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Steuerrecht
21.11.2024
Steuerrecht
EuGH: Vermutung der Haftung des Geschäftsführers im Fall der unterlassenen Anzeige des Unvermögens der Körperschaft, die geschuldete Mehrwertsteuer zu zahlen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Niederländisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 14.11.2024 – C‑613/23; KL gegen Staatssecretaris van Financiën

ECLI:EU:C:2024:961

Volltext BB-Online BBL2024-2773-1

Tenor

1. Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, nach der der Geschäftsführer einer Körperschaft, die gegen ihre Pflicht verstoßen hat, das Unvermögen zur Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld anzuzeigen, zur Befreiung von seiner Haftung als Gesamtschuldner für die Zahlung dieser Schuld nachzuweisen hat, dass ihm der Verstoß gegen diese Anzeigepflicht nicht anzulasten ist, nicht entgegensteht, sofern die fragliche Regelung die Möglichkeit, diesen Umstand zu belegen, nicht nur auf Fälle höherer Gewalt beschränkt, sondern es dem Geschäftsführer ermöglicht, sich auf alle Umstände zu berufen, die belegen können, dass er für die Nichteinhaltung dieser Anzeigepflicht nicht verantwortlich ist.

2. Art. 273 der Richtlinie 2006/112 ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die bewirkt, dass der Geschäftsführer einer Körperschaft, der es unterlassen hat, deren Zahlungsunfähigkeit anzuzeigen, bezogen auf einen bestimmten Zeitraum für die Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld weiterhin als Gesamtschuldner haftet, während er bezogen auf den sich unmittelbar anschließenden Zeitraum von einer Haftung befreit wurde, nachdem er nachweisen konnte, dass er nach Treu und Glauben gehandelt und in den drei vorangegangenen Jahren die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet hat, um zu verhindern, dass die Körperschaft außerstande gerät, ihre Pflichten zu erfüllen, und seine Beteiligung an einem Missbrauch oder Betrug ausgeschlossen ist.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen KL und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) wegen bestimmter Umsatzsteuernachforderungen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 gehört zu deren Titel XI, der die Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nicht steuerpflichtiger Personen u. a. in Bezug auf die Zahlung der Mehrwertsteuer, die Identifikation des Steuerpflichtigen, die Erteilung von Rechnungen, die Aufzeichnungen, die Erklärungspflichten betreffend die Mehrwertsteuer und die zusammenfassende Meldung regelt. Diese Bestimmung lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

Niederländisches Recht

4          Art. 36 der Invorderingswet 1990 (Beitreibungsgesetz 1990, im Folgenden: Beitreibungsgesetz) sieht vor:

„(1) Für Lohnsteuer, Umsatzsteuer, Verbrauchsteuern, Konsumsteuern auf nichtalkoholische Getränke, Kautabak und Schnupftabak, Abgaben nach Art. 1 der [Wet belastingen op milieugrondslag (Gesetz über Abgaben für den Umweltschutz)] und Spiel- und Wettsteuern, die von einer Körperschaft mit Rechtspersönlichkeit im Sinne der [Algemene wet inzake rijksbelastingen (Steuergesetzbuch)] mit voller Rechtsfähigkeit geschuldet werden, sofern diese körperschaftssteuerpflichtig ist, haftet ein Geschäftsführer gemäß den in den folgenden Absätzen aufgeführten Bestimmungen als Gesamtschuldner.

(2) Sobald sich herausstellt, dass die in Abs. 1 genannte Körperschaft außer Stande ist, Lohnsteuer, Umsatzsteuer, Verbrauchsteuer und Konsumsteuern auf nichtalkoholische Getränke, Kautabak oder Schnupftabak, eine der Abgaben nach Art. 1 des Gesetzes über Abgaben für den Umweltschutz oder Spiel- und Wettsteuern zu entrichten, hat sie dies der Steuerbehörde unverzüglich schriftlich anzuzeigen und auf deren Verlangen zusätzliche Informationen und Unterlagen zu übermitteln und vorzulegen. Ein Geschäftsführer ist berechtigt, diese Pflicht im Namen der Körperschaft zu erfüllen. Die Einzelheiten des Inhalts dieser Anzeige, der Art und des Inhalts der zu übermittelnden Informationen und der vorzulegenden Unterlagen sowie der Fristen für die Anzeige, die Übermittlung der Informationen und die Vorlage der Unterlagen werden durch oder aufgrund einer Verordnung mit allgemeiner Geltung festgelegt.

