FG Münster: Vertrauensschutz für Bauleistende
FG Münster, Beschluss vom 12.8.2015 – 15 V 2153/15 U
Leitsätze
Das FG Münster hat in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entschieden, dass bei fehlender Umkehr der Umsatzsteuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) einer Inanspruchnahme des Bauleistenden Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegenstehen können.
Die Antragstellerin erbrachte Bauleistungen gegenüber einem Bauträger, der eigene Grundstücke zum Zweck des Verkaufs bebaute. Entsprechend der damaligen Verwaltungsauffassung gingen sie und das FA zunächst übereinstimmend davon aus, dass der Leistungsempfänger die auf die Bauleistungen entfallende Umsatzsteuer schulde. Nachdem diese Erlasslage aufgrund des zwischenzeitlich ergangenen BFH-Urteils vom 22.8.2013 (V R 37/10) nicht mehr maßgeblich war, setzte das FA die Umsatzsteuer nunmehr gegenüber der Antragstellerin fest. Diese berief sich hiergegen auf Vertrauensschutz.
Das FG Münster setzte im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Vollziehung der geänderten Bescheide wegen ernstlicher Zweifel an deren Rechtmäßigkeit aus. Ein Steuerbescheid dürfe nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden, wenn ein Verwaltungserlass vom BFH als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend angesehen werde. Die Regelung in § 27 Abs. 19 S. 2 UStG, die den Vertrauensschutz in derartigen Fällen ausschließt, begegne nach Auffassung des Senats sowohl verfassungsrechtlichen als auch europarechtlichen Bedenken
Aus den Gründen
I.
Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens strittig, ob der Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für 2011 schutzwürdiges Vertrauen der Antragstellerin (§ 176 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO)) entgegensteht.
Gegenstand des Unternehmens der Antragstellerin ist die Erbringung von Bauleistungen für die Errichtung von Gebäuden. Im Streitjahr 2011 erbrachte die Antragstellerin Bauleistungen an die X GmbH & Co. Bauträger KG (X KG). Am Kapital der Antragstellerin waren im Streitzeitraum G N zu 75 % und E T zu 25 % als Kommanditisten beteiligt. An der X KG waren im Streitzeitraum G N zu 95 % und K C zu 5 % als Kommanditist beteiligt. In den durch die Antragstellerin gegenüber der X KG ausgestellten Rechnungen heißt es: „Die Rechnung wird ohne Umsatzsteuer erstellt, da die Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger nach § 13b Abs. 1 Nr. 4 UStG übergeht.“
Die Antragstellerin gab mit Eingang beim Antragsgegner am 28.12.2012 eine eine Erstattung ausweisende Umsatzsteuererklärung für 2011 mit einem Umsatzsteuerbetrag von 318.354,61 € ab. In der Erklärung gab sie an, steuerpflichtige Umsätze i. S. des § 13b Abs. 2 Nr. 2 bis Nr. 4 und Nr. 6 bis Nr. 9 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) im Umfang von 1.015.889 € getätigt zu haben, für die der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer schulde. Der Antragsgegner stimmte der Umsatzsteuererklärung für 2011 am 13.2.2013 zu.
