch den teilweisen Vortrag dieser Überschüsse nach dem in Art. 206 § 2 CIR 1992 vorgesehenen anteiligen Satz für übertragbare Verluste zu.
16 Allianz Benelux legte gegen diese Entscheidung beim Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien) einen Rechtsbehelf ein. Mit Urteil vom 20. Mai 2016 wies dieses Gericht den Antrag auf vollständigen Vortrag der DBE‑Überschüsse ab.
17 Allianz Benelux legte gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht Berufung ein. Die Gesellschaft machte geltend, dass der nicht vollständige Vortrag der vortragbaren DBE‑Überschüsse der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft erstens zu einer Besteuerung dieser Einkünfte, zweitens zu einem Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 und drittens zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität führe.
18 Vor diesem Hintergrund hat die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435, gegebenenfalls in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinien 78/855 und 82/891 über das Gesellschaftsrecht, dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass die in der Richtlinie genannten ausgeschütteten Gewinne in die Besteuerungsgrundlage der die Dividenden beziehenden Gesellschaft einbezogen werden, bevor sie davon zu 95 % abgezogen und gegebenenfalls auf spätere Steuerjahre vorgetragen werden, die aber in Ermangelung einer besonderen Vorschrift, die im Fall einer Umstrukturierung von Gesellschaften vorsähe, dass die bei der einbringenden Gesellschaft so vorgetragenen Abzüge in vollem Umfang auf die begünstigte Gesellschaft übergehen, dazu führt, dass die Gewinne anlässlich dieses Vorgangs aufgrund der Anwendung einer Vorschrift indirekt besteuert werden, die die Übertragung dieser Abzüge nach dem Verhältnis des proportionalen Teils des Steuerreinvermögens der übertragenen Bestandteile der einbringenden Gesellschaft vor dem Vorgang in der Gesamtsumme des Steuerreinvermögens der übernehmenden Gesellschaft und des Nettosteuerwerts der übertragenen Bestandteile, ebenfalls vor dem Vorgang, begrenzt?
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit
19 Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage zwar nicht nur auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 Bezug nimmt, sondern auch auf die Richtlinien 78/855 und 82/891, es aber keine konkrete Bestimmung dieser beiden Richtlinien nennt und auch nicht darlegt, warum diese für das Ausgangsverfahren maßgeblich seien.
20 Was erstens die Richtlinie 82/891 betrifft, so regelt diese nach ihrem Art. 1 nur Spaltungen von Aktiengesellschaften durch Übernahme und/oder durch Gründung neuer Gesellschaften, so dass sie auf das Ausgangsverfahren, das eine von derlei Spaltungen zu unterscheidende Fusion zum Gegenstand hat, nicht anwendbar ist.
21 Zweitens ist auch die Richtlinie 78/855 nicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar, da sie sich nur auf die privatrechtlichen Gesichtspunkte von Verschmelzungen bezieht, ohne Bestimmungen mit steuerrechtlicher Tragweite zu enthalten. Die steuerrechtlichen Aspekte von Fusionen innerhalb der Europäischen Union waren während des im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraums in der Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen (ABl. 1990, L 225, S. 1), geregelt.
22 Drittens ist im Hinblick auf die Richtlinie 90/435 zum einen darauf hinzuweisen, dass diese – wie es sich insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 3 und 4 ergibt – in wirtschaftlicher Hinsicht die Doppelbesteuerung von Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft beseitigen und so den Zusammenschluss von Gesellschaften auf Unionsebene erleichtern soll. Um das Ziel der steuerlichen Neutralität zu erreichen, sieht Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie eine Regelung vor, die verhindern soll, dass die ausgeschütteten Gewinne ein erstes Mal bei der Tochtergesellschaft und ein zweites Mal bei der Muttergesellschaft erfasst werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Keine Bestimmung dieser Richtlinie sieht jedoch ausdrücklich ihre Anwendbarkeit im Zusammenhang mit Fusionen von Gesellschaften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vor.
23 Zum anderen stellt Art. 1 der Richtlinie 90/435 auf Gewinnausschüttungen ab, die Gesellschaften eines Mitgliedstaats von ihren Tochtergesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten erhalten. Im Übrigen erfasst Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich dieser Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht den Fall, dass sich der Sitz der die Dividenden ausschüttenden Gesellschaft im selben Mitgliedstaat wie der Sitz der die Dividenden beziehenden Gesellschaft befindet (Beschluss vom 4. Juni 2009, KBC Bank und Beleggen, Risicokapitaal, Beheer, C‑439/07 und C‑499/07, EU:C:2009:339, Rn. 57).
