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Steuerrecht
20.01.2022
Steuerrecht
EuGH: Verbuchung von Einnahmen aus Rechten des geistigen Eigentums (Ungarisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 13.1.2022 – C-363/20; Marcas MC Szolgáltató Zrt. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

ECLI:EU:C:2022:21

Volltext BB-Online BB-ONLINE BBL2022-149-2

Tenor

1.         Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 29. Juni 2020 vorgelegten Fragen unzuständig, soweit sie sich auf die Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats beziehen, die die Prüfung und Ahndung von Steuerdelikten im Bereich der Körperschaftsteuer betrifft.

2.         Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel [50 Absatz 2 Buchstabe g AEUV] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen in der durch die Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2003 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die Buchhaltungsunterlagen einer Gesellschaft mit der Begründung beanstandet, dass diese gegen die in den Vorschriften dieses Mitgliedstaats enthaltenen Grundsätze der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre verstoßen, auch wenn alle anderen in diesen Vorschriften vorgesehenen Grundsätze der Rechnungslegung beachtet werden, wenn dieser Verstoß keine Abweichung in einem Ausnahmefall darstellt, die erforderlich ist, um die Beachtung des Grundsatzes des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes sicherzustellen, und die im Anhang des Jahresabschlusses mit der Angabe ihres Einflusses auf die Vermögens , Finanz- und Ertragslage angegeben und hinreichend begründet wird.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 47 und 54 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie von Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel [50 Absatz 2 Buchstabe g AEUV] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. 1978, L 222, S. 11) in der durch die Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2003 (ABl. 2003, L 178, S. 16) geänderten Fassung (im Folgenden: Vierte Richtlinie).

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Marcas MC Szolgáltató Zrt. (im Folgenden: Marcas) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden auch: Steuerverwaltung) wegen eines Bescheids, mit der diese einen Steuerfehlbetrag von Marcas feststellte und gegen Marcas Verzugszinsen sowie eine Steuergeldbuße festsetzte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          In Art. 2 der Vierten Richtlinie heißt es:

„(1)       Der Jahresabschluss besteht aus der Bilanz, der Gewinn- und Verlustrechnung und dem Anhang zum Jahresabschluss. Diese Unterlagen bilden eine Einheit.

(2)        Der Jahresabschluss ist klar und übersichtlich aufzustellen; er muss dieser Richtlinie entsprechen.

(3)        Der Jahresabschluss hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln.

(5)        Ist in Ausnahmefällen die Anwendung einer Vorschrift dieser Richtlinie mit der in Absatz 3 vorgesehenen Verpflichtung unvereinbar, so muss von der betreffenden Vorschrift abgewichen werden, um sicherzustellen, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne des Absatzes 3 vermittelt wird. Die Abweichung ist im Anhang anzugeben und hinreichend zu begründen; ihr Einfluss auf die Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage ist darzulegen. Die Mitgliedstaaten können die Ausnahmefälle bezeichnen und die entsprechende Ausnahmeregelung festlegen.

…“

4          Art. 31 in Abschnitt 7 („Bewertungsregeln“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)       Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die Bewertung der Posten im Jahresabschluss folgende allgemeine Grundsätze gelten:

a)         Eine Fortsetzung der Unternehmenstätigkeit wird unterstellt.

b)         In der Anwendung der Bewertungsmethoden soll Stetigkeit bestehen.

c)         Der Grundsatz der Vorsicht muss in jedem Fall beachtet werden. Das bedeutet insbesondere:

aa)       Nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne werden ausgewiesen.

bb)       Es müssen alle Risiken berücksichtigt werden, die in dem betreffenden Geschäftsjahr oder einem früheren Geschäftsjahr entstanden sind, selbst wenn diese Risiken erst zwischen dem Bilanzstichtag und dem Tag der Aufstellung der Bilanz bekannt geworden sind.

cc)       Wertminderungen sind unabhängig davon zu berücksichtigen, ob das Geschäftsjahr mit einem Gewinn oder einem Verlust abschließt.

d)         Aufwendungen und Erträge für das Geschäftsjahr, auf das sich der Jahresabschluss bezieht, müssen berücksichtigt werden, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Ausgabe oder Einnahme dieser Aufwendung oder Erträge.

e)         Die in den Aktiv- und Passivposten enthaltenen Vermögensgegenstände sind einzeln zu bewerten.

f)          Die Eröffnungsbilanz eines Geschäftsjahres muss mit der Schlussbilanz des vorhergehenden Geschäftsjahres übereinstimmen.

