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Steuerrecht
20.03.2025
Steuerrecht
EuGH: Von den Steuerbehörden in eine außerhalb des Anwendungsbereichs der Mehrwertsteuer stehende Übertragung eines Unternehmens umqualifizierter Verkauf

– Unmöglichkeit, die für diesen Umsatz entrichtete Mehrwertsteuer zurückzuerlangen (Rumänisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 13. 3. 2025 – Rs. C-640/23; Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Galaţi – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Vrancea, Direcţia Generală de Administrare a Marilor Contribuabili gegen Greentech SA

ECLI:EU:C:2025:175

BB-Online: BBL2025-725-1

Tenor

Die Art. 168 und 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, die es einem Steuerpflichtigen verwehrt, die Mehrwertsteuer, die er für einen Umsatz gezahlt hat, der auf eine Steuerprüfung hin von der Steuerverwaltung in einen nicht mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz umqualifiziert worden ist, als Vorsteuer abzuziehen, obwohl es unmöglich oder übermäßig schwierig erscheint, dass dieser Steuerpflichtige die somit rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer vom Verkäufer erstattet bekommt. Allerdings gebieten die genannten Grundsätze, dass dieser Steuerpflichtige in einer solchen Situation seinen Erstattungsanspruch unmittelbar gegenüber der Steuerverwaltung geltend machen kann.

 

Aus den Gründen

1            Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie der Art. 2, 19, 168 und 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2            Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Galați – Administrația Județeană a Finanțelor Publice Vrancea (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Galați – Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Vrancea) und der Direcția Generală de Administrare a Marilor Contribuabili (Generaldirektion für die Verwaltung von Großsteuerzahlern, Rumänien) auf der einen und der Greentech SA auf der anderen Seite wegen Mehrwertsteuernachforderungen und entsprechender Nebenforderungen, die gegen Greentech festgesetzt wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3            Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)          Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt; …“

4            Art. 19 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können die Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens, die entgeltlich oder unentgeltlich oder durch Einbringung in eine Gesellschaft erfolgt, behandeln, als ob keine Lieferung von Gegenständen vorliegt, und den Begünstigten der Übertragung als Rechtsnachfolger des Übertragenden ansehen.

Die Mitgliedstaaten können die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Wettbewerbsverzerrungen für den Fall zu vermeiden, dass der Begünstigte nicht voll steuerpflichtig ist. Sie können ferner die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieses Artikels vorzubeugen.“

5            Art. 29 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Artikel 19 gilt unter den gleichen Voraussetzungen für Dienstleistungen.“

6            Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

7            Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)          die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

b)          die Mehrwertsteuer, die für Umsätze geschuldet wird, die der Lieferung von Gegenständen beziehungsweise dem Erbringen von Dienstleistungen gemäß Artikel 18 Buchstabe a sowie Artikel 27 gleichgestellt sind;

c)           die Mehrwertsteuer, die für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i geschuldet wird;

d)          die Mehrwertsteuer, die für dem innergemeinschaftlichen Erwerb gleichgestellte Umsätze gemäß den Artikeln 21 und 22 geschuldet wird;

e)          die Mehrwertsteuer, die für die Einfuhr von Gegenständen in diesem Mitgliedstaat geschuldet wird oder entrichtet worden ist.“

8            Art. 179 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.

Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die nur die in Artikel 12 genannten gelegentlichen Umsätze bewirken, vorschreiben, dass sie das Recht auf Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.“

9            Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“

Rumänisches Recht

Steuergesetzbuch

10          In Art. 3 Buchst. a der Legea nr. 571/2003 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch) vom 22. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 927 vom 23. Dezember 2003, im Folgenden: Steuergesetzbuch) heißt es:

„Die in diesem Gesetzbuch geregelten Steuern und Abgaben basieren auf den folgenden Grundsätzen:

a)          Neutralität der steuerlichen Maßnahmen in Bezug auf die verschiedenen Kategorien von Anlegern und von Kapital sowie die Formen des Eigentums, wodurch gleiche Bedingungen für rumänische und ausländische Investoren und rumänisches und ausländisches Kapital gewährleistet wird“.

