EuGH: Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage – Ausschlussfrist für die Beantragung der nachträglichen Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage
– Zinsanspruch des Steuerpflichtigen (Bulgarisches Vorabentscheidungsersuchen)
EuGH, Urteil vom 29.2.2024 – C-314/22, „Consortium Remi Group“ AD gegen Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite; ECLI:EU:C:2024:183
Volltext BB-Online BBL2024-597-2
Tenor
1. Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats – wonach für die Stellung eines Antrags auf Erstattung der Mehrwertsteuer, der darauf beruht, dass im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage vermindert wird, eine Ausschlussfrist gilt, deren Ablauf dazu führt, dass dem nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen eine Sanktion auferlegt wird – nicht entgegensteht, sofern diese Frist erst ab dem Zeitpunkt läuft, zu dem der Steuerpflichtige ohne Mangel an Sorgfalt sein Recht auf Verminderung geltend machen kann. Gibt es keine nationalen Vorschriften über die Einzelheiten der Ausübung dieses Rechts, muss der Beginn einer solchen Ausschlussfrist für den Steuerpflichtigen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellbar sein.
2. Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 sind in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie, wenn es keine spezifischen nationalen Vorschriften gibt, dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung davon abhängig macht, dass dieser Steuerpflichtige zuvor die ursprüngliche Rechnung berichtigt und dem Schuldner im Voraus seine Absicht mitteilt, die Mehrwertsteuer zu annullieren, sofern es dem Steuerpflichtigen unmöglich ist, eine solche Berichtigung rechtzeitig vorzunehmen, und ihm diese Unmöglichkeit nicht zuzurechnen ist.
3. Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass ein etwaiges Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung einen Anspruch auf Erstattung der von ihm gezahlten Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen begründet und dass, wenn die Regelung eines Mitgliedstaats keine Modalitäten für die Anwendung der möglicherweise geschuldeten Zinsen enthält, diese Zinsen ab dem Zeitpunkt berechnet werden, ab dem der Steuerpflichtige sein Recht auf diese Verminderung im Rahmen der Steuererklärung, die sich auf den dann laufenden Besteuerungszeitraum bezieht, geltend macht.
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft insbesondere die Auslegung von Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Consortium Remi Group“ AD und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ Varna bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen) (im Folgenden: Direktor) wegen der Weigerung des Direktors, Consortium Remi Group zu gestatten, den Betrag der Mehrwertsteuer zu berichtigen, die sie für Forderungen entrichtet hat, die von den Schuldnern nicht beglichen wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Akte über den Beitritt der Republik Bulgarien zur Europäischen Union
3 Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203), lautet:
„Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für Bulgarien und Rumänien verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.“
Mehrwertsteuerrichtlinie
4 Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“
5 Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
6 Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„(1) Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.
(2) Die Mitgliedstaaten können im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von Absatz 1 abweichen.“
7 Art. 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.
(2) Abweichend von Absatz 1 unterbleibt die Berichtigung bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung geleistet wurde, in ordnungsgemäß nachgewiesenen oder belegten Fällen von Zerstörung, Verlust oder Diebstahl sowie bei Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und Warenmuster im Sinne des Artikels 16.
Bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung erfolgt, und bei Diebstahl können die Mitgliedstaaten jedoch eine Berichtigung verlangen.“
8 Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Bulgarisches Recht
9 In Art. 115 des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, DV Nr. 63 vom 4. August 2006) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZDDS) heißt es:
„(1) Im Fall einer Änderung der Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes und im Fall der Rückgängigmachung einer Lieferung, für die eine Rechnung ausgestellt wurde, ist der Lieferer verpflichtet, eine Anzeige zur Rechnung zu erstellen.
(2) … Die Anzeige ist innerhalb von fünf Tagen nach dem in Abs. 1 genannten Ereignis und, wenn sie eine Lieferung betrifft, für die eine Rechnung mit Angabe der für eine Vorauszahlung in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer ausgestellt wurde, innerhalb von fünf Tagen nach dem Datum der Erstattung, Verrechnung oder sonstigen Zahlung des Betrags der vorgesehenen Vorauszahlung über den erstatteten, verrechneten oder auf andere Weise gezahlten Betrag auszustellen.
(3) Bei einer Erhöhung der Steuerbemessungsgrundlage ist eine Belastungsanzeige zu erstellen, bei einer Minderung der Steuerbemessungsgrundlage oder einer Rückgängigmachung von Umsätzen eine Gutschrift zu erteilen.
(4) Zusätzlich zu den in Art. 114 genannten wesentlichen Angaben muss in einer Anzeige zu einer Rechnung auch Folgendes angegeben werden:
1. Nummer und Datum der Rechnung, für die die Anzeige erstellt wird;
2. Grund für die Erstellung dieser Anzeige.
(5) Eine Anzeige muss in mindestens zwei Exemplaren erstellt werden: eine für den Lieferer und eine für den Empfänger.
…
(7) … Die Anzeige für eine Rechnung darf die in Art. 114 Abs. 1 Nrn. 12, 14 und 15 genannten wesentlichen Angaben nicht enthalten, es sei denn, es handelt sich um einen im Gebiet eines Mitgliedstaats bewirkten Umsatz, einen innergemeinschaftlichen Umsatz oder einen Fernverkauf von Gegenständen.“
10 Art. 116 ZDDS lautet:
„(1) Berichtigungen oder Zusätze zu den Rechnungen oder den dazugehörigen Anzeigen sind unzulässig. Unrichtig ausgestellte oder berichtigte Rechnungen sind zu annullieren, und es sind neue Rechnungen auszustellen.
(2) Als unrichtig erstellte Dokumente gelten auch ausgestellte Rechnungen und die dazugehörigen Anzeigen, in denen die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde, obwohl sie auszuweisen gewesen wäre.
(3) Als unrichtig erstellte Dokumente gelten auch ausgestellte Rechnungen und die dazugehörigen Anzeigen, in denen die Mehrwertsteuer ausgewiesen wurde, obwohl sie nicht auszuweisen gewesen wäre.
(4) Werden unrichtig erstellte oder berichtigte Dokumente in den Buchhaltungsunterlagen des Lieferers oder des Empfängers ausgewiesen, ist für jede der Parteien ein Protokoll über die Stornierung zu erstellen, in dem Folgendes angegeben wird:
1. Grund für die Stornierung;
2. Nummer und Datum des Dokuments, das storniert wird;
3. Nummer und Datum des ausgestellten neuen Dokuments;
4. Unterschrift der Personen, die das Protokoll für jede der Parteien erstellt haben.
(5) Alle Exemplare der stornierten Dokumente werden vom Aussteller aufbewahrt und in der Buchführung des Lieferers und des Empfängers gemäß den Durchführungsvorschriften zu diesem Gesetz erfasst.“
11 Art. 128 Abs. 1 des Danachno-osiguritelnia protsesualen kodeks (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung) (DV Nr. 105 vom 29. Dezember 2005, seit dem 1. Januar 2006 in Kraft) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: DOPK) bestimmt:
„Ungerechtfertigt gezahlte oder eingenommene Beträge für Steuern, Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung, Geldbußen und Geldstrafen, die von den Finanzbehörden verhängt werden, sowie Beträge, die von der [Natsionalna agentsia za prihodite (Nationale Agentur für Einnahmen)] nach den Steuer- oder Sozialversicherungsgesetzen erstattet werden können, sind von den Finanzbehörden zum Zweck der Tilgung fälliger öffentlicher Forderungen, die von der Nationalen Agentur für Einnahmen eingezogen werden, zu verrechnen. Eine Verrechnung mit einer verjährten Forderung ist möglich, wenn die Forderung des Schuldners fällig geworden ist, bevor seine Schuld verjährt ist. …“
12 In Art. 129 DOPK heißt es:
„(1) Die Verrechnung oder Erstattung kann von der Steuerverwaltung von Amts wegen oder auf schriftlichen Antrag des Beteiligten vorgenommen werden. Der Antrag auf Verrechnung oder Erstattung wird berücksichtigt, wenn er innerhalb von fünf Jahren nach dem 1. Januar des Jahres eingereicht wird, das auf das Jahr folgt, in dem das Ereignis, das die Erstattung ausgelöst hat, eingetreten ist, sofern das Gesetz nichts Anderes bestimmt.
…
(3) … Der Verrechnungs- oder Erstattungsbescheid muss innerhalb von 30 Tagen nach Eingang des Antrags ergehen, wenn nicht vor Ablauf dieser Frist eine Prüfung angeordnet wird. Auch im Fall einer Verrechnung oder Erstattung, einschließlich der Fälle, in denen gegen den in Satz 1 genannten Bescheid ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, können Steuerschulden oder Schulden aus Pflichtbeiträgen zur Sozialversicherung Gegenstand einer Prüfung sein. Wenn gegen den Bescheid ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, kann bis zum Eintritt der Rechtskraft der Gerichtsentscheidung ein Prüfungsbescheid erstellt werden.
…
(7) Die Verrechnungs- oder Erstattungsbescheide sind nach den Modalitäten der Anfechtung von Nachforderungsbescheiden anfechtbar.“
13 Art. 110 des Zakon za zadalzheniyata i dogovorite (Gesetz über Schuldverhältnisse und Verträge) (DV Nr. 275 vom 22. November 1950) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZZD) sieht vor:
„Der Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist führt zum Erlöschen aller Forderungen, für die das Gesetz nichts Anderes bestimmt.
…“
14 In Art. 116 ZZD heißt es:
„Die Verjährung wird unterbrochen
a) wenn der Schuldner die Forderung anerkennt;
b) durch Einreichung einer Klage, eines Widerspruchs oder eines Schlichtungsantrags; wird der Klage, dem Widerspruch oder dem Schlichtungsantrag nicht stattgegeben, so gilt die Verjährung als nicht unterbrochen;
c) durch den Erlass von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen.
…“
15 Art. 117 ZZD sieht vor:
„Sobald die Verjährungsfrist unterbrochen wird, beginnt eine neue Verjährungsfrist zu laufen.
Wird die Forderung durch eine gerichtliche Entscheidung festgestellt, so beträgt die neue Verjährungsfrist in allen Fällen fünf Jahre.
…“
16 Art. 120 ZZD lautet:
„Die Verjährung wird nicht von Amts wegen berücksichtigt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17 Consortium Remi Group ist im Bau von Gebäuden und Anlagen tätig. Sie wurde am 16. Juni 1995 für Mehrwertsteuerzwecke registriert und am 7. März 2019 aufgrund systematischer Verstöße gegen die im ZDDS festgelegten Verpflichtungen aus dem Mehrwertsteuerregister gelöscht. Mit Urteil vom 18. September 2020 erklärte der Okrazhen sad Varna (Regionalgericht Varna, Bulgarien) Consortium Remi Group für zahlungsunfähig, und ein Insolvenzverfahren wurde eröffnet.
18 Für den Zeitraum von 2006 bis 2010 und für das Jahr 2012 stellte Consortium Remi Group fünf Gesellschaften Rechnungen aus, nämlich der „Promes“ OOD, der „Orkid Sofia Hills“ EOOD, der „Valentin Stoyanov“ EOOD, der „Sunshine Coast Investment“ EOOD und der „Mosstroy-Varna“ AD (im Folgenden: Schuldnergesellschaften). In diesen Rechnungen war die Mehrwertsteuer ausgewiesen, die für die meisten Besteuerungszeiträume entrichtet wurde. Da die Schuldnergesellschaften diese Rechnungen nicht bezahlten, beläuft sich jedoch der Gesamtbetrag der Mehrwertsteuerforderungen von Consortium Remi Group aus diesen Rechnungen auf 618 171,16 bulgarische Leva (BGN) (etwa 309 085 Euro).
19 Mit einem Steuerprüfungsbescheid vom 31. Januar 2011 wurden Schulden von Consortium Remi Group nach dem ZDDS für den Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Juli 2010 festgestellt, einschließlich der in den Rechnungen an Sunshine Coast Investment ausgewiesenen Mehrwertsteuer. Consortium Remi Group focht diesen Bescheid gerichtlich an; ihre Klage wurde jedoch vom erstinstanzlichen Gericht abgewiesen. Dessen Urteil wurde mit Urteil des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) bestätigt.
20 Am 7. Februar 2020 beantragte Consortium Remi Group gemäß Art. 129 Abs. 1 DOPK (im Folgenden: Verrechnungsantrag) bei der bulgarischen Finanzverwaltung, nach Art. 128 Abs. 1 DOPK einen Betrag in Höhe von 618 171,16 BGN zuzüglich Verzugszinsen mit ihren Mehrwertsteuerschulden zu verrechnen. Dieser Betrag entsprach der Mehrwertsteuer, die sie aufgrund der an die Schuldnergesellschaften ausgestellten Rechnungen erklärt und abgeführt hatte. In der Anlage zu ihrem Verrechnungsantrag legte Consortium Remi Group eine „Liste der von den Vertragspartnern nicht gezahlten Beträge“ vor.
21 Dieser Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass er nach Ablauf der Ausschlussfrist gemäß Art. 129 Abs. 1 DOPK gestellt worden sei. Zudem habe Consortium Remi Group nicht nachgewiesen, dass die Mehrwertsteuerforderungen, die den Schuldnergesellschaften in Rechnung gestellt worden seien, vollständig oder teilweise nicht beglichen wurden.
22 Im Rahmen ihres Einspruchs gegen den ablehnenden Bescheid über diesen Antrag legte Consortium Remi Group die Entscheidungen über die Eröffnung von Insolvenzverfahren gegen die Schuldnergesellschaften sowie Beweise dafür vor, dass diese Forderungen von den Verwaltern der Schuldnergesellschaften anerkannt und in das Verzeichnis der anerkannten Forderungen, das im Rahmen dieser Insolvenzverfahren erstellt worden sei, eingetragen worden seien.
23 Die Ablehnung des Verrechnungsantrags wurde mit Bescheid des Direktors vom 22. Mai 2020 in vollem Umfang bestätigt.
24 Consortium Remi Group erhob beim Administrativen sad Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien) eine Klage gegen den vom Direktor bestätigten ablehnenden Bescheid über den Verrechnungsantrag. Diese Klage wurde abgewiesen. Gegen das Urteil legte Consortium Remi Group eine Kassationsbeschwerde beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht), dem vorlegenden Gericht, ein. Sie machte geltend, dass nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage vermindert werden müsse, wenn der Steuerpflichtige nach der Lieferung der Gegenstände oder der Erbringung der Dienstleistungen die geschuldete Gegenleistung nicht oder nicht vollständig erhalten habe. Diese Bestimmung entfalte unmittelbare Wirkung und sei daher anzuwenden, da die nationalen Vorschriften ihr widersprächen.
25 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gibt es im bulgarischen Recht keine Bestimmung, die bei Nichtbezahlung eine Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage gestatte. Art. 115 ZDDS sehe eine solche Verminderung nur für den Fall der Annullierung oder Rückgängigmachung der Lieferung vor.
26 Das vorlegende Gericht stützt sich auf die Erwägungen des Gerichtshofs in den Urteilen vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 21 bis 27), und vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 62 und 65). Unter Berufung auf diese Erwägungen ist es in Übereinstimmung mit dem Vorbringen von Consortium Remi Group der Auffassung, dass die Möglichkeit, die Mehrwertsteuer im Fall der Nichtzahlung des Preises zu erstatten, ungeachtet der Abweichung gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht völlig ausgeschlossen werden könne. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige nachweise, dass angesichts der Umstände die Gefahr bestehe, dass der Rechnungsadressat die Zahlungsverpflichtung nicht erfülle.
27 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Abweichung gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Bulgarien nicht im Rahmen einer spezifischen Regelung berücksichtigt worden sei, weder hinsichtlich der Art und Weise, in der die Steuerbemessungsgrundlage berichtigt werde, wenn die Verpflichtung zur Begleichung einer Mehrwertsteuerforderung möglicherweise nicht erfüllt werde, noch hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen die Erstattung der gezahlten Mehrwertsteuer verlangt werden könne.
28 Unter diesen Umständen hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stehen bei Vorliegen einer Abweichung gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Neutralitätsgrundsatz und Art. 90 dieser Richtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 129 Abs. 1 Satz 2 DOPK entgegen, die eine Ausschlussfrist für die Stellung eines Antrags auf Verrechnung oder Erstattung der vom Steuerpflichtigen für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen in Rechnung gestellten Steuer bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung durch den Empfänger der Lieferung oder Leistung vorsieht?
2. Ist unabhängig von der Antwort auf die erste Frage unter den Umständen des Ausgangsverfahrens zwingende Voraussetzung für die Anerkennung des Rechts auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass der Steuerpflichtige die von ihm ausgestellte Rechnung bezüglich der ausgewiesenen Mehrwertsteuer wegen der vollständigen oder teilweisen Nichtzahlung des Preises der Lieferung oder Leistung durch den Rechnungsempfänger berichtigt, bevor er den Erstattungsantrag stellt?
3. Je nach den Antworten auf die ersten beiden Fragen: Wie ist Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bei der Bestimmung des Zeitpunkts auszulegen, zu dem der Grund für die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage entsteht, wenn ein Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtzahlung des Preises vorliegt und wegen der Abweichung von Art. 90 Abs. 1 eine nationale Regelung fehlt?
4. Wie sind die Erwägungen in den Urteilen vom 27. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 21 bis 27), und vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 62 und 65), anzuwenden, wenn das bulgarische Recht keine speziellen Voraussetzungen für die Anwendung der Abweichung gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält?
5. Stehen der Neutralitätsgrundsatz und Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer Steuer- und Sozialversicherungspraxis entgegen, wonach bei Nichtbezahlung keine Berichtigung der in Rechnung gestellten Steuer zulässig ist, bevor der Empfänger des Gegenstands oder der Dienstleistung, sofern er ein Steuerpflichtiger ist, über die Annullierung der Steuer in Kenntnis gesetzt wird, damit der von ihm ursprünglich vorgenommene Abzug berichtigt wird?
6. Lässt die Auslegung von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Annahme zu, dass ein mögliches Recht auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung ein Recht auf Erstattung der vom Lieferer gezahlten Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen begründet, und, wenn ja, ab welchem Zeitpunkt?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
29 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof für die Auslegung des Unionsrechts nur insoweit zuständig, als es um dessen Anwendung in einem neuen Mitgliedstaat ab dem Tag seines Beitritts zur Europäischen Union geht (Urteil vom 17. Dezember 2020, Franck, C‑801/19, EU:C:2020:1049, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Daraus ergibt sich insbesondere, dass der Gerichtshof für die Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinien der Union nicht zuständig ist, wenn der Erhebungszeitraum der fraglichen Steuern vor dem Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats zur Union liegt (Urteil vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing, C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 31).
31 Da die Verpflichtung zur Berichtigung untrennbar mit dem Entstehen des Anspruchs auf die als Vorsteuer geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer und mit dem daraus resultierenden Recht auf Vorsteuerabzug verbunden ist, ermöglicht somit das Auftreten von Umständen, die diese Verpflichtung grundsätzlich begründen können, nach dem Unionsbeitritt eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof nicht, die Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen, wenn die Lieferung der Gegenstände oder die Erbringung der Dienstleistungen vor diesem Beitritt erfolgt ist (Urteil vom 27. Juni 2018, Varna Holideis, C‑364/17, EU:C:2018:500, Rn. 31).
32 Vorliegend betrifft der Ausgangsrechtsstreit die Besteuerungszeiträume der Jahre 2006 bis 2010 und des Jahres 2012. Daher ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht zuständig, soweit sie Dienstleistungen oder Lieferungen von Gegenständen betreffen, die im Jahr 2006 und damit vor dem Beitritt der Republik Bulgarien zur Union am 1. Januar 2007 erfolgten.
Zu den Vorlagefragen
Zu den Fragen 1, 3 und 4
33 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Hinblick auf eine zweckdienliche Antwort an das vorlegende Gericht veranlasst sein kann, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seinen Fragen nicht angeführt hat, indem er aus der Begründung der Vorlageentscheidung diejenigen Elemente des Unionsrechts herausarbeitet, die angesichts des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 2. März 2023, Åklagarmyndigheten, C‑666/21, EU:C:2023:149, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht zwar in seinen Vorlagefragen nur den Grundsatz der steuerlichen Neutralität genannt. Dies steht einer Berücksichtigung anderer allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts, die für die Beantwortung dieser Fragen maßgeblich sein können, jedoch nicht entgegen.
35 Daher ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen 1, 3 und 4, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität unter Berücksichtigung der Abweichung gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach für die Stellung eines Antrags auf Erstattung der Mehrwertsteuer, der darauf beruht, dass im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung der Rechnung eines Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage vermindert wird, eine Ausschlussfrist gilt, und, falls dies nicht der Fall ist, ab welchem Zeitpunkt eine solche Frist laufen muss, wenn es hierzu keine spezifischen nationalen Vorschriften gibt.
36 Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor, dass im Fall der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert wird. Diese Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage und mithin den Betrag der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer immer dann zu vermindern, wenn der Steuerpflichtige nach der Bewirkung eines Umsatzes die gesamte Gegenleistung oder einen Teil davon nicht erhält. Diese Bestimmung ist Ausdruck eines fundamentalen Grundsatzes der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach dem die tatsächlich erhaltene Gegenleistung als Bemessungsgrundlage dient und aus dem folgt, dass die Steuerverwaltung als Mehrwertsteuer keinen Betrag erheben darf, der den dem Steuerpflichtigen gezahlten Betrag übersteigt (Urteil vom 11. November 2021, ELVOSPOL, C‑398/20, EU:C:2021:911, Rn. 24 und 25).
37 Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie wiederum bestimmt, dass die Mitgliedstaaten im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichterbringung der Gegenleistung von der in Art. 90 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtung zur Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage abweichen können.
38 Der Gerichtshof hat hierzu bereits entschieden, dass in einer nationalen Vorschrift, die bei der Aufzählung der Sachverhalte, bei denen die Steuerbemessungsgrundlage vermindert wird, den Fall der Nichtbezahlung des Preises des Umsatzes nicht nennt, das Ergebnis der Ausübung der dem Mitgliedstaat durch Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumten Befugnis zur Abweichung zu sehen ist (Urteil vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing, C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 60).
39 Vorliegend geht sowohl aus der Vorlageentscheidung als auch aus den mündlichen Erklärungen der bulgarischen Regierung hervor, dass die nationale Regelung, die in Art. 115 Abs. 1 ZDDS die Fälle aufzählt, in denen die Steuerbemessungsgrundlage berichtigt wird, keine Berichtigung für den Fall vorsieht, dass der Preis des mehrwertsteuerpflichtigen Umsatzes nicht gezahlt wird.
40 In Bezug auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Zeitraum ist demnach davon auszugehen, dass die Republik Bulgarien von ihrem Recht, von der Verpflichtung zur Verminderung der Bemessungsgrundlage im Fall der Nichtbezahlung abzuweichen, in der Weise Gebrauch gemacht hat, dass der Steuerpflichtige auf eine solche Verminderung keinen Anspruch hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing, C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 61).
41 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs beruht jedoch diese strikt auf den Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung beschränkte Abweichungsbefugnis auf der Erwägung, dass es unter bestimmten Umständen und aufgrund der Rechtslage in dem betreffenden Mitgliedstaat schwierig sein kann, nachzuprüfen, ob die Gegenleistung endgültig oder nur vorläufig nicht erbracht wurde (Urteil vom 11. November 2021, ELVOSPOL, C‑398/20, EU:C:2021:911, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Daraus folgt, dass die Ausübung einer solchen Abweichungsbefugnis gerechtfertigt werden muss, damit die von den Mitgliedstaaten zu ihrer Durchführung erlassenen Maßnahmen das mit der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgte Ziel der Steuerharmonisierung nicht zunichtemachen, und dass die Abweichungsbefugnis es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der Nichtbezahlung einfach ohne Weiteres auszuschließen (Urteil vom 11. November 2021, ELVOSPOL, C‑398/20, EU:C:2021:911, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Würde zugelassen, dass die Mitgliedstaaten jede Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage bei endgültiger Nichtbezahlung ausschließen könnten, liefe dies nämlich dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zuwider, aus dem sich insbesondere ergibt, dass der Unternehmer in seiner Eigenschaft als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates vollständig von derjenigen Mehrwertsteuer entlastet werden muss, die er im Rahmen seiner selbst der Mehrwertsteuer unterliegenden wirtschaftlichen Tätigkeit schuldet oder entrichtet (Urteil vom 11. November 2021, ELVOSPOL, C‑398/20, EU:C:2021:911, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 In diesem Kontext ist festzustellen, dass zum einen Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten (Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum anderen soll die Abweichungsmöglichkeit nach Art. 90 Abs. 2 den Mitgliedstaaten lediglich ermöglichen, der Unsicherheit über die Einbringung der geschuldeten Beträge entgegenzuwirken; sie regelt nicht die Frage, ob eine Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage bei endgültiger Nichtbezahlung entfallen kann (Urteil vom 11. Juni 2020, SCT, C‑146/19, EU:C:2020:464, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Im Übrigen kann, wie die Generalanwältin sinngemäß in den Nrn. 41 und 56 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbar anwendbar sein, wenn wie vorliegend der Mitgliedstaat im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nicht gestattet und dabei den Grad der Unsicherheit hinsichtlich der Endgültigkeit der Nichtbezahlung nicht berücksichtigt.
46 Zur zeitlichen Beschränkung des Rechts auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Erstes festzustellen, dass die Möglichkeit, ohne eine solche Beschränkung einen Antrag auf Mehrwertsteuererstattung zu stellen, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ, C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Des Weiteren hat der Gerichtshof zur Vorsteuerabzugsregelung – die kohärent im Verhältnis zu Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2018, T‑2, C‑396/16, EU:C:2018:109, Rn. 35) – entschieden, dass eine Ausschlussfrist, deren Ablauf als Sanktion für den nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen, der den Vorsteuerabzug nicht geltend gemacht hat, den Verlust des Abzugsrechts zur Folge hat, nicht als mit der von der Mehrwertsteuerrichtlinie errichteten Regelung unvereinbar angesehen werden kann, sofern diese Frist zum einen gleichermaßen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gilt (Äquivalenzgrundsatz) und sie zum anderen die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C‑8/17, EU:C:2018:249, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 In Bezug auf die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung, wonach eine Ausschlussfrist gilt, nach deren Ablauf der Antrag auf Erstattung einer Steuer unzulässig ist, genügt daher, wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge dargelegt hat, der Hinweis, dass Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer solchen zeitlichen Begrenzung des Rechts auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nicht entgegensteht.
49 Wenn als Zweites das Vorhandensein einer Ausschlussfrist, deren Ablauf bedeutet, dass ein Gläubiger keine Verminderung der Bemessungsgrundlage um die mit bestimmten Forderungen verbundene Mehrwertsteuer mehr beantragen kann, als Solches nicht als mit der Mehrwertsteuerrichtlinie unvereinbar angesehen werden kann, richtet sich der Zeitpunkt, ab dem diese Frist läuft, unter Vorbehalt der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nach dem nationalen Recht (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ, C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Was insbesondere den Effektivitätsgrundsatz betrifft, lässt sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen, dass eine Ausschlussfrist, die ab dem Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen gelaufen wäre und für bestimmte Umsätze vor der Einreichung des Berichtigungsantrags abgelaufen wäre, nicht wirksam gegen die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug eingewandt werden könnte, wenn der Steuerpflichtige keinen Mangel an Sorgfalt an den Tag gelegt hat und weder ein Missbrauch noch ein kollusives Zusammenwirken vorliegen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ, C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Hierzu ist mit der Generalanwältin (Nr. 50 der Schlussanträge) festzustellen, dass in Anbetracht des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer – wonach der Unternehmer, der die Vorfinanzierung der Mehrwertsteuer sicherstellt, indem er sie für Rechnung des Staates einzieht, im Rahmen seiner der mehrwertsteuerpflichtigen wirtschaftlichen Tätigkeiten vollständig von der Last dieser Steuer befreit wird – der Beginn der Ausschlussfrist für die Ausübung des Rechts auf Verminderung der Bemessungsgrundlage gemäß Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen ausreichenden Bezug zu dem Zeitpunkt aufweisen muss, ab dem der mit der gebotenen Sorgfalt handelnde Steuerpflichtige dieses Recht ausüben kann.
52 Im Übrigen erfordern die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit, wenn es wie im Ausgangsrechtsstreit keine nationalen Vorschriften über die Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung gibt, dass der Steuerpflichtige den Beginn der Ausschlussfrist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen kann.
53 Der Unsicherheit über die Endgültigkeit der Nichtzahlung könnte auch dadurch Rechnung getragen werden, dass eine Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage gewährt wird, wenn der Gläubiger vor dem Abschluss des Insolvenz- oder Liquidationsverfahrens seines Schuldners eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Forderungsausfall darlegt, auch auf die Gefahr hin, dass die Besteuerungsgrundlage heraufgesetzt wird, wenn die Zahlung dennoch erfolgen sollte. Es wäre somit Sache der nationalen Behörden, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter richterlicher Kontrolle festzulegen, welche Beweise der Gläubiger für eine wahrscheinlich länger dauernde Nichtbezahlung beizubringen hat, und zwar unter Berücksichtigung der Besonderheiten des anzuwendenden nationalen Rechts. Eine solche Ausgestaltung wäre auch zur Erreichung des verfolgten Ziels wirksam und zugleich weniger belastend für den Gläubiger, der die Vorfinanzierung der Mehrwertsteuer sicherstellt, indem er sie für Rechnung des Staates einzieht (Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Diese Feststellung gilt erst recht im Kontext von Insolvenz- oder Liquidationsverfahren, in denen grundsätzlich erst nach einem langen Zeitraum sicher ist, dass die Forderung endgültig uneinbringlich ist. Eine solche Dauer kann jedenfalls für die den Rechtsvorschriften über solche Verfahren unterliegenden Unternehmer im Fall der Nichtbezahlung einer ihrer Rechnungen zu einem Liquiditätsnachteil gegenüber ihren Mitbewerbern aus anderen Mitgliedstaaten führen, der offensichtlich das mit der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgte Ziel der Steuerharmonisierung zunichtemachen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2020, E. [Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage], C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Zwar wurden vorliegend die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, in den Jahren 2007 bis 2010 und 2012 bewirkt, und Consortium Remi Group hat den Erstattungsantrag, der auf der Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage beruht, erst im Jahr 2020 gestellt. Sowohl aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten als auch aus den Antworten der Parteien des Ausgangsverfahrens auf die in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen ergibt sich jedoch, dass die ersten beiden Schuldnergesellschaften vor der Einreichung dieses Antrags 2012 bzw. 2017 aus dem Handelsregister gelöscht wurden, die dritte während des Ausgangsverfahrens aus dem Handelsregister gelöscht wurde und gegen die letzten beiden vor der Stellung des Antrags Insolvenzverfahren eröffnet wurden.
56 Folglich hat das vorlegende Gericht, das allein für die Entscheidung über den Sachverhalt zuständig ist, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem Consortium Remi Group ohne Mangel an Sorgfalt ihr Recht auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung hätte geltend machen können, insbesondere im Hinblick auf eine etwaige Uneinbringlichkeit ihrer Forderungen.
57 Nach alledem ist auf die Fragen 1, 3 und 4 zu antworten, dass Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats –wonach für die Stellung eines Antrags auf Erstattung der Mehrwertsteuer, der darauf beruht, dass im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage vermindert wird, eine Ausschlussfrist gilt, deren Ablauf dazu führt, dass dem nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen eine Sanktion auferlegt wird – nicht entgegensteht, sofern diese Frist erst ab dem Zeitpunkt läuft, zu dem der Steuerpflichtige ohne Mangel an Sorgfalt sein Recht auf Verminderung geltend machen kann. Gibt es keine nationalen Vorschriften über die Einzelheiten der Ausübung dieses Rechts, muss der Beginn einer solchen Ausschlussfrist für den Steuerpflichtigen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellbar sein.
Zu den Vorlagefragen 2 und 5
58 In Anbetracht der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung sind die Vorlagefragen 2 und 5, die zusammen zu prüfen sind, dahin zu verstehen, dass das das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie, wenn es keine spezifischen nationalen Vorschriften gibt, dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung davon abhängig macht, dass dieser Steuerpflichtige zuvor die ursprüngliche Rechnung berichtigt und dem Schuldner, sofern dieser steuerpflichtig ist, im Voraus seine Absicht mitteilt, die Mehrwertsteuer zu annullieren.
59 Zunächst ist festzustellen, dass die Voraussetzung, wonach die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige die ursprünglich ausgestellten Rechnungen berichtigt hat, entgegen dem Vorbringen des Direktors und der Europäischen Kommission nicht aus Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie folgt.
60 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Bestimmung nämlich nur dann anwendbar, wenn die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde, und erfasst daher nicht die Fälle, in denen die in der Rechnung ausgewiesene Steuer richtig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C‑378/21, EU:C:2022:968, Rn. 21 und 23).
61 Dagegen fallen das Erfordernis, die ursprünglichen Rechnung zu berichtigen, und das Erfordernis, das im Fall der Nichtbezahlung eine entsprechende Verminderung der Bemessungsgrundlage für einen Steuerpflichtigen davon abhängig macht, dass dieser seinem steuerpflichtigen Schuldner im Voraus mitteilt, dass er beabsichtigt, die Mehrwertsteuer ganz oder teilweise zu annullieren, sowohl unter Art. 90 Abs. 1 als auch unter Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska, C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 24, und vom 6. Dezember 2018, Tratave, C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 35).
62 Nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten die Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, wobei diese Möglichkeit insbesondere nicht dazu genutzt werden darf, zusätzlich zu den in Kapitel 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.
63 Da Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außer den von ihnen festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angeben, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, räumen sie den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum insbesondere in Bezug auf die Formalitäten ein, die der Steuerpflichtige gegenüber den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten erfüllen muss, um die Steuerbemessungsgrundlage zu vermindern (Urteil vom 11. Juni 2020, SCT, C‑146/19, EU:C:2020:464, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu erlassen befugt sind, dürfen jedoch grundsätzlich von der Einhaltung der Regeln über die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage nur insoweit abweichen, als dies für die Erreichung dieses spezifischen Ziels unbedingt erforderlich ist. Denn sie dürfen die Ziele und Grundsätze der Mehrwertsteuerrichtlinie nur so wenig wie möglich beeinträchtigen und daher nicht so eingesetzt werden, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen, die ein Grundprinzip des durch das einschlägige Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (Urteil vom 6. Oktober 2021, Boehringer Ingelheim, C‑717/19, EU:C:2021:818, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Wird die Erstattung der Mehrwertsteuer in Anbetracht der Bedingungen, unter denen Anträge auf Steuererstattungen gestellt werden können, unmöglich oder übermäßig erschwert, können dieser Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außerdem gebieten, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Steuerpflichtigen ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska, C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Demzufolge müssen sich die Formalitäten, die von den Steuerpflichtigen zu erfüllen sind, damit sie gegenüber den Steuerbehörden das Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage ausüben können, auf diejenigen beschränken, die den Nachweis ermöglichen, dass nach Bewirkung des Umsatzes die Gegenleistung zum Teil oder in vollem Umfang endgültig nicht erlangt werden wird. Insoweit haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob dies bei den vom betreffenden Mitgliedstaat verlangten Formalitäten der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Boehringer Ingelheim, C‑717/19, EU:C:2021:818, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang wiederholt entschieden, dass das Erfordernis, wonach die Verminderung der sich aus der ursprünglichen Rechnung ergebenden Steuerbemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist, grundsätzlich dazu beitragen kann, sowohl die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen als auch die Steuerhinterziehung und die Gefährdung des Steueraufkommens zu vermeiden, und daher die in Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten legitimen Ziele verfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska, C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 32 und 33).
68 Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, gilt diese Feststellung auch für das Erfordernis, wonach die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige seinem steuerpflichtigen Schuldner im Voraus mitteilt, dass er beabsichtigt, die Mehrwertsteuer ganz oder teilweise zu annullieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2018, Tratave, C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 35 und 36).
69 Folglich stellen die im Ausgangsverfahren fraglichen Erfordernisse, wonach die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige die ursprüngliche Rechnung wegen der teilweisen oder vollständigen Nichtbezahlung berichtigt und seine Absicht, die Mehrwertsteuer zu annullieren, seinem Schuldner im Voraus mitteilt, damit dieser zum Zweck der Berichtigung des ursprünglich vorgenommenen Abzugs unterrichtet ist, die Neutralität der Mehrwertsteuer grundsätzlich nicht in Frage (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska, C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 37, und vom 6. Dezember 2018, Tratave, C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 39).
70 Gleichwohl hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob diese Erfordernisse im vorliegenden Fall für den Steuerpflichtigen, der die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht hat, nicht als übermäßige Belastung anzusehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2018, Tratave, C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 41).
71 Aus dem Inhalt der dem Gerichtshof vorliegenden Akten, der in der mündlichen Verhandlung bestätigt wurde, ergibt sich jedoch zum einen, dass die bulgarische Regelung in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung nicht die Verpflichtung vorsah, im Fall der Nichtbezahlung die ursprüngliche Rechnung zu berichtigen und den Schuldner über die Annullierung der Steuer zu informieren.
72 Zum anderen ergibt sich aus diesem Akteninhalt, dass Consortium Remi Group am 7. März 2019 aus dem Mehrwertsteuerregister gestrichen worden war, so dass es ihr zum Zeitpunkt der Einreichung des im Ausgangsverfahren fraglichen Verrechnungsantrags nicht mehr möglich war, berichtigte Rechnungen auszustellen. Der Direktor hat nämlich, ohne dass ihm widersprochen wurde, hierzu ausgeführt, dass nach den zeitlich anwendbaren nationalen Vorschriften die Berichtigung der Mehrwertsteuer nicht vorgenommen werden könne, wenn der Steuerpflichtige aus dem Register gestrichen worden sei.
73 Da die Berichtigung einer Rechnung in der Praxis der bulgarischen Finanzverwaltung eine unerlässliche Bedingung für eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage ist, ist folglich festzustellen, dass die Neutralität der Mehrwertsteuer dann beeinträchtigt wird, wenn es dem Steuerpflichtigen unmöglich ist oder es ihm übermäßig erschwert wird, eine solche Rechnung zu berichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Boehringer Ingelheim, C‑717/19, EU:C:2021:818, Rn. 63).
74 Folglich gebieten in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits, in dem es dem Steuerpflichtigen unmöglich ist, ein berichtigendes Dokument in Bezug auf unbezahlte Rechnungen auszustellen, die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit, dass der betreffende Mitgliedstaat dem Steuerpflichtigen erlaubt, vor den nationalen Steuerbehörden mit anderen Mitteln die Nichtbezahlung dieser Rechnungen, die seinem Recht auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage zugrunde liegt, nachzuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Boehringer Ingelheim, C‑717/19, EU:C:2021:818, Rn. 65).
75 Wird das Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage in Ermangelung einschlägiger nationaler Vorschriften von der Berichtigung der ursprünglichen Rechnung abhängig gemacht, so geht dies deshalb über das zur Erreichung des mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgten Ziels, die Gefährdung des Steueraufkommens zu vermeiden, hinaus, wenn die Erfüllung dieser Voraussetzung unmöglich geworden ist.
76 Dasselbe gilt erst recht für die in der fünften Vorlagefrage genannte Verpflichtung, wonach der Empfänger dieser Rechnung über die Absicht ihres Ausstellers informiert werden muss, die Mehrwertsteuer zu annullieren. Aus dem Wortlaut dieser Vorlagefrage sowie aus anderen Feststellungen im Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass diese Verpflichtung nach der Praxis der bulgarischen Finanzverwaltung im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung eine zwingende Voraussetzung für die Berichtigung der in der Rechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuer darstellt.
77 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass vorliegend Consortium Remi Group aufgrund systematischer Verstöße gegen ihre im ZDDS festgelegten Verpflichtungen aus dem Mehrwertsteuerregister gestrichen wurde und sich ihr Verrechnungsantrag auf die Nichtbezahlung von Rechnungen bezog, die mehrere Jahre vor ihrer Streichung ausgestellt worden waren. Daher hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob es dem Steuerpflichtigen nicht zuzurechnen ist, dass es ihm unmöglich ist, berichtigte Rechnungen auszustellen.
78 Nach alledem ist auf die Fragen 2 und 5 zu antworten, dass Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie, wenn es keine spezifischen nationalen Vorschriften gibt, dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung davon abhängig macht, dass dieser Steuerpflichtige zuvor die ursprüngliche Rechnung berichtigt und dem Schuldner im Voraus seine Absicht mitteilt, die Mehrwertsteuer zu annullieren, sofern es dem Steuerpflichtigen unmöglich ist, eine solche Berichtigung rechtzeitig vorzunehmen, und ihm diese Unmöglichkeit nicht zuzurechnen ist.
Zur sechsten Frage
79 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein etwaiges Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung einen Anspruch auf Erstattung der von ihm gezahlten Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen begründet und, wenn ja, ab welchem Zeitpunkt ein solcher Anspruch geltend gemacht werden kann.
80 Wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, gewährleistet das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität der Mehrwertsteuer, und es soll den Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlasten. Außerdem ergibt sich aus der in Rn. 63 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der in Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Einzelheiten zwar über einen Gestaltungsspielraum verfügen, diese Einzelheiten aber den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit der Mehrwertsteuer belastet wird.
81 Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus der Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entstehen darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 38).
82 Hätte indessen der Steuerpflichtige in dem Fall, dass die auf einer Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage beruhende Erstattung nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt, keinen Anspruch auf Verzugszinsen, so würde dadurch seine Situation negativ beeinträchtigt, was gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstieße (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 39 und 41).
83 Folglich verlangt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität – auch wenn Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie weder eine Pflicht zur Zahlung von Zinsen auf die Erstattung der Mehrwertsteuer, die auf einer Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage beruht, vorsieht, noch den Zeitpunkt angibt, ab dem solche Zinsen zu zahlen wären –, dass die finanziellen Verluste, die dadurch entstehen, dass ein Vorsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 40 und 41).
84 In einem solchen Fall besteht nämlich zugunsten des Steuerpflichtigen ein Vorsteuerüberschuss, der ihm zu erstatten ist, durch den er aber finanzielle Verluste erleiden kann, da ihm der entsprechende Geldbetrag nicht zur Verfügung steht. Wenn nun der Steuerpflichtige in dem Fall, dass die Steuerverwaltung diesen Überschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, keinen Anspruch auf Verzugszinsen hätte, würde seine Situation dadurch negativ beeinträchtigt und damit gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen (Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 42).
85 Was insbesondere die Modalitäten der Anwendung von Zinsen auf die Erstattung betrifft, die aufgrund einer Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage erfolgt, so fallen diese Modalitäten in den Bereich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, die durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, C‑397/21, EU:C:2022:790, Rn. 45).
86 Daher hat das vorlegende Gericht mit Blick auf diese Grundsätze und alle Besonderheiten des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu bestimmen, ob im vorliegenden Fall eine Erstattung aufgrund einer Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage vorzunehmen war, und, sofern es feststellt, dass diese Erstattung nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgte, den Zeitpunkt festzulegen, ab dem Verzugszinsen auf den Erstattungsbetrag anfallen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. Oktober 2023, ZSE Elektrárne, C‑151/23, EU:C:2023:751, Rn. 28).
87 Wie die Generalanwältin sinngemäß in den Nrn. 99, 100 und 102 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, können vorliegend mangels genauer Ausgestaltung des nationalen Rechts Zinsen auf den Erstattungsanspruch wegen einer Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage erst ab dem Zeitpunkt berechnet werden, zu dem der Steuerpflichtige die Nichtbegleichung der fraglichen Forderung für endgültig im Sinne von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie hält und sein Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Rahmen der Steuererklärung, die sich auf den dann laufenden Besteuerungszeitraum bezieht, geltend macht, da vor diesem Zeitpunkt Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Rechtsgrundlage für die Zahlung der Mehrwertsteuer bildete.
88 Nach alledem ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein etwaiges Recht auf Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung einer von einem Steuerpflichtigen ausgestellten Rechnung einen Anspruch auf Erstattung der von ihm gezahlten Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen begründet und dass, wenn die Regelung eines Mitgliedstaats keine Modalitäten für die Anwendung der möglicherweise geschuldeten Zinsen enthält, diese Zinsen ab dem Zeitpunkt berechnet werden, ab dem der Steuerpflichtige sein Recht auf diese Verminderung im Rahmen der Steuererklärung, die sich auf den dann laufenden Besteuerungszeitraum bezieht, geltend macht.