(2)        Abweichungen von diesen allgemeinen Grundsätzen sind in Ausnahmefällen zulässig. Die Abweichungen sind im Anhang anzugeben und hinreichend zu begründen; ihr Einfluss auf die Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage ist gesondert anzugeben.“

Ungarisches Recht

5          § 1 Abs. 5 des A társasági adóról és az osztalékadóról szóló 1996. évi LXXXI. törvény (Gesetz Nr. LXXXI von 1996 über die Körperschaftsteuer und die Dividendensteuer) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Körperschaftsteuer und die Dividendensteuer) bestimmt:

„Dieses Gesetz ist unter Berücksichtigung der und im Einklang mit den Bestimmungen des Rechnungslegungsgesetzes auszulegen. Eine Abweichung von den Vorschriften des Rechnungslegungsgesetzes zur Sicherung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Gesamtbildes darf keine Änderung der Steuerpflicht zur Folge haben.“

6          § 7 Abs. 1 Buchst. s des Gesetzes über die Körperschaftsteuer und die Dividendensteuer bestimmt:

„Das Ergebnis vor Steuern wird gesenkt: vorbehaltlich der Bestimmungen von Absatz 14 um 50 % der verrechneten Erträge auf der Grundlage der erhaltenen Lizenzgebühren zugunsten des Ergebnisses vor Steuern im Steuerjahr.“

7          Die §§ 15 und 16 des A számvitelről szóló 2000. évi C. törvény (Gesetz C von 2000 über die Rechnungslegung) (Magyar Közlöny, 2000/95. [IX. 21.], im Folgenden: Rechnungslegungsgesetz) enthalten die vom Steuerpflichtigen bei der Erstellung des Abschlusses und der Buchführung einzuhaltenden Grundsätze. Es sind dies die Grundsätze der

–          Fortführung der Unternehmenstätigkeit (§ 15 Abs. 1);

–          Vollständigkeit (§ 15 Abs. 2);

–          Richtigkeit (§ 15 Abs. 3);

–          Klarheit (§ 15 Abs. 4);

–          Stetigkeit der Methoden (§ 15 Abs. 5);

–          Unantastbarkeit der Eröffnungsbilanz (§ 15 Abs. 6);

–          Unabhängigkeit der Geschäftsjahre (§ 15 Abs. 7);

–          Vorsicht (§ 15 Abs. 8);

–          Nicht-Verrechnung (§ 15 Abs. 9);

–          historischen Kosten (§ 16 Abs. 1);

–          Zurechnung auf das Geschäftsjahr (§ 16 Abs. 2);

–          Vorrangigkeit der Wirklichkeit gegenüber dem Anschein (§ 16 Abs. 3);

–          relativen Bedeutung (§ 16 Abs. 4);

–          periodengerechten Rechnungsführung (§ 16 Abs. 5).

8          § 15 Abs. 2 des Rechnungslegungsgesetzes sieht vor:

„Ein Unternehmen hat alle wirtschaftlichen Vorgänge zu verbuchen, deren Auswirkungen auf die Mittel und Ressourcen bzw. das Ergebnis des Berichtsjahres im Bericht auszuweisen sind, einschließlich zum einen der wirtschaftlichen Vorgänge, die sich auf das Geschäftsjahr beziehen und die nach dem Bilanzstichtag liegen, aber vor der Aufstellung der Bilanz bekannt geworden sind, und zum anderen derjenigen, die sich aus wirtschaftlichen Vorgängen des mit dem Bilanzstichtag abgeschlossenen Geschäftsjahres ergeben, die vor dem Bilanzstichtag noch nicht eingetreten, aber vor der Aufstellung der Bilanz bekannt geworden sind (Grundsatz der Vollständigkeit).“

9          § 15 Abs. 7 des Rechnungslegungsgesetzes lautet:

„Bei der Ermittlung des Ergebnisses eines bestimmten Zeitraums sind unabhängig von der Leistung von Zahlungen die anerkannten Erträge aus Tätigkeiten, die in dem betreffenden Zeitraum durchgeführt wurden, und die diesen Erträgen entsprechenden Kosten (Aufwendungen) zu berücksichtigen. Die Erträge und Kosten sind dem Zeitraum zuzuordnen, in dem sie wirtschaftlich entstanden sind (Grundsatz der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre).“

10        In § 44 Abs. 1 und 2 des Az adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Besteuerungsordnung) (Magyar Közlöny, 2003/131. [XI. 14.], im Folgenden: alte Besteuerungsordnung) heißt es:

„(1)       Die in der Rechtsvorschrift vorgesehenen Belege, Bücher und Register, einschließlich der auf elektronischen Datenträgern gespeicherten elektronischen Daten und Informationen, sind so vorzulegen bzw. zu führen, dass die Steuerbemessungsgrundlage, der Steuerbetrag, die Befreiungen, die Vergünstigungen, die Bemessungsgrundlage und der Betrag der Subvention festgestellt und geprüft werden können sowie festgestellt und geprüft werden kann, ob die Steuer gezahlt oder die Subvention in Anspruch genommen wurde.