11          Art. 126 Abs. 1 des Steuergesetzbuchs sieht vor:

„Für Mehrwertsteuerzwecke sind in Rumänien Umsätze steuerbar, die kumulativ die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

a)          Umsätze, die im Sinne der Art. 128 bis 130 eine mehrwertsteuerpflichtige Lieferung von Gegenständen oder eine mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistung darstellen bzw. einer solchen Lieferung oder Dienstleistung gleichgestellt sind und gegen Entgelt getätigt werden“.

12          Art. 128 Abs. 7 des Steuergesetzbuchs bestimmt:

„Die Übertragung des gesamten oder eines Teils des Vermögens anlässlich der Übertragung von Aktiva oder gegebenenfalls von Passiva, sei es durch Verkauf oder infolge von Vorgängen wie Spaltung, Verschmelzung oder Sacheinlage in das Kapital einer Gesellschaft, stellt keine Lieferung von Gegenständen dar, wenn der Empfänger des Vermögens Steuerpflichtiger ist. Der Empfänger des Vermögens gilt für die Zwecke der gesetzlich vorgesehenen Berichtigung des Vorsteuerabzugsrechts als Nachfolger des Veräußerers.“

13          In Art. 145 Abs. 2 des Steuergesetzbuchs heißt es:

„Der Steuerpflichtige ist berechtigt, die Vorsteuer für Erwerbe abzuziehen, wenn diese zur Verwendung bei folgenden Umsätzen bestimmt sind:

a)          steuerbare Umsätze;

b)          Umsätze aus wirtschaftlichen Tätigkeiten, für die der Ort der Lieferung/Dienstleistung als im Ausland gelegen gilt, in dem Fall, dass die Steuer abzugsfähig wäre, wenn diese Umsätze in Rumänien bewirkt worden wären;

c)           nach den Art. 143, 144 und 1441 befreite Umsätze;

d)          nach Art. 141 Abs. 2 Buchst. a Nrn. 1 bis 5 und Buchst. b befreite Umsätze, wenn der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger außerhalb der [Europäischen] Gemeinschaft ansässig ist oder wenn diese Umsätze unmittelbar mit zur Ausfuhr in einen Staat außerhalb der Gemeinschaft bestimmten Gegenständen zusammenhängen, sowie Umsätze, die von Vermittlern, die im Namen und für Rechnung Dritter handeln, bewirkt werden, wenn diese an der Durchführung dieser Umsätze beteiligt sind;

e)          Umsätze im Sinne von Art. 128 Abs. 7 und Art. 129 Abs. 7, wenn die Steuer auf die betreffende Übertragung erhoben wurde.“

 Steuerverfahrensordnung

14          Art. 84 der Ordonanța Guvernului nr. 92/2003 privind Codul de procedură fiscală (Regierungsverordnung Nr. 92/2003 über die Steuerverfahrensordnung, im Folgenden: Steuerverfahrensordnung) bestimmt:

„(1)        Steuererklärungen können vom Steuerpflichtigen auf eigene Initiative bis zum Ablauf der Verjährungsfrist für das Recht zur Feststellung von Steuerverbindlichkeiten berichtigt werden.

(2)         Steuererklärungen können durch Einreichung einer berichtigenden Erklärung berichtigt werden, wann immer der Steuerpflichtige Fehler in der ursprünglichen Erklärung feststellt.

(3)         Im Fall der Mehrwertsteuer erfolgt die Berichtigung von Fehlern in Mehrwertsteuererklärungen nach den Bestimmungen des Steuergesetzbuchs. Flüchtigkeitsfehler in der Mehrwertsteuererklärung werden nach den Verfahren berichtigt, die durch Erlass des Präsidenten der Agenția Națională de Administrare Fiscală (Nationale Steuerverwaltungsbehörde, ANAF) genehmigt wurden.

(4)         Steuererklärungen können nicht abgegeben und nicht berichtigt werden, nachdem der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben wurde; davon ausgenommen sind Fälle, in denen die Berichtigung auf der Erfüllung oder Nichterfüllung gesetzlich vorgesehener Voraussetzungen beruht, die eine Berichtigung der Bemessungsgrundlage und/oder der entsprechenden Besteuerung vorschreiben.