24 Im vorliegenden Fall enthält das Vorabentscheidungsersuchen allerdings keine Angaben zur Herkunft der von den übertragenden Gesellschaften erhaltenen Dividenden, so dass offensichtlich nicht festgestellt werden kann, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorgänge unter die Richtlinie 90/435 fallen oder ob sie nicht vielmehr einen rein innerstaatlichen Sachverhalt bilden, an dem nur belgische Gesellschaften beteiligt sind.
25 Zum einen wird bei Vorlagefragen zur Auslegung des Unionsrechts nach ständiger Rechtsprechung indessen die Entscheidungserheblichkeit vermutet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum anderen hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass das nationale belgische Recht hinsichtlich der DBE‑Regelung auf die Richtlinie 90/435 verweist, und die Zulässigkeit von Vorabentscheidungsersuchen aufgrund dieser Verweisung anerkannt, indem er entschieden hat, dass es allein Sache des nationalen Gerichts ist, die genaue Tragweite dieser Verweisung auf das Unionsrecht zu beurteilen, da es sich dabei um eine nationalem Recht unterliegende Frage handelt und sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die Prüfung der unionsrechtlichen Bestimmungen beschränkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2012, Punch Graphix Prepress Belgium, C‑371/11, EU:C:2012:647, Rn. 26 und 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Wie vom Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die belgische Steuerverwaltung die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den DBE gestützt hat.
27 Nach alledem ist festzustellen, dass die Vorlagefrage zulässig und ausschließlich nach Maßgabe der Richtlinie 90/435 zu beurteilen ist.
Zur Begründetheit
28 Mit seiner einzigen Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die vorsieht, dass die von einer Gesellschaft bezogenen Dividenden in ihre Besteuerungsgrundlage einbezogen werden, bevor sie davon zu 95 % abgezogen werden, und die gegebenenfalls den Vortrag dieses Abzugs auf spätere Steuerjahre zulässt, jedoch im Fall der Übernahme dieser Gesellschaft im Rahmen einer Fusion die Übertragung des Vortrags dieses Abzugs auf die übernehmende Gesellschaft im Verhältnis des Anteils begrenzt, den das Steuerreinvermögen der übertragenden Gesellschaft in der Summe aus dem Steuerreinvermögen der übernehmenden und der übertragenden Gesellschaft ausmacht.
29 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 in der Fassung der Richtlinie 2003/123 für den Fall, dass einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund der Beteiligung der Mutter- an der Tochtergesellschaft Gewinne zufließen, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, vorsieht, dass der Staat der Muttergesellschaft und der Staat der Betriebstätte diese Gewinne entweder nicht besteuern oder im Fall einer Besteuerung zulassen, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichtet, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können, vorausgesetzt, dass die Gesellschaft und die ihr nachgeordnete Gesellschaft auf jeder Stufe die Bedingungen gemäß den Art. 2 und 3 der Richtlinie 90/435 erfüllen.
30 Die Richtlinie 90/435 lässt den Mitgliedstaaten somit in ihrem Art. 4 Abs. 1 ausdrücklich die Wahl zwischen dem Befreiungssystem (erster Gedankenstrich) und dem Anrechnungssystem (zweiter Gedankenstrich) (Urteil vom 19. Dezember 2019, Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen zufolge hat das Königreich Belgien das in Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 vorgesehene Befreiungssystem gewählt. Daher ist die Vorlagefrage allein im Licht dieser Bestimmung zu beantworten.
32 Insoweit hat der Gerichtshof zum einen entschieden, dass die für den Mitgliedstaat, der das in Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 vorgesehene System gewählt hat, geltende Verpflichtung, die Gewinne, die der Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft zufließen, nicht zu besteuern, von keiner Voraussetzung abhängig ist und nur unter dem Vorbehalt des Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie des Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie steht. Zum anderen hat er entschieden, dass unter das Verbot nach Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich auch eine nationale Regelung fällt, die, obwohl die der Muttergesellschaft zufließenden Dividenden nicht als solche besteuert werden, dazu führen kann, dass diese Dividenden indirekt bei der Muttergesellschaft besteuert werden (Urteil vom 19. Dezember 2019, Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 33 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Zu den belgischen Steuervorschriften betreffend DBE ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass diese ursprünglich vorsahen, dass die von der Muttergesellschaft bezogenen Dividenden ihrer Besteuerungsgrundlage hinzugerechnet werden und dass ein 95 % der Dividenden entsprechender Betrag von dieser Grundlage abgezogen wird, aber nur insoweit, als das Mutterunternehmen steuerpflichtige Gewinne erzielt hatte, und ohne die Möglichkeit, den nicht abgezogenen Teil der DBE auf spätere Steuerjahre zu übertragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 39).
