EuGH: Steuerpflichtiger, der sein Recht auf Vorsteuerabzug vor dem Ablauf einer Ausschlussfrist nicht ausgeübt hat – Unmöglichkeit, diesen Abzug im Rahmen der Berichtigung vorzunehmen
EuGH, Urteil vom 7.7.2022 – C-194/21; Staatssecretaris van Financiën gegen X
ECLI:EU:C:2022:535
Volltext BB-Online BBL2022-1685-2
Tenor
Die Art. 184 und 185 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung
sind dahin auszulegen, dass:
sie es nicht untersagen, einem Steuerpflichtigen, der es versäumt hat, vor Ablauf der vom nationalen Recht vorgesehenen Ausschlussfrist das Recht auf Abzug der Vorsteuer für den Erwerb eines Gegenstands oder einer Dienstleistung auszuüben, die Möglichkeit zu verwehren, diesen Abzug später bei der ersten Verwendung des Gegenstands oder der Dienstleistung zum Zweck besteuerter Umsätze im Wege einer Berichtigung vorzunehmen, und zwar auch dann, wenn weder ein Rechtsmissbrauch noch ein Betrug, noch ein Steuerausfall festgestellt wurden.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 184 und 185 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) und X über die Berichtigung eines versäumten Abzugs der Vorsteuer auf den Erwerb von Baugrundstücken.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“
4 In Art. 135 Abs. 1 Buchst. k dieser Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
k) Lieferung unbebauter Grundstücke mit Ausnahme von Baugrundstücken im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe b;“
5 Art. 167 der Richtlinie lautet:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
6 Art. 168 der Richtlinie sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
7 Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;
…“
8 In Art. 179 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:
„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.“
9 Art. 180 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können einem Steuerpflichtigen gestatten, einen Vorsteuerabzug vorzunehmen, der nicht gemäß den Artikeln 178 und 179 vorgenommen wurde.“
10 Art. 182 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten legen die Bedingungen und Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 180 und 181 fest.“
11 Titel X Kapitel 5 („Berichtigung des Vorsteuerabzugs“) der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält u. a. die Art. 184 bis 186.
12 Art. 184 dieser Richtlinie bestimmt:
„Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.“
13 Art. 185 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.
(2) Abweichend von Absatz 1 unterbleibt die Berichtigung bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung geleistet wurde, in ordnungsgemäß nachgewiesenen oder belegten Fällen von Zerstörung, Verlust oder Diebstahl sowie bei Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und Warenmuster im Sinne des Artikels 16.
Bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung erfolgt, und bei Diebstahl können die Mitgliedstaaten jedoch eine Berichtigung verlangen.“
14 Art. 186 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 184 und 185 fest.“
Niederländisches Recht
15 Art. 15 der Wet houdende vervanging van de bestaande omzetbelasting door een omzetbelasting volgens het stelsel van heffing over de toegevoegde waarde (Gesetz über die Ersetzung der bestehenden Umsatzsteuer durch eine Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem) vom 28. Juni 1968 (Stb. 1968, Nr. 329) sieht in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Umsatzsteuer) vor:
„(1) Die Steuer …, die vom Unternehmer in Abzug gebracht wird, entspricht:
a) der Steuer, die im Veranlagungszeitraum auf einer gemäß den geltenden Vorschriften von anderen Unternehmern erstellten Rechnung für dem Unternehmer gelieferte Gegenstände oder ihm erbrachte Dienstleistungen in Rechnung gestellt wurde; … sofern die Gegenstände und Dienstleistungen vom Unternehmer für die Zwecke besteuerter Umsätze verwendet werden. …
(4) Der Abzug der Steuer erfolgt entsprechend der Bestimmung der Gegenstände und Dienstleistungen zu dem Zeitpunkt, zu dem die Steuer dem Unternehmer in Rechnung gestellt wird, oder zu dem Zeitpunkt, zu dem der Steueranspruch entsteht. Wenn sich zu dem Zeitpunkt, zu dem der Unternehmer mit der Verwendung der Gegenstände und Dienstleistungen beginnt, herausstellt, dass er die diesbezügliche Steuer zu einem größeren oder kleineren Teil abgezogen hat, als er dies aufgrund der Verwendung der Gegenstände oder Dienstleistungen tun durfte, schuldet er die von ihm zu viel abgezogene Steuer von diesem Zeitpunkt an. Die Steuer ist nach Entstehung des Steueranspruchs in Übereinstimmung mit Art. 14 zu entrichten Die von ihm zu wenig abgezogene Steuer wird ihm auf Antrag erstattet.“
16 Art. 12 der Uitvoeringsbeschikking omzetbelasting (Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Umsatzsteuer) vom 12. August 1968 (Stb. 1968, Nr. 423) bestimmt in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung:
„…
(2) Die Berichtigung nach Art. 15 Abs. 4 des [Gesetzes über die Umsatzsteuer] erfolgt auf der Grundlage der Daten des Besteuerungszeitraums, in dem der Unternehmer mit der Verwendung der Gegenstände oder der Dienstleistungen begonnen hat.