(3) Kommt die Körperschaft der ihr gemäß Abs. 2 obliegenden Pflicht nach, so haftet der Geschäftsführer, wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass die Nichtzahlung der Steuerschuld auf einer ihm anzulastenden offenkundig mangelhaften Geschäftsführung in den drei Jahren beruht, die dem Tag der Anzeige vorangehen.

(4) Kommt die Körperschaft der ihr gemäß Abs. 2 obliegenden Pflicht nicht oder nicht ordnungsgemäß nach, so haftet der Geschäftsführer nach Abs. 3, wobei vermutet wird, dass der Eintritt des Zahlungsausfalls ihm anzulasten ist und als Beginn des Dreijahreszeitraums der Tag gilt, an dem die Körperschaft säumig geworden ist. Diese Vermutung kann nur widerlegt werden, wenn der Geschäftsführer hinreichend nachweist, dass ihm die unterbliebene Erfüllung der der Körperschaft gemäß Abs. 2 obliegenden Pflicht nicht anzulasten ist. …

(6) Abs. 4 Satz 2 findet auf ehemalige Geschäftsführer keine Anwendung. …“

5          In Art. 7 des Uitvoeringsbesluit Invorderingswet 1990 (Durchführungsverordnung zum Beitreibungsgesetz 1990) (im Folgenden: Beitreibungs-Durchführungsverordnung) heißt es:

„(1) Die Anzeige nach Art. 36 Abs. 2 [des Beitreibungsgesetzes] erfolgt spätestens zwei Wochen nach dem Tag, an dem die geschuldete Steuer gemäß Art. 19 des Steuergesetzbuchs … hätte entrichtet oder abgeführt werden müssen.

(2) Tritt die Zahlungsunfähigkeit im Zusammenhang mit einer Steuernachforderung ein, die darauf beruht, dass die geschuldete Steuer höher ist als diejenige, die aufgrund der Steuererklärung entrichtet oder abgeführt worden ist bzw. entrichtet oder abgeführt hätte werden müssen, und ist dieser Umstand nicht auf Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit der Körperschaft zurückzuführen, so kann die Anzeige abweichend von Abs. 1 spätestens binnen zwei Wochen nach Ablauf der Frist erfolgen, die in der Nachforderung gesetzt wurde.

(3) In der Anzeige sind die Umstände anzugeben, die dazu geführt haben, dass in der Erklärung die Entrichtung oder Abführung versäumt wurde oder die Steuer nicht gezahlt wurde.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6          KL war Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter einer Holdinggesellschaft. Die Holdinggesellschaft war bis zum 29. März 2019 Geschäftsführerin und alleinige Gesellschafterin einer Betriebsgesellschaft. Zu diesem Zeitpunkt veräußerte die Holdinggesellschaft ihre Anteile an der Betriebsgesellschaft an einen Dritten.

7          Die Betriebsgesellschaft wurde aufgefordert, Lohnsteuer für Dezember 2018 bis Februar 2019 und Umsatzsteuer für November 2018 bis Februar 2019 nachzuzahlen, wobei diese Nachforderungen auf Steuererklärungen der Betriebsgesellschaft beruhten. Die betreffenden Nachforderungen wurden von der Betriebsgesellschaft nicht beglichen.

8          Mit Bescheid vom 5. Juli 2019 nahm der Ontvanger van de Belastingdienst (Steuerbehörde, Niederlande) KL auf der Grundlage von Art. 36 des Beitreibungsgesetzes für die nicht abgeführten Steuern in Haftung. Für die Zahlung der in den Steuernachforderungen ausgewiesenen Zinsen auf die Steuern sowie für die angefallenen Gebühren nahm die Steuerbehörde KL ebenfalls in Haftung.