Beginnend im März 2015 führte der Antragsgegner bei der Antragstellerin eine Umsatzsteuersonderprüfung durch. Der Prüfer traf ausweislich des Berichts über die Umsatzsteuersonderprüfung vom 9.3.2015, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird, im Wesentlichen die folgenden Feststellungen: Von den in 2011 erklärten Bauleistungen i. S. des § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG i. H. von 1.015.889 € würden 1.006.752,34 € auf Bauleistungen entfallen, die an die X KG erbracht worden seien. Bei der Erteilung der Rechnungen seien sowohl der Leistungsempfänger, die X KG, als auch die Antragstellerin unter Berücksichtigung der im Zeitpunkt der Leistungserbringung geltenden Verwaltungsanweisungen davon ausgegangen, dass der Leistungsempfänger die für die Bauleistung entstandene Umsatzsteuer nach § 13b UStG schulde. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe mit Urteil vom 22.8.2013 V R 37/10 (Sammlung amtlich veröffentlichter Entscheidungen des BFH - BFHE - 243, 20, Bundessteuerblatt - BStBl. - II 2014, 128) entschieden, dass es für die Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger darauf ankomme, dass der Leistungsempfänger die an ihn erbrachten Bauleistungen seinerseits zur Erbringung einer derartigen Leistung verwende. Auf den Anteil der vom Leistungsempfänger ausgeführten Bauleistungen im Sinne des § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG an den insgesamt von ihm getätigten Umsätzen komme es entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung (vgl. Abschnitt (Abschn.) 13b.3 Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteueranwendungserlasses (UStAE)) nicht an. Der Leistungsempfänger sei dann nicht Steuerschuldner, wenn er Lieferungen erbringe, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen würden. Bauträger, die eigene Grundstücke zum Zwecke des Verkaufs bebauen würden, würden bloße Grundstückslieferungen ausführen und seien daher für von Dritten bezogene Bauleistungen, die sie für derartige Veräußerungen verwenden würden, nicht Steuerschuldner. Unter Berufung auf das BFH-Urteil vom 22.8.2013 V R 37/10 (aaO) habe die X KG die Erstattung der betreffend die Bauleistungen entrichteten Umsatzsteuer begehrt. Für die Antragstellerin als Bauleistende bedeute dies, dass sie Steuerschuldnerin gemäß § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG sei. Die Regelung des § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG i. V. mit Abs. 5 Satz 2 UStG sei nicht mehr anzuwenden. Daher sei die Umsatzsteuer für 2011 lt. Tz. 3.3 des Berichts um 191.282,94 € zu erhöhen. Lt. Anlage zum Bericht werde unter Abrundung der Bemessungsgrundlage auf 1.006.752 € nur noch ein Erhöhungsbetrag von 191.282,88 € angenommen.
Mit Bescheid vom 1.4.2015 setzte der Antragsgegner, entsprechend den Feststellungen der Umsatzsteuersonderprüfung, die Umsatzsteuer auf 509.637,49 € und damit um 191.282,88 € höher fest. Dagegen legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Zur Begründung führte sie aus, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliege. Durch Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 11.3.2010 (BStBl. I 2010, 254) sei klargestellt worden, dass auch Bauträger, die zwar ganz überwiegend Umsätze erbringen würden, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen würden, als Bauleistende anzusehen seien, wenn sie Werklieferungen im Sinne des § 3 Abs. 4 UStG erbringen würden, die mehr als 10 % der Summe ihrer steuerbaren und nicht steuerbaren Umsätze ausmachen würden. Die Antragstellerin habe sich demnach völlig korrekt nach der Auffassung dieses BMF-Schreibens und dessen Vorgaben verhalten und in Anwendung von § 13b UStG zutreffend Rechnungen über den Nettobetrag an den Leistungsempfänger mit dem Hinweis des Wechsels der Steuerschuldnerschaft ausgestellt. Die Antragstellerin könne sich daher auf § 176 Abs. 2 AO berufen. § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG verstoße gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot und könne daher die Anwendung von § 176 Abs. 2 AO nicht ausschließen. Im Vertrauen auf die vermeintliche Rechtslage vor Erlass des BFH-Urteils vom 22.8.2013 V R 37/10 (aaO) habe die Antragstellerin mit den Leistungsempfängern stets nur Festpreise vereinbart. Die Nachforderbarkeit der Umsatzsteuer von der X KG sei insofern ausgesprochen fraglich. Im Übrigen sei die Nachforderung auch der Höhe nach unzutreffend. Die Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer sei gemäß § 10 Abs. 1 UStG das Entgelt. Im vorliegenden Fall sei das Entgelt, also all das, was der Empfänger der Leistung aufgewandt habe, der bereits bezahlte Betrag. Solange die Antragstellerin nicht Rechnungen zuzüglich Umsatzsteuer ausstelle, müsse die Umsatzsteuer aus dem gezahlten Betrag herausgerechnet werden. Außerdem habe die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids für die Antragstellerin eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge.
