EuGH: Vorsteuerabzug - Berichtigung der ursprünglich vorgenommenen Abzüge
EuGH (2. Kammer), Urteil vom 10.10.2013 - Rs. C-622/11; Staatssecretaris van Financiën gegen Pactor Vastgoed BV
Tenor
Die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie der Einziehung der infolge der Berichtigung eines Vorsteuerabzugs geschuldeten Beträge bei einem anderem als dem Steuerpflichtigen, der den Abzug vorgenommen hat, entgegensteht.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Auslegung von Art. 20 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. L 102, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen) und der Pactor Vastgoed BV (im Folgenden: Pactor Vastgoed) wegen eines gegen diese ergangenen Bescheids über die Nacherhebung von Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 4 Abs. 3 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können auch solche Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Absatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere eine der folgenden Leistungen erbringen:
a) die Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor dem Erstbezug erfolgt. Die Mitgliedstaaten können die Einzelheiten der Anwendung dieses Kriteriums auf Umbauten von Gebäuden und den Begriff ‚dazugehöriger Grund und Boden‘ festlegen.
Die Mitgliedstaaten können andere Kriterien als das des Erstbezugs bestimmen, z. B. den Zeitraum zwischen der Fertigstellung des Gebäudes und dem Zeitpunkt seiner ersten Lieferung, oder den Zeitpunkt zwischen dem Erstbezug und der späteren Lieferung, sofern diese Zeiträume fünf bzw. zwei Jahre nicht überschreiten.
Als Gebäude gilt jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk; ..."
4 Art. 13 Teil B dieser Richtlinie bestimmt:
„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer: ...
g) die Lieferungen von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, mit Ausnahme der in Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe a) bezeichneten Gegenstände;
h) die Lieferungen unbebauter Grundstücke mit Ausnahme der in Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe b) bezeichneten Baugrundstücke."
5 In Art. 13 Teil C der Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren: ...
b) bei den Umsätzen nach Teil B Buchstaben d), g) und h).
Die Mitgliedstaaten können den Umfang des Optionsrechts einschränken; sie bestimmen die Modalitäten seiner Ausübung."
6 Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie in seiner sich aus deren Art. 28f ergebenden Fassung lautet:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden".
7 Art. 20 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„(1) Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird nach den von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten berichtigt, und zwar insbesondere:
a) wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war;
b) wenn sich die Faktoren, die bei der Festsetzung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Erklärung geändert haben, insbesondere bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten; die Berichtigung unterbleibt jedoch bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung geleistet wurde, bei einer Zerstörung oder einem ordnungsgemäß nachgewiesenen oder belegten Verlust oder Diebstahl sowie bei Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und Muster nach Artikel 5 Absatz 6. Bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung erfolgt, und bei Diebstahl können die Mitgliedstaaten jedoch eine Berichtigung verlangen. ...
(3) Bei Lieferung eines Investitionsgutes innerhalb des Berichtigungszeitraums ist dieses so zu behandeln, als ob es bis zum Ablauf des Berichtigungszeitraums weiterhin für eine wirtschaftliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen verwendet worden wäre. Diese wirtschaftliche Tätigkeit gilt als steuerpflichtig, wenn die Lieferung des genannten Investitionsgutes steuerpflichtig ist; sie gilt als steuerfrei, wenn die Lieferung steuerfrei ist. Die Berichtigung wird in diesen Fällen für den gesamten noch verbleibenden Berichtigungszeitraum auf einmal vorgenommen.
Die Mitgliedstaaten können jedoch von der vorgeschriebenen Berichtigung absehen, wenn es sich bei dem Abnehmer um einen Steuerpflichtigen handelt, der die betreffenden Investitionsgüter ausschließlich zu Umsätzen verwendet, bei denen die Mehrwertsteuer abgezogen werden kann.
(4) Zur Durchführung der Absätze 2 und 3 können die Mitgliedstaaten ...
- alle zweckdienlichen Vorkehrungen treffen, um zu gewährleisten, dass keine ungerechtfertigten Vorteile aus der Berichtigung entstehen;
- verwaltungsmäßige Vereinfachungen ermöglichen. ..."
8 Art. 21 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus") der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer schuldet
(1) im inneren Anwendungsbereich
a) der Steuerpflichtige, der einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt ... Die Mitgliedstaaten können außerdem bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerpflichtige die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat, ..."