9          KL focht den Bescheid vom 5. Juli 2019 vor der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) an, die die Klage abwies. Mit Urteil vom 1. Juli 2021, das auf die Berufung von KL gegen das Urteil dieses Gerichts erging, stellte der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag, Niederlande) fest, dass die Betriebsgesellschaft ihrer Anzeigepflicht im Sinne von Art. 36 Abs. 2 des Beitreibungsgesetzes hinsichtlich der Lohn- bzw. Umsatzsteuer, die sie für die in Rn. 7 des vorliegenden Urteils genannten Zeiträume schuldete, nicht nachgekommen sei.

10        Der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag) entschied jedoch, dass KL zu Unrecht für die für Februar 2019 geschuldete Lohn- bzw. Umsatzsteuer in Haftung genommen worden sei, da er mit Wirkung vom 29. März 2019 aus seinem Amt als Geschäftsführer der Holdinggesellschaft ausgeschieden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei nämlich die festgelegte Frist zur Anzeige der Zahlungsunfähigkeit für den Monat Februar 2019 noch nicht abgelaufen gewesen. Folglich sei es geboten gewesen, KL in Bezug auf diesen Monat als ehemaligen Geschäftsführer im Sinne von Art. 36 Abs. 6 des Beitreibungsgesetzes einzustufen. Der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag) räumte KL daher die Möglichkeit ein, unter Vorlage geeigneter Nachweise die in Art. 36 Abs. 4 Satz 1 dieses Gesetzes aufgestellte Vermutung zu widerlegen, wonach einem Geschäftsführer die Nichtzahlung von Steuerschulden anzulasten ist. Diesem Gericht zufolge gelang KL die Widerlegung dieser Vermutung.

11        KL hafte hingegen für Lohn- bzw. Umsatzsteuerschulden für November 2018 bis Januar 2019, in denen zum einen KL der amtierende Geschäftsführer der Holdinggesellschaft gewesen sei und zum anderen die Betriebsgesellschaft ihr Unvermögen, diese Steuern zu bezahlen, nicht ordnungsgemäß angezeigt habe. Hieraus ergebe sich, dass die Nichtzahlung der Steuerschulden auf eine offenkundig mangelhafte Geschäftsführung durch KL zurückgehe, der nicht nachgewiesen habe, dass ihm diese Unterlassung nicht anzulasten sei.

12        Das vorlegende Gericht, der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), wurde mit einem Rechtsmittel gegen das Urteil vom 1. Juli 2021 befasst. Dieses Gericht führt aus, dass nach Art. 36 des Beitreibungsgesetzes die in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene Anzeigepflicht in einer Weise zu erfüllen sei, die im Einklang mit den Anforderungen dieses Artikels stehe. Sofern eine Körperschaft dieser Pflicht nachkomme, hafte der Geschäftsführer nur dann für die Zahlung der Steuerschuld der Körperschaft, wenn die Steuerbehörde nachweise, dass die Nichtzahlung dieser Schuld durch die Körperschaft auf eine offenkundig mangelhafte Geschäftsführung seinerseits zurückgehe. Sofern die Körperschaft dieser Pflicht hingegen nicht ordnungsgemäß nachkomme, sei die Nichtbezahlung der Steuerschulden als Folge einer offenkundig mangelhaften Geschäftsführung anzusehen. Der Geschäftsführer könne diese Vermutung nur dadurch widerlegen, indem er zunächst nachweise, dass er dafür nicht verantwortlich sei, dass die Körperschaft ihrer Anzeigepflicht nicht ordnungsgemäß nachgekommen sei. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist es nach der nationalen Rechtsprechung zulässig, diesen Umstand bei Krankheit oder Unfall oder auch dann als gegeben anzusehen, wenn sich der Geschäftsführer auf die Stellungnahme eines Dritten verlassen habe, den er auf diesem Gebiet für hinreichend sachkundig halten durfte.

13        Insofern könne ein Geschäftsführer nur im Fall höherer Gewalt oder wenn er sich nach Treu und Glauben auf die Stellungnahme eines Dritten verlassen habe, hinreichend nachweisen, dass er nicht dafür in Haftung genommen werden könne, dass die Körperschaft ihrer Anzeigepflicht nicht nachgekommen sei. Es handele sich um so außergewöhnliche Umstände, dass ein Geschäftsführer in den allermeisten Fällen, in denen eine Körperschaft ihrer Anzeigepflicht nicht oder nicht gemäß dem Beitreibungsgesetz nachgekommen sei, den geforderten Nachweis praktisch nicht erbringen könne.