(2)        Sofern durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt wird, sind die Bücher und Register so zu führen, dass

a)         die darin enthaltenen Aufzeichnungen auf den in diesem Gesetz bzw. in den Vorschriften über Buchführungsnachweise und sonstigen Rechtsvorschriften vorgesehenen Belegen beruhen,

b)         sie für jede Steuer und Subvention fortlaufend und ohne Auslassung die Angaben zur Feststellung der Steuer oder Subvention sowie die Angabe ihrer Belege enthalten,

c)         aus ihnen die Bemessungsgrundlage der für den betreffenden Zeitraum erklärten Steuer oder Subvention hervorgeht,

d)         geprüft werden kann, ob die Steuer gezahlt oder die Subvention in Anspruch genommen wurde, und ob die Belege, auf die sie sich stützen, geprüft werden können.“

11        § 49 Abs. 1 der alten Besteuerungsordnung bestimmt:

„Der Steuerpflichtige kann die durch Selbstbesteuerung festgesetzten Steuern oder die Steuern, deren Festsetzung durch Selbstbesteuerung unterlassen wurde, die Steuerbemessungsgrundlage … und die Subvention berichtigen. Bemerkt der Steuerpflichtige vor Beginn einer Überprüfung durch die Steuerbehörde, dass er die Steuerbemessungsgrundlage, die Steuer oder die Subvention nicht im Einklang mit den Rechtsvorschriften festgesetzt hat oder seine Erklärung aufgrund eines Rechen- oder anderen Schreibfehlers hinsichtlich der Bemessungsgrundlage oder des Betrags der Steuer bzw. der Subvention falsch ist, kann er seine Erklärung im Wege der Eigenrevision ändern.“

12        § 87 Abs. 1 und 2 der alten Besteuerungsordnung bestimmt:

„(1)       Die Steuerbehörde erreicht das Ziel der Überprüfung mittels einer Überprüfung, die

a)         auf die nachträgliche Prüfung von Steuererklärungen (einschließlich der vereinfachten Überprüfung) gerichtet ist,

b)         im Zusammenhang mit der Einlösung einer staatlichen Garantie erfolgt,

c)         auf die Erfüllung bestimmter steuerlicher Verpflichtungen gerichtet ist,

d)         auf die Erhebung von Daten bzw. die Prüfung des tatsächlichen Vorliegens bestimmter wirtschaftlicher Vorgänge gerichtet ist,

e)         sich auf die Erfüllung der Abgabenpflicht bezieht,

f)          sich erneut auf den mit der Überprüfung abgeschlossenen Zeitraum bezieht,

g)         sich auf den Eintritt des Sachverhalts, auf den ein Steuervorbescheid gestützt wird, bezieht.

(2)        Ist die in Absatz 1 Buchstabe a vorgesehene Überprüfung erfolgt, liegt ein durch eine Überprüfung abgeschlossener Zeitraum vor.“

13        § 165 der alten Besteuerungsordnung sieht vor:

„(1)       Im Fall der verspäteten Zahlung der Steuer sind ab dem Tag der Fälligkeit, im Fall der Inanspruchnahme der Subventionen vor Fälligkeit bis zum Tag der Fälligkeit, Verzugszinsen zu zahlen. …

(3)        Im Fall besonders berücksichtigungswürdiger Umstände kann die Steuerbehörde in dem den Steuerfehlbetrag feststellenden Bescheid – von Amts wegen oder auf Antrag – als ersten Tag der Zahlung der Verzugszinsen auch einen späteren Zeitpunkt als den Tag der Fälligkeit der Steuer bzw. der Inanspruchnahme der Subvention festlegen. Die Verzugszinsen für einen Steuerfehlbetrag dürfen von der ursprünglichen Fälligkeit bis zum Datum des Prüfungsprotokolls, jedoch höchstens für drei Jahre berechnet werden. Die Berechnungsgrundlage der für den Steuerfehlbetrag berechneten Verzugszinsen kann nicht um den Betrag der Überzahlung verringert werden, die bei derselben Steuerbehörde registriert ist und zum Zeitpunkt der Fälligkeit in Verbindung mit anderen Steuern besteht.“

14        In § 170 Abs. 1 und 2 der alten Besteuerungsordnung heißt es:

„(1)       Im Fall eines Steuerfehlbetrags ist eine Steuergeldbuße zu zahlen. Die Höhe der Steuergeldbuße beträgt, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, 50 % des Steuerfehlbetrags. …

(2)        Die zulasten des Steuerpflichtigen festgestellte Steuerdifferenz ist im Fall der Selbstbesteuerung nur dann als Steuerfehlbetrag anzusehen, wenn diese Steuerdifferenz bis zum Zeitpunkt der Fälligkeit nicht gezahlt bzw. die Subvention in Anspruch genommen worden ist. Die am Tag der ursprünglichen Fälligkeit bestehende Überzahlung kann als Erfüllung der Verpflichtung zur Zahlung der Steuer nur berücksichtigt werden, wenn die Überzahlung auch am Tag des Beginns der Prüfung besteht.“

15        § 171 Abs. 1 der alten Besteuerungsordnung sieht vor:

„Die Steuergeldbuße kann im Fall besonders berücksichtigungswürdiger Umstände, die darauf schließen lassen, dass der Steuerpflichtige … in der gegebenen Situation die von ihm zu erwartende Sorgfalt hat walten lassen, von Amts wegen oder auf Antrag herabgesetzt bzw. erlassen werden. Bei der Herabsetzung der Steuergeldbuße sind alle Umstände des Falles abzuwägen, insbesondere die Höhe des Steuerfehlbetrags, die Umstände seiner Entstehung sowie die Schwere und Häufigkeit des rechtswidrigen Verhaltens (Tun oder Unterlassen) des Steuerpflichtigen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16        Marcas erwarb 2006 eine Marke, die sie mit zwischen den Jahren 2011 und 2013 geschlossenen Verträgen an verbundene Gesellschaften gegen Zahlung einer Lizenzgebühr in Höhe von 2 % der von diesen Gesellschaften unter dieser Marke erzielten Nettoumsätze lizenzierte. Die Abrechnung und Fakturierung der Lizenzgebühr wurden wie folgt vorgenommen: Marcas stellte vierteljährliche Rechnungen für das laufende Quartal auf der Grundlage von Verkaufsschätzungen für dieses Quartal aus, wobei der so ermittelte Betrag in diesen Rechnungen um die festgestellte Differenz zwischen den Verkaufsschätzungen und den tatsächlichen Verkäufen des vorangegangenen Quartals erhöht oder verringert wurde. Die Rechnungen für das laufende Quartal wurden innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Ausstellung bezahlt, und die Abrechnung der tatsächlichen Verkäufe für dieses Quartal wurde innerhalb von 30 Tagen nach der Zahlungsfrist übermittelt, um sie in den Rechnungen des folgenden Quartals zu berücksichtigen.

17        Für den Zeitraum von Januar 2010 bis Dezember 2013 überprüfte die Steuerverwaltung aufgrund eines Auftragsschreibens vom 11. März 2014 die Einhaltung einiger Marcas obliegender steuerlichen Pflichten durch Marcas, die nach dem Prüfungsprotokoll ausschließlich die mit den Lizenzgebühren zusammenhängenden Umsätze betrafen. Am Ende dieser Prüfung kam die Steuerverwaltung zu dem Ergebnis, dass die Unterlagen, Bücher und Register gemäß § 44 Abs. 1 und 2 der alten Besteuerungsordnung geführt worden seien.

18        Aufgrund eines Auftragsschreibens vom 18. September 2014 führte die Steuerverwaltung eine nachträgliche Prüfung der von Marcas für das Steuerjahr 2013 abgegebenen Steuererklärungen für alle Arten von Steuern, Abgaben und Subventionen durch.

19        Mit Bescheid vom 4. April 2016 stellte die Steuerverwaltung fest, dass Marcas ihre Bücher und Register gemäß den Bestimmungen des Rechnungslegungsgesetzes führe, dass aber die Methode der Verbuchung der Einnahmen aus den Lizenzgebühren im Jahr 2013 nicht den Grundsätzen der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre gemäß § 15 Abs. 2 und 7 dieses Gesetzes entspreche, da Marcas im ersten Quartal des Jahres 2013 einen Betrag von 961 273,09 Euro als Minderung der auf das vierte Quartal des Jahres 2012 entfallenden Lizenzgebühren und erst im ersten Quartal des Jahres 2014 einen Betrag von 57 376,17 Euro für die auf das vierte Quartal des Jahres 2013 entfallenden Lizenzgebühren verbucht habe.

20        Da die Abrechnung für das Jahr 2012 und die für das vierte Quartal 2013 Marcas vor den Bilanzstichtagen bekannt gewesen seien, stellte die Steuerverwaltung fest, dass Marcas im Jahr 2013 in Höhe eines Betrages von 1 018 649,26 Euro weniger als ihre tatsächlichen Einnahmen verbucht habe. Daher war sie der Ansicht, dass nach § 15 Abs. 2 und 7, § 32 Abs. 1 und § 44 Abs. 1 des Rechnungslegungsgesetzes der Gewinn vor Steuern von Marcas im Steuerjahr 2013 erhöht werden müsse, was unter Berücksichtigung von § 7 Abs. 1 Buchst. s des Gesetzes über die Körperschaftsteuer und die Dividendensteuer zu einer Erhöhung der Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer von Marcas um 151 223 000 ungarische Forint (HUF) (etwa 423 424 Euro) führe, mit der Folge, dass eine Steuerdifferenz in Höhe von 28 732 000 HUF (etwa 80 450 Euro) zulasten von Marcas festgestellt werden müsse.

21        Die Steuerverwaltung stellte gemäß § 170 Abs. 1 und 2 der alten Besteuerungsordnung einen Steuerfehlbetrag in Höhe der Steuerdifferenz fest und verhängte daher gegen Marcas eine Steuergeldbuße in Höhe von 14 366 000 HUF (etwa 40 225 Euro), d. h. 50 % dieses Betrags. Gemäß § 165 Abs. 1 und 3 der alten Besteuerungsordnung verhängte sie gegen Marcas auch Verzugszinsen in Höhe von 1 281 000 HUF (etwa 3 587 Euro).