9 Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Die Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung dürfen den Betrag der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer nur in unerheblichem Masse beeinflussen."
10 Nach Art. 1 der auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie erlassenen Entscheidung 88/498/EWG des Rates vom 19. Juli 1988 zur Ermächtigung des Königreichs der Niederlande, eine von Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie 77/388 abweichende Maßnahme einzuführen (ABl. L 269, S. 54), wird das Königreich der Niederlande in Abweichung von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie dazu ermächtigt, im Rahmen des in Art. 13 Teil C Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Rechts, für eine Besteuerung zu optieren, für die in Art. 13 Teil B Buchst. g und h genannten Umsätze eine Vorschrift anzuwenden, nach der der Käufer zum Mehrwertsteuerschuldner wird.
11 Die Entscheidung 88/498 wurde durch die Richtlinie 2006/69/EG des Rates vom 24. Juli 2006 zur Änderung der Richtlinie 77/388 zur Vereinfachung der Erhebung der Mehrwertsteuer sowie zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (ABl. L 221, S. 9) mit Wirkung vom 1. Januar 2008 geändert.
Niederländisches Recht
12 Art. 11 der Wet op de omzetbelasting (Umsatzsteuergesetz) vom 28. Juni 1968 (Staatsblad 1968, Nr. 329) (im Folgenden: Gesetz von 1968) bestimmt in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:
„(1) Unter den durch Verordnung festzulegenden Voraussetzungen sind von der Steuer befreit:
a) die Lieferung von Immobilien und Rechten daran, ausgenommen:
1. die Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor oder spätestens zwei Jahre nach dem Erstbezug erfolgt, sowie die Lieferung von Baugrundstücken;
2. andere Lieferungen als die Lieferungen im Sinne von Nr. 1 an Personen, die die Immobilie zu Zwecken nutzen, die nach Art. 15 in vollem oder nahezu vollem Umfang zum Steuerabzug berechtigen, sofern der Unternehmer, der die Lieferung ausführt, und derjenige, an den sie ausgeführt wird, ausweislich des notariellen Liefervertrags hierfür optiert oder anderenfalls gemeinsam einen entsprechenden Antrag beim Inspecteur [Finanzamt] gestellt haben und im Übrigen die durch ministerielle Regelung festzulegenden Voraussetzungen erfüllen; ..."
13 Art. 12a dieses Gesetzes lautet:
„Ist zu Unrecht von der Ausnahme des Art. 11 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 Gebrauch gemacht worden, weil derjenige, an den die Lieferung ausgeführt worden ist, die Immobilie nicht zu Zwecken nutzt, die nach Art. 15 in vollem oder nahezu vollem Umfang zum Steuerabzug berechtigen, wird die Steuer, die im Zusammenhang mit dieser Lieferung durch denjenigen, der die Lieferung ausgeführt hat, gemäß Art. 15 in Abzug gebracht worden ist, bei demjenigen nacherhoben, an den die Lieferung ausgeführt worden ist."
14 Art. 12 Abs. 5 des Gesetzes von 1968 sieht vor:
„In durch Verordnung festzulegenden Fällen wird die Steuer nach Bestimmungen, die durch oder auf der Grundlage dieser Verordnung zu erlassen sind, bei demjenigen erhoben, der die Lieferung oder Dienstleistung erhalten hat, um eine bessere Gewähr für die Erhebung der Steuer zu bieten."
15 Art. 24ba Abs. 1 Buchst. a des Uitvoeringsbesluit omzetbelasting 1968 (Durchführungsverordnung zur Umsatzsteuer von 1968) lautet:
„(1) Als Fälle im Sinne von Art. 12 Abs. 5 des [Gesetzes von 1968] werden bestimmt:
a) die Lieferung einer Immobilie oder eines Rechts daran nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 des [Gesetzes von 1968]".
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
16 Am 5. Januar 2000 lieferte ein Unternehmen (im Folgenden: Lieferer) eine Immobilie an Pactor Vastgoed, die im Einvernehmen mit ihm gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 des Gesetzes von 1968 für eine Besteuerung der Lieferung optierte.
17 Der Lieferer hatte die Immobilie einige Jahre zuvor erworben und dabei ebenfalls für eine Besteuerung dieses Erwerbs optiert. Daraufhin zog er die ihm in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer als Vorsteuer ab.