(5)         Unter ‚Fehlern‘ im Sinne dieses Artikels sind Fehler zu verstehen, die sich auf den Betrag der Steuern, Abgaben und Beiträge, auf die der Steuer unterliegenden Gegenstände und Einkünfte sowie auf andere Elemente der Bemessungsgrundlage beziehen.

(6)         Wenn der Steuerpflichtige während der Steuerprüfung Steuererklärungen abgibt oder berichtigt, die sich auf die Zeiträume, Steuern, Abgaben, Beiträge und anderen Einkünfte beziehen, die Gegenstand der Steuerprüfung sind, werden diese von der Steuerbehörde nicht berücksichtigt.“

15          Art. 90 der Steuerverfahrensordnung sieht vor:

„(1)        Die Höhe der Steuerverbindlichkeiten wird unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt.

(2)         Der Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung kann auf Veranlassung der Steuerbehörde oder auf Antrag des Steuerpflichtigen auf der Grundlage der Feststellungen der zuständigen Steuerbehörde aufgehoben oder geändert werden.

(3)         Der Vorbehalt der Nachprüfung wird erst mit Ablauf der Verjährungsfrist oder aufgrund einer innerhalb der Verjährungsfrist durchgeführten Steuerprüfung aufgehoben.

(4)         Berichtigt der Steuerpflichtige die Steuererklärungen gemäß Art. 84 Abs. 4, lebt der Vorbehalt der Nachprüfung wieder auf.“

16          Art. 91 der Steuerverfahrensordnung bestimmt:

„(1)        Das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung von Steuerverbindlichkeiten verjährt in fünf Jahren, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.

(2)         Die in Abs. 1 vorgesehene Verjährungsfrist beginnt am 1. Januar des Jahres zu laufen, das auf das Jahr folgt, in dem die Steuerforderung gemäß Art. 23 entstanden ist, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.

(3)         Das Recht zur Festsetzung von Steuerverbindlichkeiten verjährt nach zehn Jahren, wenn sich die Verbindlichkeiten aus der Begehung einer Straftat ergeben.

(4)         Die Frist nach Abs. 3 beginnt mit dem Zeitpunkt der Begehung der Tat zu laufen, die eine Straftat darstellt, die als solche durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung geahndet worden ist.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

17          Im Zeitraum vom 23. November 2015 bis zum 15. Juli 2016 wurde bei Greentech eine Steuerprüfung durchgeführt, die zum Erlass eines Steuerbescheids führte, mit dem gegenüber Greentech Nachforderungen in Höhe von 4 388 720 rumänischen Lei (RON) (ca. 882 352 Euro) betreffend Mehrwertsteuer und entsprechende Nebenforderungen geltend gemacht wurde. Die Geltendmachung dieser Nachforderungen resultierte aus der von der rumänischen Steuerverwaltung vorgenommenen Umqualifizierung des Umsatzes der Veräußerung von Gerätschaften durch die Greenfiber International SA (im Folgenden: Greenfiber) an Greentech – der ursprünglich als mehrwertsteuerpflichtige Lieferung von Gegenständen angesehen wurde, die Greentech zum Vorsteuerabzug berechtigte – in eine Übertragung eines Teilvermögens zwischen zwei verbundenen Unternehmen, d. h. einen Umsatz, der gemäß Art. 128 Abs. 7 des Steuergesetzbuchs nicht mehrwertsteuerpflichtig ist.

18          Zudem wurde im Zeitraum vom 28. Mai bis zum 17. November 2015 auch bei Greenfiber eine Steuerprüfung durchgeführt, aufgrund derer am 26. November 2015 ein Steuerbescheid erging. Im Rahmen dieser Prüfung befand die Steuerverwaltung, dass die Art und Weise, wie Greenfiber und Greentech den Umsatz der Übertragung von Gegenständen steuerlich behandelt hätten – nämlich, dass der Umsatz der Mehrwertsteuer unterworfen worden sei – korrekt sei und dass Greenfiber daher die auf diesen Umsatz entfallende Mehrwertsteuer ordnungsgemäß erhoben und an den Fiskus abgeführt habe.

