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Steuerrecht
05.05.2022
Steuerrecht
EuGH: Verkauf einer Karte, die ihren Inhaber berechtigt, während einer begrenzten Dauer mehrere touristische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen (schwedisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 28.4.2022 – C‑637/20, Skatteverket gegen DSAB Destination Stockholm AB

ECLI:EU:C:2022:304

Volltext: BB-ONLINE BBL2022-1043-1

Tenor

Art. 30a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates vom 27. Juni 2016 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Instrument, das seinen Inhaber berechtigt, verschiedene Dienstleistungen an einem bestimmten Ort während eines begrenzten Zeitraums und bis zu einem bestimmten Wert in Anspruch zu nehmen, einen „Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 1 dieser Richtlinie darstellen kann, auch wenn ein Durchschnittsverbraucher aufgrund der begrenzten Gültigkeitsdauer dieses Instruments nicht alle angebotenen Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann. Dieses Instrument stellt einen „Mehrzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 3 dieser Richtlinie dar, da die auf diese Dienstleistungen geschuldete Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt seiner Ausstellung nicht feststeht.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 30a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates vom 27. Juni 2016 (ABl. 2016, L 177, S. 9) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Skatteverk (Finanzbehörde, Schweden) und der DSAB Destination Stockholm AB (im Folgenden: DSAB) über die steuerliche Behandlung eines Instruments, das von DSAB in Form einer als „Citycard“ bezeichneten Karte vertrieben wird (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Mehrwertsteuerrichtlinie

3          Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer.

4          Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

1. ‚Gutschein‘ ist ein Instrument, bei dem die Verpflichtung besteht, es als Gegenleistung oder Teil einer solchen für eine Lieferung von Gegenständen oder eine Erbringung von Dienstleistungen anzunehmen und bei dem die zu liefernden Gegenstände oder zu erbringenden Dienstleistungen oder die Identität der möglichen Lieferer oder Dienstleistungserbringer entweder auf dem Instrument selbst oder in damit zusammenhängenden Unterlagen, einschließlich der Bedingungen für die Nutzung dieses Instruments, angegeben sind;

2. ‚Einzweck-Gutschein‘ ist ein Gutschein, bei dem der Ort der Lieferung der Gegenstände oder der Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht, und die für diese Gegenstände oder Dienstleistungen geschuldete Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt der Ausstellung des Gutscheins feststehen;

3. ‚Mehrzweck-Gutschein‘ ist ein Gutschein, bei dem es sich nicht um einen Einzweck-Gutschein handelt.“

5          Art. 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„(1) Jede Übertragung eines Einzweck-Gutscheins durch einen Steuerpflichtigen, der im eigenen Namen handelt, gilt als eine Lieferung der Gegenstände oder Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht. Die tatsächliche Übergabe der Gegenstände oder die tatsächliche Erbringung der Dienstleistungen, für die ein Einzweck- Gutschein als Gegenleistung oder Teil einer solchen von dem Lieferer oder Dienstleistungserbringer angenommen wird, gilt nicht als unabhängiger Umsatz.

Erfolgt eine Übertragung eines Einzweck-Gutscheins durch einen Steuerpflichtigen, der im Namen eines anderen Steuerpflichtigen handelt, gilt diese Übertragung als eine Lieferung der Gegenstände oder Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht, durch den anderen Steuerpflichtigen, in dessen Namen der Steuerpflichtige handelt.

Handelt es sich bei dem Lieferer von Gegenständen oder dem Erbringer von Dienstleistungen nicht um den Steuerpflichtigen, der, im eigenen Namen handelnd, den Einzweck-Gutschein ausgestellt hat, so wird dieser Lieferer von Gegenständen bzw. Erbringer von Dienstleistungen dennoch so behandelt, als habe er diesem Steuerpflichtigen die Gegenstände oder Dienstleistungen in Bezug auf diesen Gutschein geliefert oder erbracht.