Der Antragsgegner lehnte den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab, da nicht zu erkennen sei, in welchem Umfang der angefochtene Umsatzsteuerbescheid für 2011 in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht fehlerhaft sei. Das Vertrauensschutzkonzept des § 27 Abs. 19 UStG ersetze als vorgreifliche Spezialnorm den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO. Außerdem sei bei der Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden wegen verfassungsrechtlicher Bedenken eine Interessenabwägung zwischen der einer Aussetzung der Vollziehung entgegenstehenden konkreten Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung und den für eine Aussetzung der Vollziehung sprechenden individuellen Interessen des Steuerpflichtigen erforderlich. Bei der erforderlichen Abwägung komme es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen an und andererseits auf die Auswirkungen auf die Haushaltsführung. Da die Aussetzung der Vollziehung der Nachforderung gegenüber Bauleistenden die öffentliche Haushaltsführung erheblich gefährden würde, komme eine Aussetzung der Vollziehung nicht in Betracht.
Am 9.7.2015 hat die Antragstellerin den vorliegenden gerichtlichen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt. Zur Begründung macht sie ergänzend zu ihren vorgerichtlichen Ausführungen geltend, dass das Finanzgericht (FG) Berlin-Brandenburg mit Beschluss vom 3.6.2005 5 V 5026/15 (Deutsches Steuerrecht - DStR - 2015, 1438) entschieden habe, dass in derartigen Fällen die Inanspruchnahme des Bauleistenden gegen § 176 Abs. 2 AO verstoße und § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG ein rückwirkendes Gesetz sei, das in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise die Wirkungen von § 176 Abs. 2 AO beseitige.
Die Antragstellerin beantragt (sinngemäß),
die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids für 2011 vom 1.4.2015 i. H. von 191.282,88 € ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder anderweitigen Erledigung des Einspruchs ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt er ergänzend aus, dass der Gesetzgeber das Prinzip des Vertrauensschutzes im Sinne des § 176 Abs. 2 AO durch das in § 27 Abs. 19 UStG niedergelegte Vertrauensschutzkonzept ersetzt habe. Eines darüber hinausgehenden Schutzes bedürfe die Antragstellerin nicht. Der Gesetzgeber sehe das Vertrauen des Bauleistenden in die bisherige Verwaltungsauffassung als nicht schutzwürdig an, wenn der Leistende gegen den Leistungsempfänger einen zivilrechtlichen Anspruch auf zusätzliche Bezahlung der Umsatzsteuer habe. § 27 Abs. 19 Sätze 3 und 4 UStG würden dem leistenden Unternehmer die Möglichkeit bieten, den zivilrechtlichen Anspruch gegenüber dem Leistungsempfänger auf die – noch ausstehende – Zahlung der Umsatzsteuer an das Finanzamt an Zahlungs statt abzutreten. Unter Berücksichtigung des Neutralitätsprinzips sei der Leistende dann nicht in seinem Vertrauen verletzt, da er wirtschaftlich so gestellt werde, wie vor dem Änderungsbescheid. Im Folgenden trage ausschließlich das Finanzamt das Risiko der Geltendmachung der Forderung gegenüber dem Leistungsempfänger. Deshalb würden auch die Einwendungen des leistenden Unternehmers fehlgehen, dass die Vorschrift voraussetze, dass ein zivilrechtlicher Anspruch bestehe, dieser aber unter anderem aufgrund von Vereinbarungen, Abtretungsverboten oder zivilrechtlicher Verjährung nicht vorhanden sei. Eine einredebehaftete und damit wirtschaftlich ganz oder teilweise wertlose Forderung könne zivilrechtlich gleichwohl an Zahlungs statt abgetreten werden. Es komme im Zeitpunkt der Annahme der Abtretung lediglich auf den Bestand der Forderung an, nicht jedoch auf die (vollumfängliche) Werthaltigkeit. Etwaige Einwendungen des Leistungsempfängers in Bezug auf die Werthaltigkeit der abgetretenen Forderung würden sich dann ausschließlich gegen das Finanzamt richten und würden den leistenden Unternehmer nicht mehr finanziell belasten. Da dem Finanzamt zwar grundsätzlich ein Ermessen im Hinblick auf die Annahme der Abtretung zustehe, dieses jedoch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 27 Abs. 19 UStG regelmäßig zu Gunsten des leistenden Unternehmers ausüben müsse, sei für die Frage des Vertrauensschutzes im Einzelfall darauf abzustellen, ob die Abtretung tatsächlich vom leistenden Unternehmer angeboten wurde. Komme es ausschließlich aufgrund des Handelns des Leistenden, z.B. aufgrund dessen Weigerung, die Rechnung gegenüber dem Leistungsempfänger zu korrigieren bzw. die Abtretung anzubieten, nicht zur Abtretung, sei dieser insoweit nicht (mehr) schutzwürdig, da das Finanzamt die Abtretung unter den Voraussetzungen des § 27 Abs. 19 UStG angenommen hätte, wenn diese angeboten worden wäre. Die Antragstellerin weigere sich, ihre Rechnungen gegenüber der X KG zu korrigieren und biete dem Finanzamt keine Abtretung der Forderung gegenüber der X KG an.