19          Nachdem der von Greentech gegen den Steuerbescheid betreffend die Mehrwertsteuernachforderungen eingelegte Einspruch teilweise zurückgewiesen worden war, erhob Greentech Klage bei der Curtea de Apel Ploiești (Berufungsgericht Ploiești, Rumänien).

20          Am 26. November 2018 gab dieses Gericht der Klage von Greentech statt und hob die Entscheidung über die Zurückweisung des Einspruchs teilweise auf (im Folgenden: Urteil vom 26. November 2018).

21          Am 12. März 2019 hob die Curtea de Apel Ploiești (Berufungsgericht Ploiești) außerdem den Steuerbescheid und den Steuerprüfungsbericht betreffend die bei Greentech durchgeführte Prüfung teilweise auf.

22          Die rumänische Steuerverwaltung legte gegen das Urteil vom 26. November 2018, ergänzt durch das Urteil vom 12. März 2019, bei der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel ein.

23          Am 23. November 2021 ließ dieses Gericht das Rechtsmittel zu, hob das Urteil vom 26. November 2018 teilweise auf und gab nach erneuter Entscheidung der Klage von Greentech insoweit teilweise statt, als es die angefochtenen Steuerverwaltungsakte nur in Bezug auf die für das Jahr 2009 festgesetzten Nachforderungen aufhob (im Folgenden: Urteil vom 23. November 2021). Die Klage von Greentech wurde im Übrigen als unbegründet abgewiesen und der ihr zuvor zugesprochene Kostenbetrag herabgesetzt.

24          Greentech beantragte bei der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) die Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Begründung, dass das genannte Urteil gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofs verstoße, u. a. gegen die Urteile vom 26. April 2017, Farkas (C-564/15, EU:C:2017:302), und vom 11. April 2019, PORR Építési Kft. (C-691/17, EU:C:2019:327), wonach das Recht auf Vorsteuerabzug auch in den Fällen anerkannt werden müsse, in denen die betreffenden Umsätze nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fielen, wenn sich aus den besonderen Umständen des Falls ergebe, dass es für denjenigen, der die Mehrwertsteuer entrichtet habe, unmöglich oder äußerst schwierig wäre, sie zurückzuerlangen, da andernfalls gegen die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität verstoßen würde.

25          Am 31. Januar 2023 gab die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) dem Wiederaufnahmeantrag statt und hob das Urteil vom 23. November 2021 teilweise, nämlich im Hinblick auf den Rechtsmittelgrund betreffend die Umqualifizierung des Umsatzes der Veräußerung von Gerätschaften in eine Vermögensübertragung, auf. Dieses Gericht ordnete an, dass erneut über diesen Rechtsmittelgrund entschieden werde, und hörte die Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 9. Mai 2023 an.

26          Das vorlegende Gericht weist u. a. darauf hin, dass, da mit dem Urteil vom 26. November 2018 bestätigt worden sei, dass die steuerliche Behandlung des in Rede stehenden Umsatzes durch Greenfiber und Greentech korrekt gewesen sei, diese Gesellschaften keinen triftigen Grund gehabt hätten, die Rechnung, in der dieser Umsatz festgestellt worden sei, vor der Verkündung des Urteils vom 23. November 2021 zu berichtigen. Außerdem habe Greenfiber diese Rechnung erst nach Verkündung des letztgenannten Urteils berichtigen können. Zum Zeitpunkt dieses Urteils sei das Recht, die Rechnung zu berichtigen, jedoch bereits verjährt gewesen, da die Verjährungsfrist im Mai 2021 abgelaufen gewesen sei.