(2) Die tatsächliche Übergabe der Gegenstände oder die tatsächliche Erbringung der Dienstleistungen, für die der Lieferer der Gegenstände oder Erbringer der Dienstleistungen einen Mehrzweck-Gutschein als Gegenleistung oder Teil einer solchen annimmt, unterliegt der Mehrwertsteuer gemäß Artikel 2, wohingegen jede vorangegangene Übertragung dieses Mehrzweck-Gutscheins nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

Wird ein Mehrzweck-Gutschein von einem anderen Steuerpflichtigen als dem Steuerpflichtigen, der den gemäß Unterabsatz 1 der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsatz erbringt, übertragen, so unterliegen alle bestimmbaren Dienstleistungen wie etwa Vertriebs- oder Absatzförderungsleistungen der Mehrwertsteuer.“

6          Art. 73a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Bei der Lieferung von Gegenständen oder bei der Erbringung von Dienstleistungen, die in Bezug auf einen Mehrzweck-Gutschein erfolgt, entspricht die Steuerbemessungsgrundlage unbeschadet des Artikels 73 der für den Gutschein gezahlten Gegenleistung oder, in Ermangelung von Informationen über diese Gegenleistung, dem auf dem Mehrzweck-Gutschein selbst oder in den damit zusammenhängenden Unterlagen angegebenen Geldwert, abzüglich des Betrags der auf die gelieferten Gegenstände oder die erbrachten Dienstleistungen erhobenen Mehrwertsteuer.“

Richtlinie 2016/1065

7          In den Erwägungsgründen 2, 4 und 5 der Richtlinie 2016/1065, mit der die Richtlinie 2006/112 u. a. durch Einfügung der Art. 30a, 30b und 73a geändert wurde, heißt es:

„(2) Um eine bestimmte, einheitliche Behandlung zu gewährleisten, um den Grundsätzen einer allgemeinen, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionalen Verbrauchsteuer Rechnung zu tragen, um Inkohärenzen, Wettbewerbsverzerrungen, Doppelbesteuerung oder Nichtbesteuerung zu vermeiden und die Gefahr von Steuerumgehung zu vermindern werden für die mehrwertsteuerliche Behandlung von Gutscheinen spezielle Vorschriften benötigt.

(4) Diese Vorschriften sollten nur Gutscheine betreffen, die zur Einlösung gegen Gegenstände oder Dienstleistungen verwendet werden können. Sie sollten dagegen nicht für Instrumente gelten, die den Inhaber zu einem Preisnachlass beim Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen berechtigen, aber nicht das Recht verleihen, solche Gegenstände oder Dienstleistungen zu erhalten.

(5) Die Bestimmungen über Gutscheine sollten keine Änderung der mehrwertsteuerlichen Behandlung von Fahrscheinen, Eintrittskarten für Kinos und Museen, Briefmarken und Ähnlichem zur Folge haben.“

Schwedisches Recht

8          Die Art. 30a und 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie wurden u. a. durch die §§ 20 und 21 des Kapitels 1, § 12 des Kapitels 2 und § 3c des Kapitels 7 des Mervärdesskattelag (1994:200) (Gesetz [1994:200] über die Mehrwertsteuer) vom 30. März 1994 (SFS 1994, Nr. 200) in schwedisches Recht umgesetzt.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9          DSAB ist das Unternehmen, das die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte für Touristen vertreibt, die die Stadt Stockholm (Schweden) besuchen.