Im Übrigen sei der von der Antragstellerin als Begründung für ihren Aussetzungsantrag herangezogene Beschluss des FG Berlin-Brandenburg vom 3.6.2015 5 V 5026/15 (aaO) auf den vorliegenden Streitfall nicht übertragbar. Im Gegensatz zum Urteilsfall, der das Jahr 2009 betreffe, sei die Antragstellerin an der nachträglichen Inrechnungstellung der Umsatzsteuer für die im Streitjahr 2011 erbrachten Leistungen noch nicht durch zivilrechtliche Verjährungsvorschriften gehindert. Denn die Antragstellerin hätte auf das BFH-Urteil vom 20.8.2013 und die BMF-Schreiben vom 5.2.2014 (BStBl. I 2014, 233), 4.3.2014 (nicht veröffentlicht), 18.3.2014 (nicht veröffentlicht), 25.4.2014 (nicht veröffentlicht), 8.5.2014 (BStBl. I 2014, 823) und 31.7.2014 (BStBl. I 2014, 1073) sowie auf das Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25.7.2014 (Bundesgesetzblatt - BGBl. - 2014, 1266) noch rechtzeitig reagieren können. Auch jetzt – in 2015 – sei ein solcher Anspruch der Antragstellerin gegenüber der X KG zivilrechtlich noch nicht verjährt, da die zivilrechtliche Verjährung der Forderung des leistenden Unternehmers gegen den Leistungsempfänger nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) erst mit Kenntnis über die den Anspruch begründenden Umstände beginne, d.h. erst wenn das Finanzamt den leistenden Unternehmer darüber informiere, dass § 13b UStG rückwirkend nicht anzuwenden und er daher Steuerschuldner sei. Weiterhin sei unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) (BGH-Urteil vom 12.6.2002 VIII ZR 187/01, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 2002, 3110) der Leistungsempfänger gemäß § 242 BGB daran gehindert, die Verjährungseinrede geltend zu machen, wenn nach den ursprünglichen Vereinbarungen der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer zu tragen habe und erst durch sein Verhalten, nämlich dem Änderungsbegehren gegenüber dem Finanzamt, den Bauleistenden die Umsatzsteuerpflicht treffe.