18 Ab April 2000 vermietete Pactor Vastgoed die Immobilie unter Befreiung von der Mehrwertsteuer.
19 Später verkaufte Pactor Vastgoed die Immobilie und lieferte sie Anfang Juli 2000. Diese Lieferung war von der Mehrwertsteuer befreit.
20 Da die niederländischen Finanzbehörden der Meinung waren, dass die Lieferung an Pactor Vastgoed nicht die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 des Gesetzes von 1968 erfüllt habe und folglich von der Mehrwertsteuer hätte befreit werden müssen, erließen sie für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 2000 gemäß Art. 12a dieses Gesetzes einen Nacherhebungsbescheid gegen Pactor Vastgoed über einen Betrag, der dem Betrag entsprach, der infolge der Berichtigung des vom Lieferer beim Erwerb der später an Pactor Vastgoed gelieferten Immobilie vorgenommenen Vorsteuerabzugs geschuldet wurde.
21 Pactor Vastgoed legte Einspruch gegen diesen Nacherhebungsbescheid ein.
22 Gegen die Zurückweisung des Einspruchs erhob Pactor Vastgoed Klage bei der Rechtbank te 's-Gravenhage.
23 Nachdem auch die Klage abgewiesen worden war, legte Pactor Vastgoed gegen die Entscheidung der Rechtbank te 's-Gravenhage Rechtsmittel beim Gerechtshof te 's-Gravenhage ein, der sowohl die Entscheidung als auch den gegen diese Gesellschaft ergangenen Nacherhebungsbescheid aufhob.
24 Der Staatssecretaris van Financiën legte gegen die Entscheidung des Gerechtshof te 's-Gravenhage beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein.
25 In diesem Zusammenhang hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist es nach der Sechsten Richtlinie zulässig, dass, falls der ursprüngliche Vorsteuerabzug gemäß Art. 20 dieser Richtlinie in dem Sinne berichtigt wird, dass der Betrag der abgezogenen Vorsteuer ganz oder teilweise zu erstatten ist, dieser Betrag bei einer anderen Person als dem Steuerpflichtigen, der zuvor den Vorsteuerabzug vorgenommen hat, insbesondere - wie bei Art. 12a des Gesetzes von 1968 - bei demjenigen, an den dieser Steuerpflichtige einen Gegenstand geliefert hat, erhoben wird?
Zur Vorlagefrage
26 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Sechste Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie der Einziehung der infolge der Berichtigung eines Vorsteuerabzugs geschuldeten Beträge bei einem anderen als dem Steuerpflichtigen, der den Abzug vorgenommen hat, entgegensteht.
27 Vorab ist daran zu erinnern, dass das Königreich der Niederlande zum einen von der in Art. 13 Teil C Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, wonach die Mitgliedstaaten ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen können, bei den Umsätzen nach Art. 13 Teil B Buchst. g dieser Richtlinie für eine Besteuerung zu optieren, und zum anderen auf der Grundlage von Art. 27 der Richtlinie vom Rat ermächtigt wurde, im Rahmen des in Art. 13 Teil C Abs. 1 Buchst. b vorgesehenen Rechts, für eine Besteuerung zu optieren, in Abweichung von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie eine Vorschrift anzuwenden, nach der der Käufer zum Mehrwertsteuerschuldner wird.
28 Vor diesem Hintergrund wurden die Lieferungen der im Ausgangsverfahren fraglichen Immobilie besteuert, und die Mehrwertsteuer für diese Lieferungen wurde vom Lieferer und dann von Pactor Vastgoed gezahlt.
29 Im Ausgangsverfahren geht es darum, ob die niederländischen Finanzbehörden verlangen dürfen, dass die Beträge, die infolge der Berichtigung des Vorsteuerabzugs geschuldet werden, den der Lieferer anlässlich seines Erwerbs der später an Pactor Vastgoed gelieferten Immobilie vorgenommen hatte, bei Pactor Vastgoed erhoben werden.
30 Hierzu ist festzustellen, dass die Sechste Richtlinie keinen ausdrücklichen Hinweis darauf enthält, welcher Steuerpflichtige für Steuerforderungen aufkommen muss, die sich aus der Berichtigung eines Vorsteuerabzugs ergeben.
31 Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der von ihnen nach Art. 13 Teil C Abs. 2 und Art. 20 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie festgelegten Modalitäten frei entscheiden könnten, welcher Steuerpflichtige in einem solchen Zusammenhang die Mehrwertsteuer zu tragen hat.
32 Die Bestimmung dessen, der die infolge der Berichtigung eines Vorsteuerabzugs geschuldeten Beträge zu zahlen hat, stellt nämlich keine „Modalität" im Sinne dieser Vorschriften, sondern - wie sich aus Art. 21 der Sechsten Richtlinie ergibt - eine materiell-rechtliche Regel des durch die Richtlinie eingeführten gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dar.
33 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der in der Sechsten Richtlinie vorgesehene Berichtigungsmechanismus Bestandteil der in der Richtlinie festgelegten Vorsteuerabzugsregelung ist (vgl. Urteile vom 18. Oktober 2012, TETS Haskovo, C-234/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30, und vom 29. November 2012, Gran Via Moineşti, C-257/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 39).
34 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sollen die in der Sechsten Richtlinie enthaltenen Berichtigungsvorschriften die Genauigkeit der Vorsteuerabzüge in der Weise erhöhen, dass die Neutralität der Mehrwertsteuer gewährleistet wird, so dass die auf einer früheren Stufe bewirkten Umsätze weiterhin nur insoweit zum Abzug berechtigen, als sie der Erbringung von Leistungen dienen, die dieser Steuer unterliegen. Mit diesen Vorschriften verfolgt die Richtlinie somit das Ziel, einen engen und unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Vorsteuerabzugsrecht und der Nutzung der betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen für besteuerte Ausgangsumsätze herzustellen (vgl. Urteil vom 15. Dezember 2005, Centralan Property, C-63/04, Slg. 2005, I-11087, Randnr. 57; TETS Haskovo, Randnr. 31, und Gran Via Moineşti, Randnr. 38).
35 Gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie wird der ursprüngliche Vorsteuerabzug berichtigt, wenn er höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.
36 Diese Vorschrift ist dahin auszulegen, dass bei einer Berichtigung des von einem Steuerpflichtigen vorgenommenen Vorsteuerabzugs dieser Steuerpflichtige die daraufhin geschuldeten Beträge zu entrichten hat.
37 Eine anderslautende Auslegung, wonach die Berichtigung eines die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen betreffenden Vorsteuerabzugs einen anderen als den Steuerschuldner belasten könnte, der die Lieferung oder Dienstleistung erhalten hat, wäre mit den von der Sechsten Richtlinie in diesem Bereich verfolgten Zielen, wie sie oben in Randnr. 34 des vorliegenden Urteils genannt wurden, unvereinbar.
38 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie im inneren Anwendungsbereich der Steuerpflichtige, der einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt, die Mehrwertsteuer schuldet (vgl. Beschluss vom 3. März 2004, Transport Service, C-395/02, Slg. 2004, I-1991, Randnr. 23). Wie zudem der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zählt diese Vorschrift abschließend auf, in welchen Fällen eine andere Person als dieser Steuerpflichtige zur Zahlung dieser Steuer herangezogen werden kann.
39 Die im Ausgangsverfahren fragliche Situation entspricht jedoch keinem dieser Fälle. Die den Mitgliedstaaten in dieser Bestimmung eingeräumte Möglichkeit, zu bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerpflichtige die Steuer gesamtschuldnerisch mit diesem zu entrichten hat, kann entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung nicht dahin ausgelegt werden, dass dieser Person eine eigenständige Steuerpflicht auferlegt werden darf.
40 Außerdem kann bei aufeinanderfolgenden Lieferungen einer Immobilie wie den im Ausgangsverfahren fraglichen der Umstand, dass sich einer der betroffenen Steuerpflichtigen bei der Lieferung, an der er beteiligt war, nicht an die Modalitäten bezüglich der Ausübung des Optionsrechts nach Art. 13 Teil C Abs. 2 der Sechsten Richtlinie gehalten hat, nicht zur Folge haben, dass er verpflichtet wäre, für die Steuerforderung aufzukommen, die infolge der Berichtigung eines Vorsteuerabzugs geschuldet wird, den ein anderer Steuerpflichtiger im Zusammenhang mit einer dieser Lieferungen vorgenommen hat, an der der erstgenannte Steuerpflichtige nicht beteiligt war.
41 In einer solchen Situation würden die Richtigkeit der Abzüge und damit die Neutralität der steuerlichen Belastung, die durch die Regelung über die Berichtigung der Abzüge gewährleistet werden sollen, in Frage gestellt.