27          Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Situation, mit der es befasst sei, mit der vergleichbar sei, die der Rechtssache zugrunde gelegen habe, in der das Urteil vom 26. April 2017, Farkas (C-564/15, EU:C:2017:302), ergangen sei, da es zumindest dem Anschein nach objektiv unmöglich sei, die Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen, weil Greenfiber daran gehindert sei, die Rechnung und die Mehrwertsteuererklärung zu berichtigen, nachdem die insoweit vorgesehene Verjährungsfrist abgelaufen sei. Diese Situation sei auch mit derjenigen vergleichbar, die der Rechtssache zugrunde gelegen habe, in der das Urteil vom 11. April 2019, PORR Építési Kft. (C-691/17, EU:C:2019:327), ergangen sei, da es unmöglich oder übermäßig schwierig erscheine, die Mehrwertsteuer vom Rechnungsaussteller erstattet zu bekommen. Zum einen sei nämlich die Verjährungsfrist in Steuersachen abgelaufen, so dass Greenfiber die Rechnungen nicht berichtigen könne, und zum anderen habe die rumänische Steuerverwaltung im Anschluss an die bei Greenfiber durchgeführte Steuerprüfung bestätigt, dass Greenfiber die betreffende Mehrwertsteuer ordnungsgemäß in Rechnung gestellt und abgeführt habe.

28          Das vorlegende Gericht fragt sich ferner, ob es im Hinblick auf die Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie von Bedeutung ist, dass die rumänische Steuerverwaltung ein und dasselbe Handelsgeschäft betreffend Gerätschaften, für deren Übertragung Mehrwertsteuer erhoben wurde, auf zwei völlig unterschiedliche Arten behandelt hat, nämlich zum einen als mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz, was Greenfiber betrifft, bei der diese Gerätschaften erworben wurden und an die Greentech die Mehrwertsteuer gezahlt hat, und zum anderen als nicht mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz, was Greentech betrifft.

29          Unter diesen Umständen hat die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen die in den Art. 2, 19 und 168 in Verbindung mit Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie niedergelegten Grundsätze der Neutralität, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes der Verweigerung der Anerkennung des Rechts auf Abzug der Mehrwertsteuer, die im Rahmen eines Verkaufs entrichtet wurde, der später von den Steuerbehörden in eine Übertragung eines Unternehmens außerhalb des Anwendungsbereichs der Mehrwertsteuer umqualifiziert wurde, entgegen, wenn die Mehrwertsteuer bereits vom Staat erhoben wurde und ihre Erstattung nach nationalem Recht nicht möglich ist?

Zur Vorlagefrage

30          Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften und Grundsätze zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2023, Groenland Poultry, C-169/22, EU:C:2023:638, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31          Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass ein wesentliches Merkmal der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation darin besteht, dass es Greentech den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge nunmehr tatsächlich unmöglich ist, die Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen, die der Verkäufer, d. h. Greenfiber, ihr zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat. In einer solchen Situation ist der Grundsatz, dem insbesondere Rechnung zu tragen ist, der Effektivitätsgrundsatz und nicht der Grundsatz der Rechtssicherheit oder der Grundsatz des Vertrauensschutzes.

32          Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist daher davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Vorlagefrage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 168 und 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Verwaltungspraxis entgegenstehen, die es einem Steuerpflichtigen verwehrt, die Mehrwertsteuer, die er für einen Umsatz gezahlt hat, der auf eine Steuerprüfung hin von der Steuerverwaltung in einen nicht mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz umqualifiziert worden ist, als Vorsteuer abzuziehen, obwohl es unmöglich oder übermäßig schwierig erscheint, dass dieser Steuerpflichtige die somit rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer vom Verkäufer erstattet bekommt.

33          Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann (Urteile vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum, C-368/09, EU:C:2010:441, Rn. 37, und vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 42). Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteile vom 22. Februar 2001, Abbey National, C-408/98, EU:C:2001:110, Rn. 24, und vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 43).

34          Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der zwischen Greenfiber und Greentech erfolgte Umsatz, was den letztgenannten dieser Steuerpflichtigen betrifft, von der rumänischen Steuerverwaltung endgültig als nicht mehrwertsteuerpflichtiger Umsatz eingestuft worden ist und dass Greenfiber daran gehindert ist, die Rechnung über diesen Umsatz und die Mehrwertsteuererklärung zu berichtigen, da die dafür vorgesehene Verjährungsfrist abgelaufen ist.