14        Diese Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung falle in den Anwendungsbereich von Art. 273 der Richtlinie 2006/112. Außerdem gehe ein System der verschuldensunabhängigen Haftung dem Grunde nach über das hinaus, was erforderlich sei, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen, weshalb ein solches System gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, wie er im Unionsrecht verankert sei. Gegen diesen Grundsatz werde jedenfalls verstoßen, wenn eine Person ohne Verschulden für die Zahlung von Steuern in Haftung genommen werde, die mit dem Verhalten des Steuerschuldners, auf das sie keinen Einfluss habe, überhaupt nichts zu tun habe. Da der Geschäftsführer jedoch zumindest einen gewissen Einfluss auf die Handlungen oder Unterlassungen einer steuerpflichtigen Körperschaft ausübe, könne er nicht als eine Person angesehen werden, die überhaupt nichts mit dieser Körperschaft zu tun habe. Es stelle sich daher die Frage, ob diese Gesichtspunkte ausreichten, um den Schluss zu ziehen, dass eine gleichsam verschuldensunabhängige Haftung des Geschäftsführers einer Körperschaft, die ihr Unvermögen zur Zahlung der Umsatzsteuer nicht ordnungsgemäß angezeigt habe, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er im Unionsrecht verankert sei, vereinbar sei.

15        Diese Frage sei umso relevanter, als sich aus dem Urteil des Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag) ergebe, dass KL in dem Zeitraum, für den die Körperschaft ihrer Anzeigepflicht nicht nachgekommen sei, keine offenkundig mangelhafte Geschäftsführung betrieben habe. KL habe demnach nach Treu und Glauben gehandelt und die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet, er habe alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen und seine Beteiligung an einem Missbrauch oder Betrug sei ausgeschlossen.

16        Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Steht der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Regelung wie der in Art. 36 Abs. 4 des Beitreibungsgesetzes entgegen, die es einem Geschäftsführer einer juristischen Person, die ihrer Pflicht, der Steuerbehörde ihre Zahlungsunfähigkeit anzuzeigen, nicht oder nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist, praktisch übermäßig erschwert, sich der Haftung für Steuerschulden, einschließlich Umsatzsteuerschulden, der juristischen Person zu entziehen?

2. Ist es für die Antwort auf Frage 1 von Bedeutung, ob der Geschäftsführer nach Treu und Glauben gehandelt hat, indem er die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet hat, er alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und seine Beteiligung an einem Missbrauch oder einem Betrug ausgeschlossen ist?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

17        Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 273 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der der Geschäftsführer einer Körperschaft, die gegen ihre Pflicht verstoßen hat, das Unvermögen zur Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld anzuzeigen, zur Befreiung von seiner Haftung als Gesamtschuldner für die Zahlung dieser Schuld nachzuweisen hat, dass ihm der Verstoß gegen diese Anzeigepflicht nicht anzulasten ist.

18        Es ist darauf hinzuweisen, dass eine Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Beitreibung von Mehrwertsteuerbeträgen erleichtern soll, die von einer steuerpflichtigen juristischen Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 festgelegten zwingenden Fristen abgeführt worden sind, so dass sie dazu beiträgt, die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen. Folglich fällt eine solche Regelung grundsätzlich in den Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112 verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 61 und 69).

19        Diese Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Person, die als Gesamtschuldner in Haftung genommen wird, nämlich der Geschäftsführer der juristischen Person, in dieser Eigenschaft nicht selbst der Mehrwertsteuer unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 62).

20        Insoweit geht zunächst aus dem Wortlaut von Art. 273 der Richtlinie 2006/112 nicht hervor, dass die von den Mitgliedstaaten in dieser Bestimmung festgelegten Verpflichtungen nur mehrwertsteuerpflichtige Personen treffen könnten (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 63).

21        Sodann gehört diese Bestimmung zu Titel XI der Richtlinie 2006/112, dessen Überschrift ausdrücklich auf die „Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“ Bezug nimmt (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 64).