(3) In der Steuererklärung für den letzten Besteuerungszeitraum des Referenzsteuerjahres ist die Berichtigung des Vorsteuerabzugs auf der Grundlage der Daten für das gesamte Steuerjahr vorzunehmen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
17 Die Gesellschaft B verkaufte an X zehn Baugrundstücke. Es war beabsichtigt, sie durch die Errichtung von Mobilheimen samt Zubehör für Erholungszwecke zu entwickeln und diese Mobilheime anschließend mit ihrem Grundstück zu verkaufen. Am 20. April 2006 oder um diesen Zeitpunkt herum schlossen X und B hierzu einen Vertrag, der vorsah, dass B alle Entwicklungsarbeiten auf eigene Rechnung durchführen und der Nettoerlös aus dem Verkauf der entwickelten Parzellen zwischen den Parteien zu gleichen Teilen aufgeteilt werden sollte.
18 B lieferte die Parzellen an X am 20. April 2006 und stellte ihm für diese Lieferung die Mehrwertsteuer in Rechnung. X übte sein Recht auf Vorsteuerabzug nicht aus.
19 Aufgrund der wirtschaftlichen Lage wurde die beabsichtigte Entwicklung der Parzellen nicht realisiert.
20 Am 8. Februar 2013 verkaufte X zwei Parzellen an B zurück und stellte die Mehrwertsteuer auf den Verkaufspreis in Rechnung. X erklärte den Betrag dieser Steuer nicht und führte ihn auch nicht ab.
21 Am 26. November 2015 richtete die Steuerverwaltung an X einen Nacherhebungsbescheid über die Mehrwertsteuer bezüglich des von B für die Lieferung der beiden Parzellen gezahlten Preises und zog die Mehrwertsteuer ein.
22 X erhob bei der Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland, Niederlande) Klage gegen diese Nacherhebung. Er machte geltend, dass die Nacherhebung nach Art. 15 Abs. 4 des Gesetzes über die Umsatzsteuer um den für die Lieferung dieser Parzellen im Jahr 2006 gezahlten Mehrwertsteuerbetrag reduziert werden müsse.
23 Nach Abweisung der Klage legte X Berufung beim Gerechtshof Arnhem-Leeuwarden (Berufungsgericht Arnheim-Leeuwarden, Niederlande) ein, der den Anträgen von X stattgab und den Nacherhebungsbetrag vom 26. November 2015 herabsetzte.
24 Dieses Gericht war der Ansicht, dass Art. 15 Abs. 4 des Gesetzes über die Umsatzsteuer und Art. 184 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Regelung über die Berichtigung nicht auf Situationen beschränkten, in denen zu dem Zeitpunkt, zu dem der gelieferte Gegenstand zum ersten Mal verwendet werde, seine tatsächliche Verwendung von derjenigen abweiche, die bei seinem Erwerb beabsichtigt gewesen sei. Da die tatsächliche Verwendung für das Recht auf Vorsteuerabzug entscheidend sei, könne die X beim Erwerb der beiden Parzellen im Jahr 2006 in Rechnung gestellte und damals nicht abgezogene Mehrwertsteuer bei der ersten Verwendung dieser Parzellen zu Zwecken besteuerter Umsätze im Jahr 2013 vollständig abgezogen werden.
25 Der Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) legte beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein und machte geltend, dass X die Mehrwertsteuer für die Lieferung der Parzellen im Jahr 2006 zu dem Zeitpunkt hätte abziehen müssen, zu dem der Steueranspruch entstanden sei. Mit der in Art. 15 Abs. 4 des Gesetzes über die Umsatzsteuer vorgesehenen Berichtigungsregelung solle nämlich nicht nachträglich ein Recht auf Vorsteuerabzug gewährt werden, das der Unternehmer in der Erklärung für den Zeitraum, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug entstanden sei – d. h. gemäß Art. 15 dieses Gesetzes zu dem Zeitpunkt, zu dem der Steueranspruch auf die abzugsfähige Steuer entstanden sei oder zu dem ihm diese in Rechnung gestellt worden sei –, nicht ausgeübt habe. Die in dieser Bestimmung vorgesehene Berichtigungsregelung, in Verbindung mit den Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrachtet, betreffe nur Situationen, in denen der vorgenommene Abzug höher oder niedriger sei als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt gewesen sei. Im vorliegenden Fall sei die Berichtigung nicht gerechtfertigt, denn die Bestimmung der Parzellen für besteuerte Umsätze, die zum Zeitpunkt ihres Erwerbs vorgelegen habe, entspreche ihrer tatsächlichen Verwendung zu dem Zeitpunkt, zu dem sie zum ersten Mal verwendet worden seien.