Die Antragstellerin und die X KG seien sich auch, wie aus den Formulierungen in den Rechnungen ersichtlich sei, darüber einig, dass die X KG die Umsatzsteuer zusätzlich zum (Netto-)Rechnungsbetrag zu entrichten habe, wenn auch nicht an die Antragstellerin, sondern das Finanzamt. Die Formulierung in den Rechnungen sei Anhaltspunkt dafür, dass zwischen der Antragstellerin und der X KG eine Nettopreisvereinbarung getroffen worden sei. Die X KG habe entgegen dieser Vereinbarung mit der Antragstellerin durch Schreiben vom 13.2.2014 gegenüber dem Finanzamt beantragt, § 13b UStG rückwirkend nicht anzuwenden und die Umsatzsteuerfestsetzung entsprechend zu vermindern. Unter Verweis auf weitere Rechtsprechung des BGH (BGH-Urteil vom 14.1.2000 V ZR 416/97) könne ein Anspruch des Bauleistenden auf Zahlung der zusätzlichen Umsatzsteuer auch über das Rechtsinstitut der ergänzenden Vertragsauslegung hergeleitet werden, wenn die Parteien irrtümlicherweise übereinstimmend davon ausgegangen seien, dass ein bestimmter Vorgang nicht der Umsatzsteuer unterliege. So verhalte es sich auch hier. Auch eine sog. Brutto-Vereinbarung, wie sie die Antragstellerin vorträgt, sei der ergänzenden Vertragsauslegung zugänglich. Deshalb stehe dem leistenden Unternehmer in den Fällen der rückwirkenden Nichtanwendung des § 13b UStG dem Grunde nach ein Anspruch auf zusätzliche Zahlung der Umsatzsteuer zu. Die Verträge zwischen der Antragstellerin und der X KG, die laut Antragsschrift eine Vereinbarung eines Festpreises enthalten würden und eine Nachforderung der Umsatzsteuer durch die Antragstellerin gegenüber der X KG ausschließen würden, lägen ihm, dem Antragsgegner, nicht vor. Sie seien im Rahmen der Umsatzsteuersonderprüfung auch nicht zur Prüferhandakte genommen worden. Hinzu komme im vorliegenden Fall, dass es sich bei der Antragstellerin und der X KG um nahestehende Unternehmen handele.
Die Umsatzsteuer sei daher im Streitfall auch nicht aus dem Rechnungsbetrag herauszurechnen. Da, wie die Rechnungen zeigen würden, von einer Nettopreisvereinbarung auszugehen sei, sei die Umsatzsteuer nicht aus dem Zahlbetrag herauszurechnen, sondern zusätzlich dem Nettobetrag hinzuzurechnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens und auf die vom Antragsgegner zu diesem Verfahren vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist begründet.
1. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. mit Abs. 2 Satz 2 FGO soll das Gericht der Hauptsache auf Antrag die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn bei der Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken. Bei der notwendigen Abwägung im Einzelfall sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Für eine Aussetzung der Vollziehung ist jedoch nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts sprechenden Gründe überwiegen. Vielmehr genügt es, dass der Erfolg des Rechtsbehelfs ebenso wenig auszuschließen ist wie sein Misserfolg (ständige Rechtsprechung: BFH-Beschluss vom 23.8.2007 VI B 42/07, BFHE 218, 558, BStBl. II 2007, 799). Dagegen begründet eine vage Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs noch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts (BFH-Beschluss vom 11.6.1968 VI B 94/67, BStBl. II 1968, 657).
Die Prüfung, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts vorliegen, erfolgt im Rahmen einer lediglich summarischen Prüfung. Dabei beschränkt sich der Prozessstoff wegen der Eilbedürftigkeit des Verfahrens auf die dem Gericht vorliegenden Unterlagen, insbesondere auf die Akten der Finanzbehörde und andere präsente Beweismittel. Weitere Maßnahmen zur Ermittlung des Sachverhalts muss das Gericht nicht ergreifen (BFH-Beschluss vom 14.2.1989 IV B 33/88, BFHE 156, 167, BStBl. II 1989, 516).
2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids für 2011 gegeben. Nach summarischer Prüfung kann sich die Antragstellerin für das Jahr 2011 auf Vertrauensschutz gem. § 176 Abs. 2 AO berufen (a)). Nach summarischer Prüfung ist außerdem ernstlich zweifelhaft, ob die den Vertrauensschutz ausschließende Vorschrift des § 27 Abs. 19 UStG den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (b)).
a) § 176 Abs. 2 AO bestimmt, dass bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden darf, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Die betreffende Beurteilung des obersten Gerichtshofs muss dabei zeitlich nach dem Erlass des ursprünglichen, aber vor dem Erlass des Änderungsbescheids erfolgt sein (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 176 AO, Rn. 34 m. w. N.). Der Schutz des § 176 Abs. 2 AO beschränkt sich auf Fälle, in denen im Zeitpunkt der Entscheidung des obersten Gerichtshofs bereits ein Steuerbescheid vorliegt (Hey, DStR 2004, 1897). Unerheblich ist indes, ob die Änderung des Steuerbescheids auf § 164 Abs. 2 AO oder einer anderen Änderungsnorm beruht, da § 176 AO für alle Fälle der Änderung von Steuerbescheiden zu berücksichtigen ist (Rüsken in Klein, AO, § 176 Rn. 6 m. w. N.).