22        Schließlich kann die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten Mehrwertsteuer sicherzustellen, unter bestimmten Umständen erfordern, dass ein Mitgliedstaat nicht steuerpflichtige Personen, die an Entscheidungen innerhalb einer steuerpflichtigen juristischen Person beteiligt sind, in Haftung nimmt, da andernfalls die Wirksamkeit dieser Maßnahmen beeinträchtigt würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 65).

23        Abgesehen von den Grenzen, die Art. 273 der Richtlinie 2006/112 in Bezug auf die Beachtung der Gleichbehandlung und das Verbot, Formalitäten beim Grenzübertritt vorzusehen, festlegt, erläutert er nicht, welche Verpflichtungen die Mitgliedstaaten vorsehen können. Folglich räumt er den Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Mittel ein, mit denen sichergestellt werden soll, dass die gesamte geschuldete Mehrwertsteuer erhoben wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24        Allerdings sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten. Dieser Grundsatz besagt, dass die Mitgliedstaaten Mittel einsetzen müssen, mit denen das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel effizient erreicht werden kann und zugleich die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigt werden. Demnach ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche des Fiskus möglichst wirksam zu schützen, sie dürfen aber nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 72 und 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

25        Insoweit gehen nationale Maßnahmen, die de facto ein System der verschuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haftung einführen, über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen. Es ist daher als unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzusehen, die Haftung für die Mehrwertsteuer einer anderen Person als dem Steuerschuldner aufzuerlegen, ohne es dieser Person zu ermöglichen, sich der Haftung zu entziehen, indem sie den Nachweis erbringt, dass sie mit dem Gebaren des Steuerschuldners nichts zu tun hat. Es wäre nämlich offenkundig unverhältnismäßig, dieser Person uneingeschränkt den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26        Unter diesen Umständen muss die Ausübung der Befugnis der Mitgliedstaaten, zur Sicherung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer neben dem Steuerschuldner einen Gesamtschuldner zu bestimmen, im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit durch das tatsächliche und/oder rechtliche Verhältnis zwischen den beiden betroffenen Personen gerechtfertigt sein (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 75).

27        Die Umstände, dass eine andere Person als der Steuerschuldner nach Treu und Glauben gehandelt und die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet hat, dass sie alle ihr zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und dass ihre Beteiligung an einem Missbrauch oder einem Betrug ausgeschlossen ist, sind Kriterien, die im Rahmen der Feststellung zu berücksichtigen sind, ob diese Person als Gesamtschuldner zu der geschuldeten Mehrwertsteuer herangezogen werden kann (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 76).

28        Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende System der gesamtschuldnerischen Haftung folgende Merkmale aufweist.

29        Als Erstes muss die Person, die zur Haftung als Gesamtschuldner bestimmt wird, Geschäftsführer der steuerpflichtigen Körperschaft sein, die Schuldnerin der nicht abgeführten Mehrwertsteuer ist. Diese Person kann daher als Beteiligter an der Entscheidungsfindung in dieser Körperschaft angesehen werden, was es ausschließt, sie als eine Person anzusehen, die mit dem Verhalten dieser Körperschaft überhaupt nichts zu tun hat.

30        Als Zweites haftet der betreffende Geschäftsführer, wenn die Körperschaft ihr Unvermögen, die Steuerschuld zu bezahlen, ordnungsgemäß angezeigt hat, nicht als Gesamtschuldner für die Zahlung der entsprechenden Schuld, außer wenn die Steuerbehörde nachweist, dass der Zahlungsausfall auf eine offenkundig mangelhafte Geschäftsführung seinerseits in den drei Jahren zurückzuführen ist, die dem Tag der Anzeige vorangehen.

31        Als Drittes wird mit dieser Anzeigepflicht, wie die niederländische Regierung in ihren Erklärungen geltend gemacht hat, ein spezifisches legitimes Ziel von gewisser Bedeutung verfolgt, das darin besteht, die Steuerbehörde rechtzeitig über eine Zahlungsunfähigkeit zu informieren, um die Möglichkeit der Ergreifung geeigneter Maßnahmen zu prüfen, damit Steuerausfälle vermieden oder begrenzt werden können.

32        Als Viertes scheint die Anzeige des Unvermögens, eine Steuerschuld zu zahlen, weder hinsichtlich ihrer Form noch hinsichtlich des erforderlichen Inhalts besondere Schwierigkeiten aufzuwerfen; sie kann zudem später auf Antrag der Steuerbehörde ergänzt werden.