26 Das vorlegende Gericht hat Zweifel, wie die Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen sind.
27 Unter Bezugnahme u. a. auf das Urteil vom 1. April 2018, SEB bankas (C-532/16, EU:C:2018:228, Rn. 32 und 33), stellt es fest, dass die Berichtigungspflicht in Art. 184 der Mehrwertsteuerrichtlinie Gegenstand einer sehr weiten Definition sei, deren Formulierung a priori keinen denkbaren Fall eines zu Unrecht vorgenommenen Vorsteuerabzugs ausschließe. Da der Berichtigungsmechanismus nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Genauigkeit der Vorsteuerabzüge erhöhen solle, um die Mehrwertsteuerneutralität zu gewährleisten, ist es der Auffassung, dass dieses Ziel eine weite Auslegung der Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlaube, die dem Steuerpflichtigen ermögliche, bei der ersten Verwendung des betreffenden Gegenstands den unterlassenen Abzug der gesamten oder eines Teils der Mehrwertsteuer, die ihm beim Erwerb dieses Gegenstands in Rechnung gestellt worden sei, zu berichtigen, auch wenn dies nach dem Ablauf der vom nationalen Recht vorgesehenen Frist für die Vornahme des ursprünglichen Vorsteuerabzugs geschehe.
28 Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass diese weite Auslegung in Anbetracht der maßgeblichen Bestimmungen des niederländischen Rechts nicht darauf hinauslaufe, die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ohne zeitliche Begrenzung zu gestatten. Diese Ausübung sei nämlich auf den Zeitpunkt des Erwerbs oder den Zeitpunkt der ersten Verwendung der betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen beschränkt. Nach jedem dieser Zeitpunkte seien zum einen die vom nationalen Recht vorgesehene Ausschlussfrist von sechs Wochen und zum anderen die Befugnis der Steuerverwaltung, den geschuldeten Mehrwertsteuerbetrag während eines Zeitraums von fünf Jahren mit einem Nacherhebungsbescheid zu berichtigen, anwendbar.
29 Allerdings fragt sich das vorlegende Gericht, ob eine solche weite Auslegung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Einklang steht, die den Anwendungsbereich von Art. 184 und Art. 185 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Fälle zu beschränken scheine, in denen nach dem Zeitraum, auf den sich der ursprüngliche Abzug beziehe, eine Änderung der Umstände eingetreten sei. Es verweist insoweit u. a. auf das Urteil vom 27. Juni 2018, Varna Holideis (C-364/17, EU:C:2018:500, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie auf das Urteil vom 27. März 2019, Mydibel (C-201/18, EU:C:2019:254, Rn. 26 bis 29 und 43).
30 Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass diese Auslegung nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar zu sein scheine, wie sie sich u. a. aus dem Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 36), und dem Urteil vom 30. April 2020, CTT – Correios de Portugal (C-661/18, EU:C:2020:335, Rn. 59), ergebe, wonach zum einen nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit eine Ausschlussfrist – vorbehaltlich der Einhaltung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – nicht mit der Mehrwertsteuerrichtlinie unvereinbar sei und zum anderen die Möglichkeit, das Abzugsrecht ohne zeitliche Beschränkung auszuüben, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe, der verlange, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben könne.
31 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs den Fall, in dem der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt des Erwerbs eines Gegenstands sein Recht auf Vorsteuerabzug nicht ausgeübt habe, nicht ausdrücklich von der Berichtigungsregelung ausgenommen habe. Es wäre in einer solchen Situation unverhältnismäßig, dem Steuerpflichtigen zu verwehren, sein Recht auf Vorsteuerabzug in dem Zeitpunkt auszuüben, in dem er mit der Verwendung des betreffenden Gegenstands beginne, da kein Fehler, kein Betrug, kein Rechtsmissbrauch und keine nachteiligen Folgen für den Staatshaushalt festgestellt worden seien.