22        Im Anschluss an den Bescheid vom 4. April 2016 gab Marcas eine Erklärung zur Berichtigung ihrer Steuerschuld für die Steuerjahre 2011 und 2012 ab, aus der sich ein zu zahlender Körperschaftsteuerbetrag ergab, der gegenüber dem für das Steuerjahr 2012 angemeldeten Betrag um 961 273,09 Euro niedriger ausfiel. Marcas beantragte weder die Erstattung dieses Betrags noch seine Überweisung auf ein anderes Konto und beließ ihn als Überzahlung auf ihrem Steuerkonto.

23        Auf einen Einspruch hin änderte die Steuerverwaltung ihren vorgenannten Bescheid ab und setzte die gegen Marcas verhängte Steuergeldbuße auf 10 % des Steuerfehlbetrags herab.

24        Gegen diesen Abänderungsbescheid erhob Marcas Klage beim vorlegenden Gericht, dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn).

25        Dieses Gericht hob den letztgenannten Bescheid auf und wies die Steuerverwaltung an, einen neuen Bescheid zu erlassen.

26        Mit Bescheid vom 22. August 2018 wies die Steuerverwaltung darauf hin, dass der Grund für den Steuerfehlbetrag nicht ein vorsätzliches Verhalten von Marcas, sondern eine fehlerhafte Auslegung des Gesetzes sei. In diesem Bescheid änderte die Steuerverwaltung den Bescheid vom 4. April 2016 dahin ab, dass sie die Steuergeldbuße auf 2 873 000 HUF (etwa 8 044 Euro), d. h. 10 % des Steuerfehlbetrags, herabsetzte, die Verzugszinsen auf 88 000 HUF (etwa 246 Euro) festsetzte und den Bescheid im Übrigen bestätigte.

27        In ihrer beim vorlegenden Gericht eingereichten Klageschrift macht Marcas einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des fairen Verfahrens und des Vertrauensschutzes geltend, wobei sie die Rechtsgrundlage des Steuerfehlbetrags, der Geldbuße und der Verzugszinsen rügt. Marcas ist der Ansicht, dass die Steuerverwaltung aus den in § 15 des Rechnungslegungsgesetzes genannten Grundsätzen willkürlich zwei Grundsätze, nämlich die der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre, herausgegriffen habe, denen die Methode von Marcas nicht entsprochen habe, und daraus die zur Last gelegten Feststellungen abgeleitet habe, obwohl diese Methode den anderen in § 15 genannten Grundsätzen entspreche. Marcas weist darauf hin, dass sie die als Steuerfehlbetrag angesehene Körperschaftsteuer vor Fälligkeit entrichtet und dann den Betrag im Rahmen einer Berichtigungserklärung geändert habe, indem sie eine Überzahlung für das Jahr 2012 ausgewiesen und diesen Betrag auf ihrem Steuerkonto belassen habe, dass die Steuerverwaltung aber dennoch einen Steuerfehlbetrag festgestellt habe. Marcas betont ferner, sie habe die Steuer nicht umgehen wollen. Die Steuerverwaltung habe gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, da angesichts der Feststellungen früherer Prüfungen vernünftigerweise von Marcas nicht habe erwartet werden können, dass Marcas ihre Methode zur Verbuchung von Umsätzen ohne einen entsprechenden Hinweis ändere.

28        Die Steuerverwaltung macht geltend, dass prinzipiell alle Rechnungslegungsgrundsätze des Rechnungslegungsgesetzes zu beachten seien. Ihre erste Prüfung habe nur die Frage der Übereinstimmung der Vorlage und der Rechnungslegung mit den Bestimmungen des § 44 Abs. 1 und 2 der alten Besteuerungsordnung zum Gegenstand gehabt.

29        Das vorlegende Gericht räumt ein, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit die Festsetzung der von Marcas für das Steuerjahr 2013 geschuldeten Körperschaftsteuer betreffe, obwohl diese Art von Steuer auf der Ebene der Europäischen Union nicht harmonisiert sei und die Regelung des Steuerverwaltungsverfahrens weiterhin in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Es weist jedoch darauf hin, dass im Bereich der Körperschaftsteuer Richtlinien erlassen worden seien und auch Entscheidungen des Gerichtshofs dazu beigetragen hätten, dass Bestimmungen mit ähnlichem Inhalt zu in diesem Rechtsstreit aufgeworfenen Fragen in das Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten aufgenommen worden seien.

30        Angesichts der erheblichen Unterschiede zwischen seiner Rechtsprechung und der Rechtsprechung der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) habe die durch die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes aufgeworfene Frage der Rechtsauslegung Auswirkungen auf den Ausgang des genannten Rechtsstreits und sei daher erheblich. Diese Frage könne zudem nicht ohne ein Vorabentscheidungsersuchen und eine Auslegung durch den Gerichtshof entschieden werden.

31        Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.         Stehen das als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannte Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes der Praxis einer mitgliedstaatlichen Steuerverwaltung entgegen, bei der sie im Rahmen einer nachträglichen Prüfung der Erklärung eines Steuerpflichtigen – ohne einen Verstoß gegen eine konkrete Rechnungslegungsvorschrift oder gegen eine Bestimmung des materiellen Rechts über die prüfungsgegenständliche Steuer durch den Steuerpflichtigen festzustellen bzw. den Betrag der zu entrichtenden Steuer in den Jahren der wirtschaftlichen Tätigkeit im Vergleich zu den Angaben in der Erklärung zu ändern – ohne Angabe von Gründen ausschließlich deshalb eine Steuerdifferenz zulasten des Steuerpflichtigen feststellt, weil der Steuerpflichtige bei der Erstellung seiner Erklärung von den Rechnungslegungsgrundsätzen des mitgliedstaatlichen Rechnungslegungsgesetzes nicht die zwei von der Steuerverwaltung vorausgesetzten Steuergrundsätze zugrunde gelegt hat, sondern sich unter Geltendmachung des Grundsatzes der Beurteilungsmöglichkeit auf andere für die Rechnungslegung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit maßgeblich erachtete Grundsätze berufen hat?

2.         Können Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie unter Berücksichtigung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Verfahren und der als allgemeine Rechtsgrundsätze der Union anerkannten Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes dahin ausgelegt werden, dass im Fall einer wirtschaftlichen Tätigkeit, die sich über mehrere Wirtschaftsjahre erstreckt, die Steuerverwaltung, wenn sie von den vom Steuerpflichtigen gewählten Rechnungslegungsgrundsätzen zu anderen Rechnungslegungsgrundsätzen übergeht und infolgedessen eine auch seine Steuererklärungen der unmittelbar vorangehenden oder nachfolgenden Jahre betreffende Umbuchung durchführt, verpflichtet ist, ihre Prüfung auch auf die Wirtschaftsjahre auszudehnen, auf die sich die wirtschaftliche Tätigkeit erstreckt, so dass auch die Feststellungen der Steuerverwaltung bezüglich des prüfungsgegenständlichen Zeitraums Auswirkungen haben? Muss die Steuerverwaltung bei der nachträglichen Prüfung der Erklärung des Steuerpflichtigen im prüfungsgegenständlichen Wirtschaftsjahr in Bezug auf das vorherige Jahr durch Eigenrevision geänderte Posten berücksichtigen, durch die beim Steuerpflichtigen infolge der Entrichtung der Steuer vor Fälligkeit eine Überzahlung eingetreten ist, bzw. ist das Verfahren, mit dem die Steuerverwaltung trotz der Überzahlung einen Steuerfehlbetrag zulasten des Steuerpflichtigen feststellt, mit den oben genannten Grundsätzen und dem in Art. 54 der Charta verankerten Verbot des Missbrauchs der Rechte vereinbar?

3.         Sind die Feststellung einer als Steuerfehlbetrag betrachteten Steuerdifferenz, die diesbezügliche Festsetzung der Verpflichtung zur Zahlung einer Steuergeldbuße bis zu 10 % sowie die Verhängung von Verzugszinsen eine verhältnismäßige Sanktion für die Wahl einer möglicherweise unrichtigen Buchführungsmethode, wenn die streitgegenständliche Steuer vor Fälligkeit entrichtet wurde und sich während des gesamten Verfahrens als Überzahlung auf dem Steuerkonto der Klägerin befand, dem Staatshaushalt mithin kein Steuerausfall entstanden ist und keine Anhaltspunkte für einen Missbrauch vorliegen?

4.         Kann der Grundsatz des berechtigten Vertrauens (Vertrauensschutz) dahin ausgelegt werden, dass seine objektive Grundlage, d. h. die Erwartung des Steuerpflichtigen im Zusammenhang mit seiner buchhalterischen Rechnungslegung, begründet ist, wenn die Steuerverwaltung zuvor beim Steuerpflichtigen eine Prüfung jedweder Art durchgeführt hat und die Erstellung und das Führen von Belegen, Büchern und Registern gegebenenfalls sogar ohne konkrete Feststellung bzw. durch konkludentes Handeln als vorschriftsmäßig erachtet hat, oder kann sich der Steuerpflichtige nur dann auf den Grundsatz des berechtigten Vertrauens berufen, wenn die Steuerverwaltung eine nachträgliche Prüfung der Zeiträume abschließenden Steuererklärungen in Bezug auf alle Steuerarten durchführt und in Bezug auf die Rechnungslegungspraxis des Steuerpflichtigen ausdrücklich eine positive Feststellung trifft? Handelt die Steuerverwaltung im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, wenn sie in ihrer späteren Entscheidung wegen der Vorschriftswidrigkeit der Buchführung steuerrechtliche Rechtsfolgen so anwendet, dass sie unter Verweis auf den formalen oder unvollständigen Charakter der früheren Prüfung bzw. das Fehlen einer ausdrücklichen positiven Feststellung nicht anerkennt, dass die Klägerin zu Recht auf die Ordnungsmäßigkeit ihrer früheren Rechnungslegungspraxis vertraute?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

32        Auch wenn der Ausgangsrechtsstreit seinen Ursprung darin hat, dass Marcas nach Ansicht der ungarischen Steuerverwaltung gegen Rechnungslegungsvorschriften verstoßen hat, und die zweite Frage Bestimmungen der Vierten Richtlinie erwähnt, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof mit seinen Fragen doch im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere das in Art. 47 der Charta anerkannte Recht auf ein faires Verfahren, das in Art. 54 der Charta verankerte Verbot des Missbrauchs der Rechte sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes, dahin auszulegen ist, dass es einer bestimmten Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats in Bezug auf die Prüfung und Ahndung von Steuerdelikten im Bereich der Körperschaftsteuer entgegensteht.

33        In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nach Art. 51 Abs. 1 der Charta deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten (Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 33).

34        Art. 6 Abs. 1 EUV sowie Art. 51 Abs. 2 der Charta stellen klar, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner Weise erweitert werden (Beschluss vom 17. Juli 2014, Yumer, C‑505/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2129, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil vom 10. Juni 2021, Land Oberösterreich [Wohnbeihilfe], C‑94/20, EU:C:2021:477, Rn. 59).

35        Wird eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung nicht zuständig, über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche diese Zuständigkeit nicht begründen (vgl. Beschlüsse vom 17. Juli 2014, Yumer, C‑505/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2129, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Mai 2021, PONS Holding, C‑703/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:365, Rn. 16).

36        Was die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts anbelangt, so sind sie durch eine nationale Regelung zu wahren, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses durchführt (vgl. Urteil vom 6. März 2014, Siragusa, C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37        Wie die Europäische Kommission ausführt, hat das Unionsrecht die Vorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Steuerprüfungen und auf dem Gebiet der Sanktionen wegen Verstoßes gegen steuerliche Verpflichtungen allerdings nicht harmonisiert (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 30. September 2015, Balogh, C‑424/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:708, Rn. 32, und Urteil vom 3. März 2020, Google Ireland, C‑482/18, EU:C:2020:141, Rn. 37). Folglich können diese Vorschriften als solche nicht als Durchführung des Unionsrechts angesehen werden.

38        Außerdem stellen nach Ansicht des Gerichtshofs steuerliche Sanktionen und ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung im Bereich der Mehrwertsteuer zwar eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar, da hiermit die Mitgliedstaaten ihre Verpflichtung erfüllen, alle Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Erhebung sämtlicher Steuern zu gewährleisten, die den Eigenmitteln der Union zufließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26 und 27); dergleichen ist bei Sanktionen und Steuerverfahren im Bereich der Körperschaftsteuer jedoch nicht der Fall, denn diese Steuer gehört nicht zum Eigenmittelsystem der Union.

39        Daraus folgt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen unzuständig ist, soweit sie sich auf die Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats beziehen, die die Prüfung und Ahndung von Steuerdelikten im Bereich der Körperschaftsteuer betrifft.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage, soweit sie Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie betreffen

40        Es ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten und seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die Buchhaltungsunterlagen einer Gesellschaft mit der Begründung beanstandet, dass diese von den in den Vorschriften dieses Mitgliedstaats enthaltenen Grundsätzen der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre abweichen, auch wenn alle anderen in diesen Vorschriften vorgesehenen Grundsätze der Rechnungslegung beachtet wurden.

41        In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Vierte Richtlinie zwar nicht darauf gerichtet ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse der Gesellschaften bei der Festsetzung der Besteuerungsgrundlage und der Höhe von Steuern wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Körperschaftsteuer zugrunde legen können oder müssen; es ist aber auch keineswegs ausgeschlossen, dass die Jahresabschlüsse von den Mitgliedstaaten als maßgebliche Grundlage für steuerliche Zwecke verwendet werden (Urteil vom 7. Januar 2003, BIAO, C‑306/99, EU:C:2003:3, Rn. 70). Darüber hinaus verbietet keine Bestimmung dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten, aus steuerlicher Sicht die Wirkungen der Buchführungsvorschriften in dieser Richtlinie zu korrigieren, um ein zu versteuerndes Ergebnis zu ermitteln, das der wirtschaftlichen Realität näher kommt (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 28).

42        Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass die Vierte Richtlinie die einzelstaatlichen Vorschriften über die Gliederung und den Inhalt des Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie über die Bewertungsmethoden im Hinblick auf den Schutz der Gesellschafter sowie Dritter koordinieren soll (Urteile vom 7. Januar 2003, BIAO, C‑306/99, EU:C:2003:3, Rn. 69, und vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 29).

43        Die Vierte Richtlinie stützt dieses Ziel der Koordinierung der einzelstaatlichen Vorschriften über den Inhalt des Jahresabschlusses auf den Grundsatz des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes, dessen Beachtung ihr Hauptziel darstellt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 6. März 2014, Bloomsbury, C‑510/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:154, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44        Art. 2 Abs. 3 der Vierten Richtlinie bestimmt in diesem Zusammenhang, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln hat.

45        Die Anwendung des Grundsatzes des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes hat sich möglichst weitgehend an den in Art. 31 der Vierten Richtlinie enthaltenen allgemeinen Grundsätzen der Rechnungslegung zu orientieren (Urteil vom 15. Juni 2017, Immo Chiaradia und Docteur De Bruyne, C‑444/16 und C‑445/16, EU:C:2017:465, Rn. 42).

46        Im Rahmen dieser allgemeinen Grundsätze bestimmt Art. 31 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie, dass Aufwendungen und Erträge für das Geschäftsjahr, auf das sich der Jahresabschluss bezieht, berücksichtigt werden müssen, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Ausgabe oder Einnahme dieser Aufwendung oder Erträge.

47        Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie sieht jedoch vor, dass Abweichungen von diesen allgemeinen Grundsätzen in Ausnahmefällen zulässig sind, und stellt klar, dass diese Abweichungen, wenn von ihnen Gebrauch gemacht wird, im Anhang anzugeben und hinreichend zu begründen sind, wobei ihr Einfluss auf die Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage gesondert anzugeben ist.

48        Aus dem Wortlaut der in den Rn. 44 bis 47 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen ergibt sich, dass prinzipiell alle allgemeinen Grundsätze der Rechnungslegung zu beachten sind, dass von ihnen nur in Ausnahmefällen abgewichen werden kann und dass die Abweichungen im Anhang des Jahresabschlusses besonders vermerkt werden müssen. Da die Funktion des Jahresabschlusses darin besteht, ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln, können solche Abweichungen nur zum Ziel haben, ein derartiges, den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild in Ausnahmefällen zu gewährleisten, in denen die Einhaltung eines oder mehrerer allgemeiner Rechnungslegungsgrundsätze dem entgegenstehen würde.

49        Dass sämtliche allgemeinen Rechnungslegungsgrundsätze zu beachten sind, ergibt sich überdies daraus, dass jeder dieser Grundsätze ein spezifisches Erfordernis im Zusammenhang mit der Verbuchung von Umsätzen von Unternehmen betrifft, dessen Verletzung für sich allein bereits, und selbst wenn alle anderen Grundsätze beachtet würden, verhindern könnte, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage der betreffenden Gesellschaft vermittelt.

50        Insoweit weist die ungarische Regierung zu Recht darauf hin, dass die erste und die zweite Frage, so wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert worden sind, auf der fehlerhaften Prämisse beruhen, dass es den Wirtschaftsteilnehmern freistehe, zu wählen, welche allgemeinen Grundsätze der Rechnungslegung sie befolgen, und somit nicht alle zu beachten.

51        Außerdem ist im Wesentlichen im Einklang mit den Ausführungen der italienischen Regierung darauf hinzuweisen, dass sich eine Manipulation der Grundsätze der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre insbesondere für durch Ziele der Steuerplanung vorgegebene Vorgänge eignet, wie etwa die Vorwegnahme der Anrechnung eines negativen Postens auf ein Geschäftsjahr oder die Verschiebung der Anrechnung eines positiven Postens zum Zwecke einer nachgelagerten Besteuerung. Eine solche Manipulation, insbesondere bei der Anwendung von zweistufigen Fakturierungssystemen mit einer Rechnungsstellung auf der Grundlage von Schätzungen und einer nachfolgenden korrigierenden Rechnungsstellung, wie im Ausgangsverfahren praktiziert, kann auch dazu geeignet sein, das Ergebnis des betreffenden Unternehmens über mehrere Geschäftsjahre zu verteilen, um die Besteuerung zu optimieren.

52        Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der ungarische Staatshaushalt keinen Schaden erlitten hat und nicht festgestellt wurde, dass Marcas eine Betrugsabsicht gehabt hätte. Was den Aspekt der Rechnungslegung betrifft, ändert dies jedoch nichts an der Tatsache, dass, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen, die Jahresabschlüsse von Marcas kein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild sicherstellten, da für das Geschäftsjahr 2013 ein Teil der Einnahmen aus den Lizenzgebühren nicht verbucht worden war.

53        Schließlich geht aus den Akten nicht hervor, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu überprüfen sein wird, dass Abweichungen von den Grundsätzen der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre von Marcas im Anhang zu ihren Jahresabschlüssen geltend gemacht und dokumentiert worden wären.

54        Nach alledem ist auf die erste und auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 3 und Art. 31 der Vierten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die Buchhaltungsunterlagen einer Gesellschaft mit der Begründung beanstandet, dass diese gegen die in den Vorschriften dieses Mitgliedstaats enthaltenen Grundsätze der Vollständigkeit und der Unabhängigkeit der Geschäftsjahre verstoßen, auch wenn alle anderen in diesen Vorschriften vorgesehenen Grundsätze der Rechnungslegung beachtet werden, wenn dieser Verstoß keine Abweichung in einem Ausnahmefall darstellt, die erforderlich ist, um die Beachtung des Grundsatzes des den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes sicherzustellen, und die im Anhang des Jahresabschlusses mit der Angabe ihres Einflusses auf die Vermögens‑, Finanz- und Ertragslage angegeben und hinreichend begründet wird.

Kosten

55        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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