33        Als Fünftes kann die Vermutung der Haftung des Geschäftsführers infolge offenkundig mangelhafter Geschäftsführung, die nur im Fall der Nichtbeachtung der Anzeigepflicht anwendbar ist, widerlegt werden, sofern dieser Geschäftsführer den Nachweis erbringt, dass ihm diese Nichteinhaltung nicht anzulasten ist. Die letztgenannte Voraussetzung ist auf einen ehemaligen Geschäftsführer, der zum Zeitpunkt des Ablaufs der Anzeigefrist nicht mehr im Amt war, nicht anwendbar, da dieser die Vermutung einer offenkundig mangelhaften Geschäftsführung für den in der Mehrwertsteuererklärung genannten Zeitraum widerlegen kann, ohne zuvor nachweisen zu müssen, dass ihm die Nichteinhaltung der Anzeigepflicht nicht angelastet werden kann.

34        Einer Körperschaft oder gegebenenfalls deren Geschäftsführer wird es offenbar nicht übermäßig erschwert, der im niederländischen Recht vorgesehenen Anzeigepflicht nachzukommen und dadurch die Haftung des Geschäftsführers für Mehrwertsteuerschulden einer Körperschaft abzuwenden, so dass die Nichteinhaltung dieser Pflicht als schuldhaftes Verhalten angesehen werden kann. Ferner hätte dieses Verhalten, wie die niederländische Regierung ausführt, weitgehend nur in der Theorie Konsequenzen, wenn der Geschäftsführer sich dieser Haftung dadurch entziehen könnte, dass er die Nichteinhaltung der Anzeigepflicht auf andere Weise als durch Umstände rechtfertigt, die belegen, dass sie ihm nicht anzulasten ist.

35        Vor diesem Hintergrund ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof insbesondere deswegen um Auskunft, weil seiner Ansicht nach einem Geschäftsführer der Nachweis, dass ihm der Verstoß gegen die Pflicht, die Zahlungsunfähigkeit anzuzeigen, nicht anzulasten ist, „übermäßig erschwert“ wird.

36        Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, den die Mitgliedstaaten zu beachten haben, wenn sie neben dem Steuerschuldner einen Gesamtschuldner bestimmen, darf die Verwirkung einer Rechtsposition, die durch die Nichteinhaltung einer Frist eingetreten ist, der betreffenden Person zumindest dann nicht entgegengehalten werden, wenn diese nachweist, dass ihr die fragliche Nichteinhaltung nicht anzulasten ist, wobei die Möglichkeit eines solchen Nachweises nicht bloß in der Theorie bestehen darf, weil das Konzept der Zurechnung von der Verwaltung oder den nationalen Gerichten unrechtmäßigerweise weit ausgelegt wird.

37        Erstens ergibt sich jedoch aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass der Geschäftsführer einer Körperschaft, die ihrer Pflicht, das Unvermögen zur Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld anzuzeigen, nicht nachgekommen ist, die Umstände nachweisen kann, die belegen, dass er dafür nicht verantwortlich ist, dass die Körperschaft dieser Pflicht nicht nachgekommen ist.

38        Zweitens gehören nach diesen Angaben zu diesen Umständen nicht nur Fälle höherer Gewalt, sondern auch der Umstand, dass sich der Geschäftsführer auf die Stellungnahme eines Dritten verlassen hat, den er auf diesem Gebiet für hinreichend sachkundig halten durfte.

39        Drittens bildet Art. 36 Abs. 4 Satz 2 des Beitreibungsgesetzes keine abschließende Aufzählung der Umstände, auf die sich ein Geschäftsführer berufen kann, was vermuten lässt, dass er sich auf alle Umstände stützen kann, die hinreichend belegen können, dass ihm das Versäumnis der Körperschaft, ihre Zahlungsunfähigkeit anzuzeigen, nicht anzulasten ist.