Die Finanzverwaltung legte § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG in der im Streitzeitraum 2011 geltenden Fassung zunächst dahingehend aus, dass es für den Wechsel der Steuerschuldnerschaft darauf ankomme, dass der Leistungsempfänger „nachhaltig“ bauwerksbezogene Werklieferungen und sonstige Leistungen erbringe und dabei die Summe dieser Leistungen mehr als 10 % seiner steuerbaren Umsätze betrage, wobei die Finanzverwaltung später präzisiert hat, dass dabei auf den „Weltumsatz“ des Leistungsempfängers abzustellen sei (vgl. Abschn. 182a Abs. 10 Satz 2 UStR 2005, nachfolgend BMF-Schreiben vom 16.10.2009 (BStBl. I 2009, 1298) und sich daran anschließend Abschn. 13b.3 Abs. 2 Satz 1 UStAE in der Fassung des BMF-Schreibens vom 12.12.2011, BStBl. I 2011, 1289). Der BFH entschied hingegen mit Urteil vom 22.8.2013 V R 37/10 (aaO), dass § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG 2005 (im Wesentlichen gleichlautend zu § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG in der im Streitjahr 2011 geltenden Fassung) dahingehend auszulegen sei, dass der Leistungsempfänger nur dann Steuerschuldner sei, wenn er die an ihn erbrachte Werklieferung oder sonstige Leistung mit Bauwerksbezug seinerseits zur Erbringung einer derartigen Leistung verwende. Dies treffe auf Bauträger, die steuerfreie Grundstückslieferungen ausführen würden, nicht zu, so dass diese Vorschrift auf sie nicht anzuwenden sei. Die Voraussetzungen des § 176 Abs. 2 AO liegen vor diesem Hintergrund nach summarischer Prüfung im Streitfall vor. Die Umsatzsteuerfestsetzung für 2011 datiert vom 13.2.2013 (Zustimmung des Antragsgegners zur Umsatzsteuererklärung 2011) und hat sich an der in diesem Zeitpunkt maßgeblichen Erlasslage der Finanzverwaltung orientiert. Im Anschluss, d.h. am 22.8.2013, hat der BFH die Auslegung der Finanzverwaltung als nicht mit geltendem Recht in Einklang stehend bezeichnet. Erst im Anschluss an diese Rechtsprechung ist der Änderungsbescheid, der auf den 1.4.2015 datiert, ergangen, so dass nach summarischer Prüfung § 176 Abs. 2 AO für die vorliegende in diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein streitige Umsatzsteuerfestsetzung 2011 eingreift.
b) Die Anwendung der Vertrauensschutzregelung ist nach summarischer Prüfung auch nicht durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG ausgeschlossen. Diese Norm wurde durch Art. 7 Nr. 9 des Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25.7.2014 (BGBl. I 2014, 1266) mit Wirkung vom 31.7.2014 zur Regelung von Fällen geschaffen, in denen sich Bauträger auf die zuvor bezeichnete Rechtsprechung des BFH berufen und die Erstattung der entrichteten Umsatzsteuer beantragen. Als Rechtsfolge sieht § 27 Abs. 19 UStG vor, dass dann, wenn Unternehmer und Leistungsempfänger davon ausgegangen sind, dass der Leistungsempfänger die Steuer nach § 13b UStG auf eine vor dem 15.2.2014 erbrachte steuerpflichtige Leistung schuldet, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt, die gegen den leistenden Unternehmer wirkende Steuerfestsetzung zu ändern ist, soweit der Leistungsempfänger die Erstattung der Steuer fordert, die er in der Annahme entrichtet hatte, Steuerschuldner zu sein. Nach Satz 2 der Norm steht § 176 AO der Änderung nicht entgegen.