34 Im Anschluss an das Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret (C‑138/07, EU:C:2009:82), wurde die DBE‑Regelung jedoch dahin geändert, dass nach Art. 205 § 3 CIR 1992 der Teil der DBE, der im betreffenden Steuerjahr wegen unzureichender Gewinne nicht abgezogen werden kann, nunmehr auf spätere Steuerjahre übertragen werden kann und dass diese Übertragung zeitlich nicht beschränkt ist. Somit wird die Verringerung der übertragbaren Verluste, zu der die Einbeziehung der Dividenden in die Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft führt, jetzt offenbar durch eine zeitlich unbegrenzte Übertragung der DBE in gleicher Höhe ausgeglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 40).
35 vorliegenden Fall verhält es sich im Ausgangsverfahren nicht so, dass die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Dividenden bei dieser besteuert worden wären. Es geht vielmehr um eine Situation, in der die belgische Steuerverwaltung – analog zu den Vorgaben des nationalen Rechts zur Übertragung von Verlusten einer übertragenden Gesellschaft auf eine übernehmende Gesellschaft im Rahmen von Fusionen – nur einen teilweisen Vortrag der DBE‑Überschüsse der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft zugelassen hat, und zwar beschränkt auf den Anteil, den das Steuerreinvermögen der übertragenden Gesellschaft in der Summe aus dem Steuerreinvermögen der übernehmenden und der übertragenden Gesellschaft ausmacht.
36 Als Erstes ist festzustellen, dass Überschüsse, die definitiv besteuerte Einkünfte darstellen – wie die Einkünfte, die Gegenstand der belgischen DBE‑Regelung sind –, auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 nicht bedingungslos von einer übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft vorgetragen werden können. Diese Bestimmung beschränkt sich darauf, die Mitgliedstaaten, wie in den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dazu zu verpflichten, zwischen dem Befreiungssystem und dem Anrechnungssystem zu wählen, um eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung der Ausschüttung von Dividenden durch eine Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft zu vermeiden, ohne vorzuschreiben, wie die Mitgliedstaaten, die das Befreiungssystem gewählt haben, dieses auszugestalten haben.
37 Folglich können die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der Erfordernisse ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung frei darüber bestimmen, wie das in Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 vorgeschriebene Ergebnis erreicht werden soll (Beschluss vom 4. Juni 2009, KBC Bank und Beleggen, Risicokapitaal, Beheer, C‑439/07 und C‑499/07, EU:C:2009:339, Rn. 50).
38 Als Zweites sehen weder die Richtlinie 90/434 noch irgendein anderer Unionsrechtsakt im Zusammenhang mit Fusionen einen Anspruch auf einen bedingungslosen Vortrag von Überschüssen wie den in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten von der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft vor, wie dies von Allianz Benelux gefordert wird.
39 Als Drittes ist zu prüfen, ob eine DBE‑Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine direkte oder eine indirekte Besteuerung der bezogenen Dividenden zur Folge hat, die mit Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 unvereinbar wäre.
40 Was zum einen das Vorliegen einer direkten Besteuerung von Dividenden betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende DBE‑Regelung sichergestellt werden kann, dass die von der übertragenden Gesellschaft bezogenen Dividenden bei der übernehmenden Gesellschaft nicht besteuert werden. Diese Regelung sieht nämlich vor, dass zunächst die von der Muttergesellschaft bezogenen Dividenden in deren Besteuerungsgrundlage einbezogen werden und in einem zweiten Schritt ein Betrag in Höhe von 95 % dieser Dividenden von dieser Besteuerungsgrundlage abgezogen wird, sofern bei der Muttergesellschaft nach Abzug der anderen steuerfreien Gewinne noch steuerpflichtige Gewinne verbleiben. Folglich führt diese Regelung nicht zu einer direkten Besteuerung der nach Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 steuerbefreiten Dividenden, was im Übrigen auch keiner der Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, geltend gemacht hat.