40        Im Übrigen geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Geschäftsführer, wenn ihm der Nachweis gelingt, dass ihm die Nichteinhaltung dieser Pflicht nicht anzulasten ist, auch imstande sein dürfte, zu belegen, dass die Zahlungsunfähigkeit der Körperschaft nicht auf einer offenkundig mangelhaften Geschäftsführung seinerseits in den drei Jahren vor Fälligkeit der Zahlung beruht. Da sich der Geschäftsführer in diesem Fall nur auf Umstände berufen muss, die eine offenkundig mangelhafte Geschäftsführung seinerseits ausschließen, stellt die Tatsache, dass er diese Beweislast trägt, weder eine übermäßige noch eine im Widerspruch zu der in Rn. 25 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung stehende Obliegenheit dar.

41        Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 273 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, nach der der Geschäftsführer einer Körperschaft, die gegen ihre Pflicht verstoßen hat, das Unvermögen zur Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld anzuzeigen, zur Befreiung von seiner Haftung als Gesamtschuldner für die Zahlung dieser Schuld nachzuweisen hat, dass ihm der Verstoß gegen diese Anzeigepflicht nicht anzulasten ist, nicht entgegensteht, sofern die fragliche Regelung die Möglichkeit, diesen Umstand zu belegen, nicht nur auf Fälle höherer Gewalt beschränkt, sondern es dem Geschäftsführer ermöglicht, sich auf alle Umstände zu berufen, die belegen können, dass er für die Nichteinhaltung dieser Anzeigepflicht nicht verantwortlich ist.

Zur zweiten Frage

42        Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren, indem er aus allem, was das vorlegende Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herausarbeitet, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 29. Juli 2024, CU und ND [Sozialhilfe – Mittelbare Diskriminierung], C-112/22 und C-223/22, EU:C:2024:636, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

43        Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass KL für Februar 2019 als ehemaliger Geschäftsführer der Körperschaft, die die Mehrwertsteuernachzahlungen schuldete, angesehen wurde, da die Frist, um anzuzeigen, dass die Körperschaft außerstande war, die für diesen Monat geschuldete Mehrwertsteuer zu zahlen, zu dem Zeitpunkt, zu dem KL vom Amt des Geschäftsführers ausgeschieden ist, noch nicht abgelaufen gewesen ist.

44        Insofern war KL gemäß Art. 36 Abs. 6 des Beitreibungsgesetzes die Möglichkeit eröffnet, den Nachweis zu erbringen, dass die Nichtzahlung der für diesen Monat geschuldeten Mehrwertsteuerschuld nicht auf einer ihm anzulastenden offenkundig mangelhaften Geschäftsführung in den drei Jahren beruht, die dem Ablauf der Zahlungsfrist für diesen Monat vorangingen. Wie das vorlegende Gericht ausführt, hat der Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag) entschieden, dass KL diesen Nachweis habe erbringen können und dass er nach Treu und Glauben gehandelt und die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet habe, dass er alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe und dass seine Beteiligung an einem Missbrauch oder Betrug ausgeschlossen sei.

45        KL war jedoch im November und Dezember 2018 sowie im Januar 2019 als Geschäftsführer der Körperschaft tätig und hat nicht nachweisen können, dass ihm der Verstoß gegen die Pflicht, die Zahlungsunfähigkeit dieser Körperschaft anzuzeigen, nicht anzulasten ist, wie es Art. 36 Abs. 4 des Beitreibungsgesetzes verlangt. Somit war ihm in Anwendung dieser Bestimmung kein Nachweis möglich, dass die Nichtzahlung der Mehrwertsteuerschuld für diese Monate nicht die Folge einer offenkundig mangelhaften Geschäftsführung seinerseits in den drei Jahren vor Ablauf der Zahlungsfrist in Bezug auf diese Monate war. KL wurde daher für die Schulden der Körperschaft, deren Geschäftsführer er im November und Dezember 2018 sowie im Januar 2019 war, als Gesamtschuldner in Haftung genommen.

46        Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit der zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 273 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die bewirkt, dass der Geschäftsführer einer Körperschaft, der es unterlassen hat, deren Zahlungsunfähigkeit anzuzeigen, bezogen auf einen bestimmten Zeitraum für die Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld weiterhin als Gesamtschuldner haftet, während er bezogen auf den sich unmittelbar anschließenden Zeitraum von einer Haftung befreit wurde, nachdem er nachweisen konnte, dass er nach Treu und Glauben gehandelt und in den drei vorangegangenen Jahren die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet hat, um zu verhindern, dass die Körperschaft außerstande gerät, ihre Pflichten zu erfüllen, und seine Beteiligung an einem Missbrauch oder Betrug ausgeschlossen ist.