Nach Auffassung des Senats ist ernstlich zweifelhaft, ob die rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer unter Suspendierung des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz – GG –) abgeleiteten Vertrauensschutzes gegen das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen verstößt (so ausdrücklich auch FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.6.2015, DStR 2015, 1438).
Eine Rechtsnorm entfaltet „echte Rückwirkung“, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“). Das ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Da eine Norm erst mit der Verkündung rechtlich existent ist, muss der von einem Gesetz Betroffene bis zu diesem Zeitpunkt, zumindest aber bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss, grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird. Die maßgebliche Rechtsfolge steuerrechtlicher Normen ist dabei das Entstehen der Steuerschuld. Im Sachbereich des Steuerrechts liegt eine echte Rückwirkung daher nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG –, Beschluss vom 7.7.2010 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BStBl. II 2011, 76).
Es spricht viel dafür, dass es sich auch im vorliegenden Fall so verhält. § 27 Abs. 19 UStG greift in die im Zeitpunkt seiner Verkündung bereits entstandene Steuerschuld für 2011 nachträglich ein, so dass eine unzulässige echte Rückwirkung jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheint (so auch Hammerl/Fietz, Neue Wirtschaftsbriefe für Steuer- und Wirtschaftsrecht - NWB - 2014, 2688; Schneider/Mann NWB 2014, 3911; Fleckenstein-Weiland, Betriebsberater - BB - 2014, 2391; Langer DStR 2014, 1897; Neeser Umsatzsteuer und Verkehrsteuerrecht - UVR - 2014, 333; Prätzler, Mehrwertsteuerrecht - MwStR - 2014, 680; a.A. Widmann MwStR 2014, 495; Sterzinger UR 2014, 276; differenzierend Listl/Baumgartner, Umsatzsteuerrundschau - UR - 2014, 913). Darüber hinaus scheint diese Gesetzeslage auch gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstoßen, der gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sein müssen und dass ihre Anwendung für den Einzelnen voraussehbar sein muss (vgl. z. B. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union – EuGH – vom 9.10.2014 C-492/13, Traum EOOD, UR 2014, 943). Die beliebige Abbedingung des Vertrauensschutzes nach § 176 AO je nach Kassenlage ist mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und mit der Rechtsstaatlichkeit staatlichen Handelns nicht vereinbar (so FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.6.2005 5 V 5026/15, aaO). Anhaltspunkte dafür, dass eine der nach der Rechtsprechung des BVerfG anerkannten Ausnahmen für die Zulässigkeit rückwirkender belastender Gesetze vorliegen (vgl. etwa Beschluss vom 8.7.1977 – 2 BvR 499/74, BVerfGE 45, 142), vermag der Senat nach summarischer Prüfung nicht zu erkennen.
Die Entscheidung, ob das Vertrauensschutzkonzept des § 27 Abs. 19 UStG im konkreten Einzelfall den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben genügt, den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO auszuschließen, wenn dem Bauleistenden kein Vermögensschaden droht, d. h. wenn er dem Leistungsempfänger die Umsatzsteuer nachberechnen und dem Finanzamt den zivilrechtlichen Anspruch abtreten kann, ist dem Hauptsachverfahren einer insoweit noch zu erhebenden Klage vorbehalten. Insoweit ist im Rahmen dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens unerheblich, ob dem Leistenden tatsächlich ein Anspruch auf Nachforderung der Umsatzsteuer gegen die X KG zusteht und der Leistende gewillt ist diesen abzutreten. Unerheblich ist daher im Rahmen dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auch, ob Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Umsatzsteuer der bislang gezahlte Nettobetrag ist oder ob die Umsatzsteuer aus den gezahlten Beträgen herauszurechnen ist. Bis zur endgültigen Klärung der Rechtsfrage im Rahmen eines Klageverfahrens, ob § 176 Abs. 2 AO durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG verdrängt wird, ist die Aussetzung der Vollziehung in voller Höhe ohne Sicherheitsleistung geboten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Beschwerde beruht auf §§ 128 Abs. 3, 115 Abs. 2 FGO.