35          Insoweit ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der ein Steuerpflichtiger einen zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuerbetrag entrichtet hat, grundsätzlich Sache des Rechnungsausstellers, die Rechnung zu berichtigen, wobei es, da die Mehrwertsteuerrichtlinie keine Bestimmung über die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch den Rechnungsaussteller enthält, grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine solche Mehrwertsteuer berichtigt werden kann (Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, C-397/21, EU:C:2022:790, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36          Es ist nämlich Aufgabe der Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung der Neutralität der Mehrwertsteuer in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die Möglichkeit vorzusehen, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist (Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, C-397/21, EU:C:2022:790, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37          Zudem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass ein nationales System, in dem zum einen der Dienstleistungserbringer, der die Mehrwertsteuer irrtümlich an die Steuerbehörden abgeführt hat, deren Erstattung verlangen kann und zum anderen der Dienstleistungsempfänger gegen diesen Dienstleistungserbringer eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung erheben kann, die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität beachtet. Denn ein solches System ermöglicht es dem Dienstleistungsempfänger, der mit der irrtümlich in Rechnung gestellten Steuer belastet war, die rechtsgrundlos gezahlten Beträge erstattet zu bekommen (Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, C-397/21, EU:C:2022:790, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38          Ist, wie im vorliegenden Fall, die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig schwierig geworden, gebieten die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel vorsehen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte und gezahlte Steuer erstattet zu bekommen, insbesondere indem er seinen Erstattungsanspruch unmittelbar gegenüber den Steuerbehörden geltend macht (Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, C-397/21, EU:C:2022:790, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn der Verkäufer die Rechnung bezüglich des betreffenden Umsatzes nicht mehr berichtigen kann und es dem Erwerber somit unmöglich ist, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer vom Verkäufer erstattet zu bekommen, muss der Erwerber nach der oben angeführten Rechtsprechung seinen Erstattungsanspruch also unmittelbar gegenüber der Steuerverwaltung geltend machen können.

39          Eine solche Geltendmachung des Erstattungsanspruchs ist allerdings, wie sich aus Rn. 45 des Urteils vom 11. April 2019, PORR Építési Kft. (C-691/17, EU:C:2019:327), ergibt, von einem Antrag auf Vorsteuerabzug wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu unterscheiden.

40          Denn durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden, und das Recht auf Vorsteuerabzug besteht nur für diejenigen Steuern, die geschuldet werden – d. h. mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen – oder die entrichtet worden sind, soweit sie geschuldet wurden (Urteil vom 11. April 2019, PORR Építési Kft., C-691/17, EU:C:2019:327, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich kann ein Steuerpflichtiger dann, wenn kein mehrwertsteuerpflichtiger Umsatz gegeben ist, kein Recht auf Vorsteuerabzug im Zusammenhang mit diesem Umsatz geltend machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2019, PORR Építési Kft., C-691/17, EU:C:2019:327, Rn. 37). Diese Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keine Gefahr von Steuerausfällen besteht.

41          Da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Umsatz endgültig als nicht mehrwertsteuerpflichtiger Umsatz eingestuft worden ist, war die von Greentech an den Aussteller der Rechnung, Greenfiber, entrichtete Mehrwertsteuer aber nicht „geschuldet“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

42          Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 168 und 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, die es einem Steuerpflichtigen verwehrt, die Mehrwertsteuer, die er für einen Umsatz gezahlt hat, der auf eine Steuerprüfung hin von der Steuerverwaltung in einen nicht mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz umqualifiziert worden ist, als Vorsteuer abzuziehen, obwohl es unmöglich oder übermäßig schwierig erscheint, dass dieser Steuerpflichtige die somit rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer vom Verkäufer erstattet bekommt. Allerdings gebieten die genannten Grundsätze, dass dieser Steuerpflichtige in einer solchen Situation seinen Erstattungsanspruch unmittelbar gegenüber der Steuerverwaltung geltend machen kann.

Kosten

43          Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

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