10        Diese Karte gibt ihrem Inhaber während eines begrenzten Zeitraums und bis zu einem bestimmten Wert das Recht auf Zugang zu rund 60 touristischen Attraktionen wie Sehenswürdigkeiten oder Museen. Ferner erhält man damit Zugang zu rund zehn Personenbeförderungsleistungen, etwa Rundfahrten mit den eigenen „Hop-on-Hop-off“-Bussen und ‑Booten von DSAB sowie von anderen Dienstleistungserbringern angebotenen Sightseeing-Touren. Einige dieser Dienstleistungen unterliegen der Mehrwertsteuer mit einem Steuersatz von 6 % bis 25 %, während andere von der Mehrwertsteuer befreit sind. Der Inhaber der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Karte verwendet diese als Zahlungsmittel, um Zugang zu einer Dienstleistung zu erhalten oder eine Dienstleistung zu nutzen. Dabei zahlt er nichts zusätzlich, sondern die Karte wird schlicht von einem hierfür entwickelten Lesegerät eingelesen. Gemäß einem mit DSAB geschlossenen Vertrag erhält der Dienstleistungserbringer sodann von dieser für jeden Zugang oder jede Nutzung eine Gegenleistung in Höhe eines Prozentsatzes des normalen Zugangs- oder Nutzungsentgelts. Der Dienstleistungserbringer ist nicht verpflichtet, dem Inhaber der Karte mehr als einmal Zugang zu seinen Diensten zu gewähren. DSAB gewährleistet keine Mindestzahl von Besuchern. Wenn die Wertgrenze der Karte erreicht ist, kann sie von ihrem Inhaber nicht mehr verwendet werden.

11        Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte gibt es in mehreren Versionen mit unterschiedlicher Gültigkeitsdauer und unterschiedlichen Wertgrenzen. So kostet eine Karte für Erwachsene mit einer Gültigkeit von 24 Stunden 669 schwedische Kronen (SEK) (rund 65 Euro). Während dieser Gültigkeitsdauer kann der Inhaber diese Karte als Zahlungsmittel bis zu einem Betrag von 1 800 SEK (rund 176 Euro) verwenden. Die Gültigkeitsdauer beginnt mit der erstmaligen Verwendung der Karte. Die Karte muss innerhalb eines Jahres nach ihrem Kauf genutzt werden.

12        Auf einen von DSAB gestellten Antrag auf einen Steuervorbescheid hin entschied der Skatterättsnämnd (Steuerrechtsausschuss, Schweden), dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte kein „Mehrzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie darstelle. Er schloss aus der Definition des „Gutscheins“ im Sinne dieses Artikels in Verbindung mit den Bestimmungen über die Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage, dass ein Gutschein einen bestimmten Nennwert haben oder bestimmte Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen betreffen müsse. Aus einem Gutschein müsse sich klar ergeben, was man dafür als Gegenleistung erhalten könne, selbst wenn – bei einem Mehrzweck-Gutschein – Unsicherheit hinsichtlich des Steuersatzes oder des Landes bestehen könne, in dem die Steuer zu entrichten sei.

13        Gegen diesen Vorbescheid erhoben sowohl die Finanzbehörde als auch DSAB Klage beim vorlegenden Gericht.

14        Die Finanzbehörde macht geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte nicht als „Gutschein“ im Sinne von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie eingestuft werden könne. Es handele sich um eine Art Erlebniskarte, deren Wertgrenze im Verhältnis zu ihrer sehr kurzen Gültigkeitsdauer sehr hoch sei. Somit sei ein Durchschnittsverbraucher nicht in der Lage, alle durch diese Karte gebotenen Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Die Ermäßigung, die dem Inhaber der Karte gegenüber dem normalen Preis der besuchten Attraktionen gewährt werde, stehe im Verhältnis zum Umfang ihrer Nutzung. Daher könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Karte als solche gegen Gegenstände oder Dienstleistungen getauscht werde.

15        DSAB macht dagegen geltend, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte erfülle die in Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Voraussetzungen und stelle einen „Mehrzweck-Gutschein“ im Sinne dieses Artikels dar. DSAB trägt u. a. vor, dass die betreffenden Dienstleistungserbringer verpflichtet seien, diese Karte als Zahlungsmittel anzunehmen, und dass in den für die Inhaber der Karte geltenden Bedingungen angegeben sei, welche Dienstleistungen mit der Karte bezahlt werden könnten und wer diese Dienstleistungen erbringe. Die Karte könne als Gegenleistung für Dienstleistungen, die unterschiedlichen Steuersätzen unterlägen, verwendet werden. Der Betrag der Mehrwertsteuer, die für die Dienstleistungen geschuldet werde, die als Gegenleistung für die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte erbracht werden könnten, stehe daher zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung nicht fest.

16        Unter diesen Umständen hat der Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht, Schweden), der festgestellt hat, dass sich der Gerichtshof noch nicht zur Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie über Gutscheine geäußert habe und dass bei den Erörterungen im mit Art. 398 dieser Richtlinie eingesetzten Mehrwertsteuerausschuss kein Einvernehmen über die steuerliche Behandlung von Instrumenten wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Karte habe erzielt werden können, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass es sich bei einer Karte wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Karteninhaber berechtigt, verschiedene Dienstleistungen an einem bestimmten Ort für einen begrenzten Zeitraum und bis zu einem bestimmten Wert in Anspruch zu nehmen, um einen Gutschein handelt, und stellt er in diesem Fall einen Mehrzweck-Gutschein dar?

Zur Vorlagefrage

17        Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Instrument, das seinen Inhaber berechtigt, verschiedene Dienstleistungen an einem bestimmten Ort während eines begrenzten Zeitraums und bis zu einem bestimmten Wert in Anspruch zu nehmen, einen „Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 1 dieser Richtlinie darstellen kann, auch wenn ein Durchschnittsverbraucher aufgrund der begrenzten Gültigkeitsdauer dieses Instruments nicht alle angebotenen Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann, und ob, wenn dies zu bejahen ist, ein solches Instrument einen „Mehrzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 3 dieser Richtlinie darstellen kann.

18        Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 18. November 2020, Kaplan International Colleges UK, C‑77/19, EU:C:2020:934, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19        Insoweit ist erstens zu klären, unter welchen Voraussetzungen ein Instrument nach dem Wortlaut von Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie als „Gutschein“ eingestuft werden kann.

20        Nach dieser Bestimmung ist ein Gutschein ein Instrument, bei dem erstens die Verpflichtung besteht, es als Gegenleistung oder Teil einer solchen für eine Lieferung von Gegenständen oder eine Erbringung von Dienstleistungen anzunehmen und bei dem zweitens die zu liefernden Gegenstände oder zu erbringenden Dienstleistungen oder die Identität der möglichen Lieferer oder Dienstleistungserbringer entweder auf dem Instrument selbst oder in damit zusammenhängenden Unterlagen, einschließlich der Bedingungen für die Nutzung dieses Instruments, angegeben sind.

21        Zu prüfen ist daher zum einen, ob bei einem solchen Instrument die Verpflichtung besteht, es als Gegenleistung oder Teil einer solchen für eine Lieferung von Gegenständen oder eine Erbringung von Dienstleistungen anzunehmen, und zum anderen, ob die zu liefernden Gegenstände oder zu erbringenden Dienstleistungen oder die Identität der möglichen Lieferer oder Dienstleistungserbringer entweder auf dem Instrument selbst oder in damit zusammenhängenden Unterlagen angegeben sind. Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, der die beiordnende Konjunktion „und“ enthält, und wie die Generalanwältin in Nr. 41 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, sind die beiden in Rn. 20 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen kumulativ.

22        Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass diese beiden Voraussetzungen offenbar erfüllt sind, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu überprüfen sein wird.

23        Zu dem Vorbringen der Finanzbehörde, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte könne kein „Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sein, weil es einem Durchschnittsverbraucher aufgrund der begrenzten Gültigkeitsdauer dieser Karte nicht möglich sei, alle angebotenen Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, ist festzustellen, dass diesem Vorbringen nicht gefolgt werden kann.

24        Wie die Generalanwältin in Nr. 57 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, geht nämlich aus der Definition des „Gutscheins“ in Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht hervor, dass die Gültigkeitsdauer der betreffenden Karte oder die Möglichkeit, alle damit angebotenen Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, für die Einstufung der Karte als „Gutschein“ im Sinne dieser Bestimmung relevant wäre.

25        Außerdem kann entgegen dem, was die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorbringt, die Ausstellung eines Instruments wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Karte angesichts der Vielfalt der angebotenen Dienstleistungen und der als Dienstleistungserbringer auftretenden dritten Wirtschaftsteilnehmer nicht als „einheitliche Dienstleistung“ eingestuft werden.

26        Eine solche Einstufung liefe außerdem dem im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/1065 zum Ausdruck gebrachten Ziel zuwider, da sie dazu führen würde, für Dienstleistungen wie Beförderungen oder die Gewährung des Zutritts zu Museen, die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen unterliegen oder von der Mehrwertsteuer befreit sind, einen einheitlichen Steuersatz vorzuschreiben. Eine solche Einstufung könnte ferner zu einer Doppelbesteuerung der betreffenden Dienstleistungen führen, obwohl mit der Richtlinie 2016/1065, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, u. a. bezweckt wurde, diese zu vermeiden.

27        Unter diesen Umständen erscheint es vorbehaltlich der in Rn. 22 des vorliegenden Urteils genannten Überprüfung möglich, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte als „Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie einzustufen.

28        Zweitens ist zur Einstufung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Karte als „Mehrzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie festzustellen, dass dieser Begriff eine Auffangfunktion hat. Alle anderen Gutscheine als Einzweck-Gutscheine stellen nämlich gemäß dieser Bestimmung „Mehrzweck-Gutscheine“ dar. Folglich ist zunächst zu prüfen, ob die Karte unter den Begriff „Einzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt.

29        Nach der letztgenannten Bestimmung ist ein „Einzweck-Gutschein“ ein Gutschein, bei dem der Ort der Lieferung der Gegenstände oder der Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht, und die für diese Gegenstände oder Dienstleistungen geschuldete Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt der Ausstellung des Gutscheins feststehen.

30        Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Karte den Zugang zu verschiedenen Dienstleistungen ermöglicht, die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen unterliegen oder von der Mehrwertsteuer befreit sind, und dass sich nicht vorhersehen lässt, welche Leistungen der Inhaber dieser Karte auswählen wird.

31        In diesem Fall ist festzustellen, dass die Mehrwertsteuer, die für die vom Inhaber der in Rede stehenden Karte in Anspruch genommenen Dienstleistungen geschuldet wird, zum Zeitpunkt der Ausstellung der Karte nicht feststeht, was ihre Einstufung als „Einzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausschließt. Folglich wäre diese Karte – wie die Generalanwältin in Nr. 66 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat –, da sie vorbehaltlich der Überprüfung entsprechend Rn. 22 des vorliegenden Urteils einen „Gutschein“ darstellen kann, als „Mehrzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 3 dieser Richtlinie einzustufen. Ihre steuerliche Behandlung muss anhand von Art. 30b Abs. 2 und Art. 73a dieser Richtlinie bestimmt werden.

32        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Instrument, das seinen Inhaber berechtigt, verschiedene Dienstleistungen an einem bestimmten Ort während eines begrenzten Zeitraums und bis zu einem bestimmten Wert in Anspruch zu nehmen, einen „Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 1 dieser Richtlinie darstellen kann, auch wenn ein Durchschnittsverbraucher aufgrund der begrenzten Gültigkeitsdauer dieses Instruments nicht alle angebotenen Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann. Dieses Instrument stellt einen „Mehrzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 3 dieser Richtlinie dar, da die auf diese Dienstleistungen geschuldete Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt seiner Ausstellung nicht feststeht.

Kosten

33        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

 

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