42 Zu der von der niederländischen Regierung als ungerecht erachteten Situation, die dadurch entstehe, dass ein Steuerpflichtiger, der eine Immobilie geliefert habe, verpflichtet sei, Beträge zu zahlen, die aufgrund der Berichtigung des Vorsteuerabzugs geschuldet werden, den er beim Erwerb der Immobilie vorgenommen habe, obwohl derjenige, dem er diese geliefert habe, erklärt habe, er werde sie für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwenden, ist festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 89 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Mitgliedstaaten zwar gemäß Art. 13 Teil C Abs. 2 der Sechsten Richtlinie die Möglichkeit haben, den Umfang des Optionsrechts einzuschränken und die Modalitäten seiner Ausübung zu bestimmen, dass sie aber, wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, dem Steuerpflichtigen keine Verpflichtungen auferlegen dürfen, die über das hinausgehen, was nach dem Mehrwertsteuerrecht der Union zulässig ist.
43 Im Ausgangsverfahren ergibt sich die Situation, in der sich der Lieferer befindet, jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus den Bestimmungen des niederländischen Rechts, nach denen der Erwerber einer Immobilie, der für die Besteuerung optiert hat, die Immobilie für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwenden muss.
44 Weiter ist zum Vorbringen der niederländischen Regierung, dass Art. 12a des Gesetzes von 1968 gemäß Art. 20 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie gewährleisten solle, dass aus der Berichtigung keine ungerechtfertigten Vorteile entstünden, festzustellen, dass Pactor Vastgoed kein „ungerechtfertigter Vorteil" im Sinne von Art. 20 Abs. 4 entstanden ist, da zum einen, wie sich aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten ergibt, die Lieferung der im Ausgangsverfahren fraglichen Immobilie vom Lieferer an Pactor Vastgoed rückwirkend zum 5. Januar 2000 von der Mehrwertsteuer befreit und zum anderen die diese Lieferung betreffende, von Pactor Vastgoed entrichtete und als Vorsteuer abgezogene Mehrwertsteuer für nichtig erklärt wurde. Somit kann Pactor Vastgoed nicht auf der Grundlage dieser Vorschrift zur Zahlung der Mehrwertsteuer verpflichtet sein, die infolge der Berichtigung eines Abzugs geschuldet wird, den der Lieferer anlässlich eines anderen Umsatzes, an dem diese Gesellschaft nicht beteiligt war, nämlich seines ursprünglichen Erwerbs der Immobilie, vorgenommen hat.
45 Schließlich zielt die Entscheidung 88/498, mit der das Königreich der Niederlande ermächtigt wurde, im Rahmen des in Art. 13 Teil C Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie vorgesehenen Rechts, für eine Besteuerung zu optieren, in Abweichung von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie eine Vorschrift anzuwenden, nach der der Käufer zum Mehrwertsteuerschuldner wird, nicht darauf ab, dass die infolge der Berichtigung eines Vorsteuerabzugs geschuldeten Beträge von einem anderen als dem Steuerpflichtigen, der den Abzug vorgenommen hat, entrichtet werden, sondern darauf, dass im Rahmen der Lieferung einer Immobilie wie der im Ausgangsverfahren fraglichen die diese betreffende Mehrwertsteuer von ein und demselben Steuerpflichtigen, nämlich dem Erwerber der Immobilie, entrichtet und abgezogen wird.
46 Folglich hat es im Ausgangsverfahren die Entscheidung 88/498 zwar ermöglicht, dass der Lieferer und später Pactor Vastgoed als Erwerber der betreffenden Immobilie in Bezug auf die fraglichen Erwerbsvorgänge Steuerschuldner wurden, sie kann aber nicht rechtfertigen, dass Pactor Vastgoed die Beträge zahlen muss, die infolge der Berichtigung des Vorsteuerabzugs geschuldet werden, den der Lieferer im Rahmen eines Umsatzes, an dem diese Gesellschaft nicht beteiligt war, nämlich seines ursprünglichen Erwerbs dieser Immobilie, vorgenommen hat.
47 Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Sechste Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie der Einziehung der infolge der Berichtigung eines Vorsteuerabzugs geschuldeten Beträge bei einem anderen als dem Steuerpflichtigen, der den Abzug vorgenommen hat, entgegensteht.