47        Insoweit verfolgt erstens, wie in den Rn. 31, 32 und 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine Pflicht zur Anzeige der Zahlungsunfähigkeit, wie sie im niederländischen Recht vorgesehen ist, ein legitimes Ziel, das darin besteht, die Steuerbehörde zügig über jegliche Zahlungsunfähigkeit zu informieren, wobei deren Einhaltung nicht besonders erschwert wird, so dass die Nichteinhaltung dieser Pflicht als schuldhaftes Verhalten anzusehen ist.

48        Zweitens muss, wie sich aus Art. 7 der Beitreibungs-Durchführungsverordnung ergibt, die Anzeige der Zahlungsunfähigkeit spätestens zwei Wochen nach Fälligkeit der geschuldeten Steuer erfolgen. Diese Bestimmung bedeutet zwar, dass die Steuerbehörde, wie die niederländische Regierung in ihren Erklärungen ausgeführt hat, einer solchen Anzeige Gültigkeit für mehrere spätere Besteuerungszeiträume beimessen kann, jedoch ein früherer Besteuerungszeitraum, der nicht von dieser Anzeige erfasst wird, was eine etwaige Haftung des Geschäftsführers einer steuerpflichtigen Körperschaft als Gesamtschuldner anbelangt, davon unberührt bleibt. Dies gilt auch für den Referenzzeitraum von drei Jahren, anhand dessen nach Art. 36 Abs. 3 des Beitreibungsgesetzes zu prüfen ist, ob die Zahlungsunfähigkeit das Ergebnis einer offenkundig mangelhaften Geschäftsführung ist.

49        Wenn also eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren anwendbare, die von einer Eigenständigkeit der Besteuerungszeiträume ausgeht, die Haftung des Geschäftsführers einer Körperschaft als Gesamtschuldner nach sich ziehen kann, falls die Anzeige unterbleibt, dass diese Körperschaft ihre Schulden nicht zahlen kann, wird diese Konsequenz dadurch abgemildert, dass die Eigenständigkeit der Besteuerungszeiträume unter bestimmten Umständen die Haftung des Geschäftsführers auch begrenzen kann. Die Haftung des Geschäftsführers als Gesamtschuldner, die gemäß Art. 36 Abs. 4 des Beitreibungsgesetzes festgestellt wird, wenn er nicht dafür gesorgt hat, dass die Körperschaft ihre Zahlungsunfähigkeit anzeigt, greift nämlich nur für den Zeitraum, der auf die unterlassene Anzeige entfällt, wirkt sich jedoch nicht auf einen späteren Zeitraum aus, für den die Körperschaft die Zahlungsunfähigkeit ordnungsgemäß angezeigt hat.

50        Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Eigenständigkeit jedes Besteuerungszeitraums impliziert, für den eine Anzeigepflicht besteht, nicht allein deshalb als über das hinausgehend angesehen werden kann, was für die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer erforderlich ist, weil ihre Anwendung nachteilige Folgen für den Geschäftsführer einer Körperschaft haben kann, der es unterlassen hat, deren Zahlungsunfähigkeit für einen bestimmten Zeitraum anzuzeigen, während er im Übrigen seine Aufgaben nach Treu und Glauben wahrgenommen und keinen Missbrauch oder Betrug begangen hat.

51        Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 273 der Richtlinie 2006/112 im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die bewirkt, dass der Geschäftsführer einer Körperschaft, der es unterlassen hat, deren Zahlungsunfähigkeit anzuzeigen, bezogen auf einen bestimmten Zeitraum für die Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld weiterhin als Gesamtschuldner haftet, während er bezogen auf den sich unmittelbar anschließenden Zeitraum von einer Haftung befreit wurde, nachdem er nachweisen konnte, dass er nach Treu und Glauben gehandelt und in den drei vorangegangenen Jahren die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet hat, um zu verhindern, dass die Körperschaft außerstande gerät, ihre Pflichten zu erfüllen, und seine Beteiligung an einem Missbrauch oder Betrug ausgeschlossen ist.

Kosten

52        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

 

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