41 Was zum anderen das Vorliegen einer etwaigen indirekten Besteuerung von Dividenden betrifft, der Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 – wie in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt –entgegenstünde, ist zu prüfen, ob die in dieser Bestimmung vorgesehene Verpflichtung den steuerlichen Wirkungen zuwiderläuft, die in Bezug auf die Besteuerungsgrundlage der die Dividenden beziehenden Gesellschaft dadurch eintreten, dass es bei einer Fusion durch Übernahme zu einer Beschränkung des Vortrags von Überschüssen gemäß einer DBE‑Regelung kommt.
42 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Urteil vom 19. Dezember 2019, Brussels Securities (C‑389/18, EU:C:2019:1132), in dem es um die Reihenfolge ging, nach der im belgischen Steuerrecht die anrechnungsfähigen Einkünfte – insbesondere DBE‑Überschüsse im Vergleich zu anderen Einkünften, bei denen die Übertragung des Steuerabzugs zeitlich begrenzt war – von den steuerpflichtigen Gewinnen abgezogen wurden, der Gerichtshof den in jener Rechtssache in Rede stehenden Sachverhalt, wonach die Muttergesellschaft beim Steuerabzug den Vorrang des Abzugs von DBE‑Überschüssen vor einem anderen Steuerabzug hatte beachten müssen, mit der Situation verglichen hat, die bestanden hätte, wenn das Königreich Belgien ein Befreiungssystem angewandt hätte, bei dem Dividenden schlicht und einfach aus der Besteuerungsgrundlage herausgenommen worden wären.
43 Wie sowohl die belgische Regierung als auch die Kommission dartun, kann eine solche Argumentation, die auf dem Vergleich zweier Sachverhalte beruht, auch entsprechend auf das Ausgangsverfahren übertragen werden, selbst wenn diese Argumentation vom Gerichtshof auf die Beziehung zwischen einer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft angewandt wurde.
44 Daher ist eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in der bei einer Fusion durch Übernahme sowohl auf den Vortrag von Verlusten als auch auf den Vortrag von DBE‑Überschüssen der übertragenden Gesellschaft dieselbe anteilige Begrenzung angewandt wurde, mit einer Situation zu vergleichen, in der der betreffende Mitgliedstaat ein einfaches Befreiungssystem eingeführt hat, das den Ausschluss von Dividenden von der Besteuerungsgrundlage vorsieht und in dem nur für den Verlustvortrag, nicht aber für den Vortrag von DBE‑Überschüssen eine anteilige Begrenzung gilt.
45 der Generalanwalt in Nr. 57 seiner Schlussanträge dargelegt hat, ergibt sich aus diesem Vergleich, dass dann, wenn bei Fusionen die anteilige Begrenzung sowohl für den Vortrag von DBE‑Überschüssen als auch für den Vortrag von Verlusten gilt, die Besteuerung nicht höher auszufallen scheint als dann, wenn die Dividenden von der Besteuerungsgrundlage der empfangenden Gesellschaft ausgeschlossen wären. Die Steuerneutralität scheint in beiden Konstellationen gewahrt zu sein.
46 Würden, wie von der Kommission dargetan, die DBE‑Überschüsse im Übrigen vollständig auf die übernehmende Gesellschaft übertragen, während für die Übertragung von Verlusten eine anteilige Begrenzung wie jene des Ausgangsverfahrens gälte, so befände sich diese Gesellschaft in einer günstigeren Lage, als wenn das Königreich Belgien eine einfache Befreiung vorgesehen hätte.
47 Außerdem hat der Gerichtshof in anderen Rechtssachen, in denen es um die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften ging, darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten frei darüber bestimmen können, wie das in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 vorgeschriebene Ergebnis erreicht werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C‑138/07, EU:C:2009:82, Rn. 61, und Beschluss vom 4. Juni 2009, KBC Bank und Beleggen, Risicokapitaal, Beheer, C‑439/07 und C‑499/07, EU:C:2009:339, Rn. 50 und 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die vorsieht, dass die von einer Gesellschaft bezogenen Dividenden in ihre Besteuerungsgrundlage einbezogen werden, bevor sie davon zu 95 % abgezogen werden, und die gegebenenfalls den Vortrag dieses Abzugs auf spätere Steuerjahre zulässt, jedoch im Fall der Übernahme dieser Gesellschaft im Rahmen einer Fusion die Übertragung des Vortrags dieses Abzugs auf die übernehmende Gesellschaft im Verhältnis des Anteils begrenzt, den das Steuerreinvermögen der übertragenden Gesellschaft in der Summe aus dem Steuerreinvermögen der übernehmenden und der übertragenden Gesellschaft ausmacht.