32 Vor diesem Hintergrund hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der es bei dem Erwerb eines Gegenstands oder dem Empfang einer Dienstleistung unterlassen hat, den Vorsteuerabzug innerhalb der geltenden nationalen Ausschlussfrist entsprechend der beabsichtigten besteuerten Verwendung vorzunehmen, das Recht hat, diesen im Rahmen einer Berichtigung – anlässlich der späteren erstmaligen Verwendung dieses Gegenstands oder dieser Dienstleistung – geltend zu machen, wenn die tatsächliche Verwendung zu diesem Berichtigungszeitpunkt mit der beabsichtigten Verwendung übereinstimmt?
2. Ist es für die Beantwortung von Frage 1 von Bedeutung, dass die Nichtvornahme des ursprünglichen Vorsteuerabzugs weder mit einem Betrug oder einem Rechtsmissbrauch im Zusammenhang steht noch eine Schädigung des Staatshaushalts nachgewiesen ist?
Zu den Vorlagefragen
33 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie es untersagen, einem Steuerpflichtigen, der es versäumt hat, vor Ablauf der vom nationalen Recht vorgesehenen Ausschlussfrist das Recht auf Abzug der Vorsteuer für den Erwerb eines Gegenstands oder einer Dienstleistung auszuüben, die Möglichkeit zu verwehren, diesen Abzug später bei der ersten Verwendung des Gegenstands oder der Dienstleistung zum Zweck besteuerter Umsätze im Wege einer Berichtigung vorzunehmen, und zwar auch dann, wenn weder ein Rechtsmissbrauch noch ein Betrug, noch ein Steuerausfall festgestellt wurden.
34 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann (Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Nach Art. 167 und Art. 179 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie wird das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich während des gleichen Zeitraums ausgeübt, in dem es entstanden ist, d. h. wenn der Anspruch auf die Steuer entsteht. Nach Art. 63 dieser Richtlinie treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2021, Wilo Salmson France, C-80/20, EU:C:2021:870, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Außerdem kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Gleichwohl kann einem Steuerpflichtigen nach den Art. 180 und 182 dieser Richtlinie das Abzugsrecht auch gewährt werden, wenn er es nicht während des Zeitraums, in dem es entstanden ist, ausgeübt hat. Voraussetzung ist jedoch, dass bestimmte in den nationalen Regelungen festgelegte Bedingungen und Einzelheiten befolgt werden (Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das Gesetz über die Umsatzsteuer für einen Steuerpflichtigen nicht die Möglichkeit vorsehe, das Recht auf Vorsteuerabzug nach Ablauf der Frist für die Abgabe der Erklärung für den Zeitraum, in dem dieses Recht entstanden sei, auszuüben.
39 Allerdings gehe aus den allgemeinen Vorschriften über das Steuerverfahren hervor, dass dem Steuerpflichtigen diese Möglichkeit eingeräumt werden könne, sofern er eine Frist von sechs Wochen einhalte, um Einspruch gegen den Betrag zu erheben, den er auf der Grundlage der Steuerklärung entrichtet habe. In diesem Fall müsse der Wirtschaftsteilnehmer innerhalb von sechs Wochen ab der Entrichtung der Steuer auf der Grundlage der Erklärung, und im Fall der Mehrwertsteuerrückerstattung innerhalb von sechs Wochen ab dem Zeitpunkt der Entscheidung über die Rückerstattung, Einspruch einlegen.
40 Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass X, nachdem er es versäumt hatte, sein Recht auf Abzug der Vorsteuer für den Erwerb der Parzellen im Jahr 2006 auszuüben, von dieser Möglichkeit nicht innerhalb der vorgesehenen Ausschlussfrist Gebrauch gemacht hat. Erst bei seinem Einspruch gegen den Nachforderungsbescheid vom 26. November 2015 beantragte X, das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu dürfen, also mehr als neun Jahre nach der Lieferung der Parzellen.
41 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, das Abzugsrecht ohne zeitliche Beschränkung auszuüben, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann (Urteile vom 8. Mai 2008, Ecotrade, C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267, Rn. 44, vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport, C-284/11, EU:C:2012:458, Rn. 48, sowie vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Ausschlussfrist, deren Ablauf als Sanktion für den nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen, der den Vorsteuerabzug nicht geltend gemacht hat, den Verlust des Abzugsrechts zur Folge hat, nicht als mit der von der Mehrwertsteuerrichtlinie errichteten Regelung unvereinbar angesehen werden kann, sofern diese Frist zum einen gleichermaßen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gilt (Äquivalenzgrundsatz) und sie zum anderen die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz) (Urteile vom 8. Mai 2008, Ecotrade, C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens, C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Zweitens ist die in den Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Berichtigungspflicht zwar insofern weit definiert, als „der ursprüngliche Vorsteuerabzug … berichtigt [wird], wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war“. Diese Formulierung schließt a priori keinen denkbaren Fall eines zu Unrecht vorgenommenen Vorsteuerabzugs aus. Dass es eine generelle Berichtigungspflicht gibt, wird durch die ausdrückliche Aufzählung der nach der Mehrwertsteuerrichtlinie zulässigen Ausnahmen in ihrem Art. 185 Abs. 2 bestätigt (Urteil vom 11. April 2018, SEB bankas, C-532/16, EU:C:2018:228, Rn. 32 und 33).
44 Gemäß Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie hat eine solche Berichtigung insbesondere dann zu erfolgen, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben (Urteil vom 18. Oktober 2012, TETS Haskovo, C-234/11, EU:C:2012:644, Rn. 32).
45 Allerdings hat der Gerichtshof entschieden, dass der Berichtigungsmechanismus nur dann anwendbar ist, wenn ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. März 2006, Uudenkaupungin kaupunki, C-184/04, EU:C:2006:214, Rn. 37). Die Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie können indes kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen lassen (vgl. entsprechend Urteile vom 11. Juli 1991, Lennartz, C-97/90, EU:C:1991:315, Rn. 11 und 12, sowie vom 2. Juni 2005, Waterschap Zeeuws Vlaanderen, C-378/02, EU:C:2005:335, Rn. 38).
46 Daraus folgt, dass der von der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Berichtigungsmechanismus keine Anwendung findet, wenn ein Steuerpflichtiger es versäumt hat, das Recht auf Vorsteuerabzug auszuüben, und er dieses wegen des Ablaufs der Ausschlussfrist verloren hat.
47 Infolgedessen ist dieser Mechanismus unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, unter denen der Steuerpflichtige, der es versäumt hat, das Recht auf Vorsteuerabzug beim Erwerb des Gegenstands auszuüben, der diesem Recht als Grundlage dient, es bei der ersten Verwendung dieses Gegenstands ausüben möchte, obwohl die vom nationalen Recht für die Ausübung dieses Rechts vorgesehene Ausschlussfrist verstrichen ist, nicht anwendbar. Dabei ist es unerheblich, ob die erste Verwendung dieses Gegenstands von derjenigen, die zum Zeitpunkt seines Erwerbs geplant war, abweicht oder nicht.
48 Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität stellt diese Schlussfolgerung nicht in Frage. Der Berichtigungsmechanismus ist zwar ein Bestandteil der mit der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführten Vorsteuerabzugsregelung und soll die Genauigkeit der Vorsteuerabzüge in der Weise erhöhen, dass die steuerliche Neutralität gewährleistet ist, die ein Grundprinzip des vom Unionsgesetzgeber geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (Urteil vom 17. September 2020, Stichting Schoonzicht, C-791/18, EU:C:2020:731, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Jedoch ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität keine Regel des Primärrechts, sondern ein Auslegungsgrundsatz, der neben weiteren Grundsätzen anzuwenden ist, zu denen der Grundsatz der Rechtssicherheit gehört (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Deutsche Bank, C-44/11, EU:C:2012:484, Rn. 45, und vom 9. März 2017, Oxycure Belgium, C-573/15, EU:C:2017:189, Rn. 32).
50 Infolgedessen kann der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht dazu führen, einem Steuerpflichtigen zu gestatten, ein Recht auf Vorsteuerabzug zu berichtigen, das er vor dem Ablauf einer Ausschlussfrist nicht ausgeübt und somit verloren hat.
51 Was das Nichtvorliegen eines Betrugs oder Rechtsmissbrauchs oder nachteiliger Folgen für die Steuereinnahmen des betreffenden Mitgliedstaats betrifft, können diese Gesichtspunkte nicht rechtfertigen, dass ein Steuerpflichtiger eine Ausschlussfrist umgehen kann. Eine solche Auslegung liefe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der, wie in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann.
52 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie es nicht untersagen, einem Steuerpflichtigen, der es versäumt hat, vor Ablauf der vom nationalen Recht vorgesehenen Ausschlussfrist das Recht auf Abzug der Vorsteuer für den Erwerb eines Gegenstands oder einer Dienstleistung auszuüben, die Möglichkeit zu verwehren, diesen Abzug später bei der ersten Verwendung des Gegenstands oder der Dienstleistung zum Zweck besteuerter Umsätze im Wege einer Berichtigung vorzunehmen, und zwar auch dann, wenn weder ein Rechtsmissbrauch noch ein Betrug, noch ein Steuerausfall festgestellt wurden.
Kosten
53 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig.