: Sinn und Zweck der auf zehn Jahre verlängerten Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO
BFH, Urteil vom 26.2.2008 - VIII R 1/07
Vorinstanz: FG München, Außensenate Augsburg, vom 10.11.2005 - 15 K 3231/05 (EFG 2006, 473)
LEITSÄTZE
1. Mit der gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf zehn Jahre verlängerten Festsetzungsfrist soll es dem durch eine Steuerstraftat geschädigten Steuergläubiger ermöglicht werden, die ihm vorenthaltenen Steuerbeträge auch noch nach Ablauf von vier Jahren zurückzufordern. Sinn und Zweck des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO bestehen jedoch nicht darin, den Steuerhinterzieher in die Lage zu versetzen, Erstattungsansprüche über die reguläre Verjährungsfrist hinaus zu realisieren.
2. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO setzt einen hinterzogenen Betrag im Sinne eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraus, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung bislang nicht geltend gemacht werden konnte.
AO § 169 Abs. 2 Satz 2, § 370 Abs. 1, Abs. 4 Satz 3
SACHVERHALT
I.
Streitig ist, ob eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für 1997, die im Ergebnis durch Anrechnung einbehaltener Kapitalertragsteuer zu einer Erstattung führen würde, noch aufgrund der verlängerten Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) --Steuerhinterziehung-- zulässig ist.
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden im Streitjahr 1997 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. In ihrer am 29. März 1999 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) eingereichten Einkommensteuererklärung gaben sie Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus nichtselbstständiger Arbeit und aus Vermietung und Verpachtung an. Auf Seite 2 des Mantelbogens erklärten sie zudem durch Ankreuzen des Kästchens in Zeile 31 des Mantelbogens, dass die Einnahmen aus Kapitalvermögen weniger als 12 200 DM betragen. Die Anlage KSO fügten sie ihrer Steuererklärung nicht bei. Das FA veranlagte erklärungsgemäß und setzte mit Bescheid vom 21. Juni 1999 die Einkommensteuer auf 0 DM fest.
Am 24. Dezember 2004 ging beim FA ein als Selbstanzeige und strafbefreiende Erklärung bezeichnetes Schreiben der Kläger vom 23. Dezember 2004 ein. Aus dem Schriftstück ergab sich, dass die Kläger in den Jahren 1993 bis 2002 nicht erklärte Kapitaleinkünfte bezogen hatten. Für das Jahr 1997 war die Anlage KSO nebst Steuerbescheinigungen einer Bank beigefügt. Daraus ging hervor, dass die Kläger Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von 34 443 DM erzielt hatten und Kapitalertragsteuer von 12 438,66 DM sowie Körperschaftsteuer von 711,43 DM anzurechnen waren.
Das FA nahm eine Probeberechnung vor, nach der eine Veranlagung zu einer festzusetzenden Einkommensteuer in Höhe von 5 706 DM, nach Abzug der anzurechnenden Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer jedoch zu einer Steuererstattung von 7 445 DM geführt hätte. Daraufhin lehnte das FA die von den Klägern begehrte Änderung der Einkommensteuerfestsetzung sowie die Anrechnung der Kapitalertragsteuer ab. Eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei nicht zulässig, weil die Festsetzungsverjährung bereits eingetreten sei. Die Verlängerung der Frist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO setze eine Steuerhinterziehung i.S. von § 370 AO voraus, an der es im Streitfall aber fehle. Bereits der objektive Tatbestand der Strafnorm sei nicht erfüllt, weil dem Fiskus durch den Einbehalt der Abzugssteuer kein Schaden entstanden sei. Nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) scheide auch die Anrechnung der Kapitalertragsteuer aus, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen infolge Festsetzungsverjährung nicht mehr erfasst werden könnten.
Nach erfolglosem Einspruch gab das Finanzgericht (FG) mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 473 veröffentlichtem Urteil der Klage mit im Wesentlichen folgender Begründung statt:
Die Voraussetzungen für eine Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO lägen vor. Es greife auch die zehnjährige Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO ein. Entgegen der Auffassung u.a. der Oberfinanzdirektion (OFD) München (Verfügung vom 19. Mai 2004 S 0351 - 31 ST 312, AO-Kartei Bayern § 173 AO Karte 2) sei der Tatbestand der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt.
Mit der --vom Senat mit Beschluss vom 9. Januar 2007 VIII B 232/05 zugelassenen-- Revision rügt das FA die Verletzung der §§ 169 Abs. 2 Satz 2 und 370 Abs. 1 AO.
Der objektive Tatbestand des § 370 AO sei nicht erfüllt. Bei der Steuerhinterziehung handele es sich um ein Erfolgsdelikt, ein Steuerschaden sei dem Fiskus wegen der einbehaltenen Abzugssteuern aber nicht entstanden. Selbst wenn eine konkrete Gefährdung des Steueraufkommens tatbestandsmäßig sei, dürfte vorliegend der Vorteilsausgleich --Kompensation der Steuermehrfestsetzung durch die Steueranrechnung-- zulässig sein. Denn das Kompensationsverbot des § 370 Abs. 4 Satz 3 AO greife nicht ein, wenn es um die rechtliche Beurteilung ein und desselben Vorganges gehe. Zinsen und Zinsabschlag seien in diesem Sinne unmittelbar miteinander verbunden.
Selbst wenn § 370 AO objektiv und subjektiv erfüllt wäre, käme § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nur dann zur Anwendung, wenn eine tatsächlich zu zahlende Steuer hinterzogen worden sei. Dies folge aus einer verständigen, am Normzweck orientierten Auslegung dieser Vorschrift. Auf das in EFG 2005, 1579 veröffentlichte Urteil des FG Hamburg vom 24. Juni 2005 I 349/04 sei zu verweisen.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Die Frage einer Kompensation und damit des Kompensationsverbots spiele keine Rolle. Bei der Steuerfestsetzung im Streitfall sei tatsächlich die Steuer zu niedrig festgesetzt worden, erst durch den nachfolgenden zusätzlichen Verwaltungsakt (Anrechnungsverfügung) habe sich eine niedrigere zu zahlende Steuer ergeben. § 370 Abs. 4 Satz 3 AO könne daher allenfalls analog angewandt werden. Es sei offensichtlich, dass man Festsetzung und Anrechnung nicht in einen Topf werfen könne.
AUS DEN GRÜNDEN
II.
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO im Streitfall zehn Jahre beträgt und die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 1997 somit noch zulässig ist.
1. Steuerbescheide sind gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Eine Änderung ist jedoch dann nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Frist zur Festsetzung der Einkommensteuer beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre. Sie beträgt zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit sie leichtfertig verkürzt worden ist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO). Erstattet der Steuerpflichtige vor Ablauf der Festsetzungsfrist eine Selbstanzeige gemäß § 371 AO oder gemäß § 378 Abs. 3 AO, so endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres nach Eingang der Anzeige (§ 171 Abs. 9 AO).
Die Annahme einer auf zehn oder fünf Jahre verlängerten Frist setzt voraus, dass die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer vollendeten Steuerhinterziehung i.S. des § 370 AO oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung i.S. des § 378 AO vorliegen (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH--, vgl. BFH-Urteile vom 2. April 1998 V R 60/97, BFHE 186, 1, BStBl II 1998, 530; vom 19. Dezember 2002 IV R 37/01, BFHE 200, 495, BStBl II 2003, 385).
Gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG wird auf die Einkommensteuer die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer angerechnet, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Wenn sich aus der Abrechnung ein Überschuss zuungunsten des Steuerpflichtigen ergibt, so hat er diesen Betrag innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Steuerbescheids zu entrichten (Abschlusszahlung, § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG). Die Anrechnungsverfügung stellt einen selbstständigen, von der Steuerfestsetzung zu unterscheidenden, rechtsbestätigenden Verwaltungsakt dar, der Teil des Erhebungsverfahrens ist (BFH-Urteile vom 15. April 1997 VII R 100/96, BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787; vom 18. Juli 2000 VII R 32, 33/99, BFHE 192, 405, BStBl II 2001, 133).
2. Nach diesen Maßstäben ist im Streitfall die Festsetzungsfrist abgelaufen und die Änderung der Steuerfestsetzung 1997 nicht mehr zulässig. Da die Kapitaleinkünfte somit bei der Veranlagung nicht mehr erfasst werden können, kommt die von den Klägern im Ergebnis begehrte Anrechnung der Kapitalertragsteuer und eine hieraus resultierende Auszahlung des Überschusses nicht in Betracht.
Die Einkommensteuererklärung 1997 wurde am 29. März 1999 abgegeben. Der Beginn der Festsetzungsfrist fiel daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auf das Jahresende 1999. Die normale Festsetzungsfrist von vier Jahren endete mit Ablauf des 31. Dezember 2003. Da die Selbstanzeige erst im Dezember 2004 erstattet wurde, war der Ablauf der Festsetzungsfrist nicht nach § 171 Abs. 9 AO oder nach § 171 Abs. 3 AO gehemmt. Beide Tatbestände setzen nach ihrem eindeutigen Wortlaut nämlich eine offene Verjährungsfrist voraus, an der es vorliegend aber fehlt.
3. Die Festsetzungsfrist war nicht gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf fünf oder zehn Jahre verlängert. Die höchstrichterlich bislang nicht geklärte und von der Vorinstanz bejahte Streitfrage, ob der objektive und subjektive Tatbestand der Einkommensteuerhinterziehung oder der leichtfertigen Einkommensteuerverkürzung gegeben ist, wenn aufgrund einer unrichtigen Steuererklärung die Einkommensteuer zwar zu niedrig festgesetzt, Einkommensteuer durch Steuerabzug aber bereits erhoben wurde, lässt der Senat dahinstehen, weil es hierauf im Ergebnis nicht ankommt. Denn die Regelung in § 169 Abs. 2 Satz 2 AO ist dahin zu interpretieren, dass sie einen hinterzogenen Betrag im Sinne eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraussetzt, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung bislang nicht realisiert werden konnte (gleicher Auffassung Urteil des FG Hamburg in EFG 2005, 1579; Frotscher in Schwarz, AO, § 169 Rz 22; Lindwurm, Der AO-Steuerberater --AO-StB-- 2007, 218; kritisch, aber ohne nähere Begründung Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 169 AO Rz 13). An dem so definierten hinterzogenen Betrag fehlt es vorliegend aber, weil der Steuergläubiger die geschuldete Einkommensteuer durch Steuerabzug bereits erhoben hatte und objektiv nie ein Anspruch auf eine Abschlusszahlung zu seinen Gunsten bestand.
Das hier gefundene Ergebnis folgt im Wesentlichen aus der an den Zwecken des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO orientierten Auslegung (vgl. zur teleologischen Auslegung BFH-Urteile vom 14. Mai 1991 VIII R 31/88, BFHE 164, 516, BStBl II 1992, 167; vom 26. September 1995 VIII R 70/94, BFHE 180, 21, BStBl II 1996, 464; vom 10. Oktober 2002 VI R 95/99, BFHE 200, 359, BStBl II 2002, 886). Im Einzelnen sind für den Senat folgende Erwägungen maßgebend:
a) Nach den Wertungen des Gesetzes soll es dem durch eine Steuerstraftat geschädigten Steuergläubiger ermöglicht werden, die ihm vorenthaltenen Steuerbeträge auch noch nach Ablauf von vier Jahren zurückzufordern. Sinn und Zweck des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO bestehen jedoch nicht darin, den Hinterzieher in die Lage zu versetzen, Erstattungsansprüche über die reguläre Verjährungsfrist hinaus zu realisieren.
aa) Mit der Fristverlängerung verfolgt der Gesetzgeber einen doppelten Zweck. Das erste Regelungsziel besteht nach allgemeiner Meinung darin, dass der Verwaltung ausreichend Zeit zur Berichtigung falscher Bescheide zur Verfügung gestellt werden soll, um den mit der Steuerhinterziehung einhergehenden objektiven Erschwernissen bei der Sachverhaltsaufklärung angemessen Rechnung zu tragen. Steuerhinterziehungen sind dadurch gekennzeichnet, dass der Täter bewusst die Mittel der Täuschung einsetzt, um den wahren Sachverhalt zu verschleiern und so den staatlichen Besteuerungszugriff ins Leere laufen zu lassen. Der Straftäter hat zudem ein starkes Eigeninteresse daran, die Aufklärung des Steuerfalls zu erschweren oder gar zu vereiteln, weil sein Streben dahin geht, sich den Besitz des betrügerisch erlangten Vermögensvorteils auf Dauer zu erhalten und der drohenden Bestrafung zu entgehen. Regelmäßig bedarf es daher staatlicherseits besonderer Mittel und Anstrengungen, die über das hinausgehen, was im Veranlagungsverfahren üblicherweise geleistet werden kann. Häufig gelingt es der Verwaltung erst nach Jahren --ggf. im Zuge einer Außenprüfung (zu diesem Aspekt bereits Becker, Die Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 121 Nr. 3)-- den wahren Sachverhalt aufzudecken. Die Berichtigung der falschen Bescheide soll dann nicht an der Geltung einer relativ kurzen Verjährungsfrist scheitern (vgl. BFH-Urteile vom 4. März 1980 VII R 88/77, BFHE 130, 131; in BFHE 186, 1, BStBl II 1998, 530; Abgabenordnung [Gesetzesentwurf der Bundesregierung], BTDrucks VI/1982, S. 150; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 169 AO Rz 28; Becker, a.a.O., § 121 Nr. 3).
Vorliegend steht jedoch ein Fall der "Selbstschädigung" des Steuerpflichtigen zur Beurteilung an. Denn der angebliche Täter der Steuerhinterziehung wäre "finanziell besser gefahren", wenn er bei der Wahrheit geblieben wäre und seinen Erstattungsanspruch geltend gemacht hätte. Hat in einem solchen Fall der Täter tatsächlich vorsätzlich, also in Kenntnis der Tatumstände gehandelt, so hat er allen Anlass, Hindernisse bei der Sachverhaltsaufklärung beiseite zu räumen und den wahren Sachverhalt beizeiten aufzudecken, um sich in den Genuss der Steuererstattung zu bringen. Ein objektives Bedürfnis, die Festsetzungsfrist in einem solchen Fall zu verlängern, besteht hiernach nicht.
bb) Die objektiven administrativen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsaufklärung und Steuerfestsetzung liefern jedoch nicht den einzigen Grund für die Fristverlängerung. Da die Fristlänge je nach dem Unrechts- und Schuldgehalt der steuerlichen Verfehlung variiert --fünf Jahre bei leichtfertiger Steuerverkürzung, Verdoppelung auf zehn Jahre bei vorsätzlicher Begehungsweise--, zeigt sich daran, dass die Anwendung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auch von subjektiven Unrechtselementen geprägt wird. Der Norm geht es darum, den mit dem Institut der Verjährung allgemein verfolgten Zweck, Rechtsfriede zwischen dem Abgabeberechtigten und dem Steuerpflichtigen eintreten zu lassen --insoweit liegt die Regelung gleichermaßen im Interesse der Allgemeinheit als auch des Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Urteil vom 19. August 1999 III R 57/98, BFHE 191, 198, BStBl II 2000, 330)-- , im speziellen Fall der Steuerunehrlichkeit in zeitlicher Hinsicht für eine längere Zeitspanne zurücktreten zu lassen. Hat also der leichtfertig, erst recht aber der vorsätzlich handelnde Steuerdelinquent selbst die entscheidende Ursache dafür gesetzt, dass die Steuern nicht in gesetzmäßiger Weise festgesetzt und erhoben wurden, dann darf er je nach dem Maß seiner Unehrlichkeit die Rechtswohltat der Verjährung (vgl. § 47 AO) erst nach Ablauf von fünf oder zehn Jahren in Anspruch nehmen. Der geschädigte Fiskus darf bis dahin die hinterzogenen Beträge im Interesse der Besteuerungsgleichheit nachfordern. Rechtsfriede nach Ablauf der vierjährigen Frist soll nur in den Fällen eintreten, in denen sich der Steuerpflichtige nicht schuldhaft, also steuerehrlich verhalten hat. Allein der Steuerehrliche darf das vom Rechtsinstitut der Verjährung geschützte Vertrauen, nach Ablauf der regulären Verjährungsfrist im Interesse der Rechtssicherheit keinen Steuernachforderungen des Finanzamts mehr ausgesetzt zu sein, in Anspruch nehmen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 130, 131, und in BFHE 186, 1, BStBl II 1998, 530; BFH-Urteil vom 12. August 1997 VII R 107/96, BFHE 184, 198, BStBl II 1998, 131; Ruban in HHSp, § 169 AO Rz 28; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 169 AO Rz 13; Hartmann in Beermann/Gosch, AO, § 169 Rz 20).
Die Regelung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO ist damit auf eine --vom jeweiligen Schuldumfang abhängige-- verfahrensrechtliche Schlechterstellung des Steuerhinterziehers im Vergleich zum steuerehrlichen Bürger angelegt. Diese Grundentscheidung des Gesetzgebers darf in Erstattungsfällen, wie dem vorliegenden, nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden. Es gilt vielmehr, sie folgerichtig zu Ende zu denken, um sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlungen zwischen ehrlichen und unehrlichen Steuerpflichtigen zu vermeiden. Denn die --lediglich-- vierjährige Verjährungsfrist gilt auch für den ehrlichen Steuerpflichtigen, dem aus Rechtsunkenntnis, wegen eines Irrtums, wegen leicht fahrlässigen Handelns oder aus reiner Vergesslichkeit ein (Flüchtigkeits-)Fehler bei der Anfertigung der Steuererklärung unterläuft, der zu einem ihn benachteiligenden falschen Steuerbescheid führt. Nur innerhalb der normalen Verjährung besteht für ihn die Möglichkeit, die Korrektur der gesetzwidrig zu hohen Steuerfestsetzung oder der zu niedrigen Steuererstattung herbeizuführen. Gegenüber einem solchen Steuerpflichtigen, der Kapitalerträge etwa deswegen i.S. des § 370 Abs. 1 AO nicht erklärt, weil er in Folge eines Tatbestandsirrtums gemäß § 16 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) an die abgeltende Wirkung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer glaubt, darf ein Steuerhinterzieher nicht verfahrensrechtlich privilegiert werden.
b) Die grammatische Interpretation der in § 169 Abs. 2 Satz 2 AO verwandten Begriffsfolge "soweit eine Steuer hinterzogen worden ist" und der systematische Zusammenhang der Regelung mit verwandten steuerverfahrensrechtlichen Vorschriften, zu deren Tatbestandsmerkmalen eine Steuerhinterziehung gehört, bestätigen das Ergebnis der teleologischen Auslegung. Sie zeigen, dass eine Steuer dann i.S. des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO hinterzogen worden ist, wenn eine vollendete Steuerhinterziehung dazu geführt hat, dass dem Fiskus ein Steuerbetrag vorenthalten wurde, zu dessen Rückgewinnung jener auf eine verlängerte Festsetzungsfrist angewiesen ist. Dieses Normverständnis folgt aus dem Umstand, dass der Straftatbestand der vollendeten Steuerhinterziehung von seinem Anwendungsbereich her Taten erfasst, die sich materiell als Fälle bloßer Vermögensgefährdung beziehungsweise als Fälle versuchter Steuerhinterziehung erweisen. Hier gibt es, obgleich der Tatbestand des § 370 AO vollständig erfüllt wurde, keinen hinterzogenen Steuerbetrag, der Gegenstand der zehnjährigen Festsetzungsfrist sein kann.
aa) So führt das in § 370 Abs. 4 Satz 3 AO enthaltene sogenannte Kompensationsverbot in seinem typischen Anwendungsbereich zwar zur Annahme einer vollendeten Steuerhinterziehung, aber nicht zur Verlängerung der Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO. Fingiert etwa ein Steuerstraftäter Werbungskosten im betragsmäßigen Umfang von 2 000 € und unterlässt er aus Rechtsunkenntnis die Geltendmachung von angefallenen Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastung im gleichen betragsmäßigen Umfang, so ist es ihm nach Aufdeckung seiner Manipulationen von Gesetzes wegen verwehrt, die fingierten Werbungskosten mit den außergewöhnlichen Belastungen zu verrechnen. Er hat sich der vollendeten Einkommensteuerhinterziehung schuldig gemacht. Dies ist die außer jedem Streit stehende Kernaussage des strafrechtlichen Kompensationsverbots. Trotz tatbestandlich vollendeter Einkommensteuerhinterziehung gibt es aber keinen "hinterzogenen Steuerbetrag", der Gegenstand einer verlängerten Festsetzungsfrist sein könnte. Denn Werbungskosten und außergewöhnliche Belastungen sind als unselbständige Besteuerungsgrundlagen als solche nicht Gegenstand der Verjährung. Folglich unterliegt der auf die fingierten Werbungskosten entfallende Mehr-Steuerbetrag nicht einer gesonderten --gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO verlängerten-- Festsetzungsfrist (vgl. BFH-Beschluss vom 29. September 1995 V B 38/95, BFH/NV 1996, 277). Mangels Geltungsanspruchs des strafrechtlichen Kompensationsverbots im "normalen" Besteuerungsverfahren sind die zu einer höheren Steuer führenden neuen Tatsachen (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Bezug auf die fingierten Werbungskosten) mit den steuerlichen Auswirkungen der nicht geltend gemachten Krankheitskosten gemäß § 177 Abs. 1 AO zwingend zu saldieren (die einschränkende Voraussetzung des groben Verschuldens i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gilt nicht, so BFH-Urteil vom 5. August 1986 IX R 13/81, BFHE 148, 394, BStBl II 1987, 297). Einen hinterzogenen Betrag i.S. des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO gibt es nicht.
Die Situation stellt sich nicht anders dar als bei der vergleichbaren Problematik der Festsetzung von Hinterziehungszinsen gemäß § 235 AO oder der Haftung gemäß § 71 AO. Eine Haftung für einen Steuerbetrag, der zwar im Sinne des Kompensationsverbots hinterzogen wurde, der aber nach materiellem Steuerrecht gar nicht besteht, scheidet aus (vgl. BFH-Urteil vom 13. Juli 1994 I R 112/93, BFHE 175, 489, BStBl II 1995, 198). Auch Hinterziehungszinsen in Bezug auf einen solchen Steuerbetrag festzusetzen, erscheint nicht gerechtfertigt (Urteil des FG Köln vom 25. Mai 1988 6 K 289/83, Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht (jetzt Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht) --wistra-- 1988, 316; Urteil des FG München vom 28. Juni 2000 1 K 137/99, EFG 2000, 1169; Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 235 Rz 19; Schwarz in Schwarz, AO, § 235 Rz 7; Baum in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 235 Rz 6; Kögel in Beermann/Gosch, a.a.O., § 235 Rz 21; Anwendungserlass zur Abgabenordnung --AEAO--, zu § 235, Nr. 2.4; a.A. wohl Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 235 AO Rz 10; offen gelassen in BFH-Urteil vom 12. Oktober 1993 VII R 44/93, BFHE 172, 401, BStBl II 1994, 438).
bb) Eine dem Kompensationsverbot durchaus vergleichbare Situation stellt sich ein, wenn die Kapitalertragsteuer einbehalten und auf Rechnung des Steuerpflichtigen bereits an den von § 370 AO geschützten Steuergläubiger abgeführt wurde. Hier gibt es ebenfalls keine Abschlusszahlung, also keinen zunächst durch Hinterziehung vorenthaltenen und nach Tatentdeckung nachzuzahlenden Steuerbetrag. Einen Vermögensschaden hat der Fiskus tatsächlich nicht erlitten, weil die Einkommensteuer durch den Steuerabzug bereits erhoben wurde. Die, soweit ersichtlich, einhellige Meinung folgert hieraus, dass Hinterziehungszinsen gemäß § 235 AO in Ermangelung eines "hinterzogenen Betrages" nicht anfallen, wenn die Kapitalertrag- oder eine sonstige Abzugssteuer bereits entrichtet worden ist (Urteil des FG München vom 29. November 1983 VI (XII) 108/78 AO, EFG 1984, 267; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 235 AO Rz 9; Kögel in Beermann/Gosch, a.a.O., § 235 Rz 19; Klein/Rüsken, a.a.O., § 235 Rz 18; Baum in Koch/Scholtz, a.a.O., § 235 Rz 3; Pahlke/ Koenig, Abgabenordnung, § 235 Rz 10). Sachliche Gründe, das fast wortgleich formulierte Tatbestandsmerkmal "hinterzogene Steuern" im Rahmen des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO anders zu interpretieren als im Rahmen des § 235 Abs. 1 Satz 1 AO, sind nicht ersichtlich (vgl. BFH-Urteil in BFHE 186, 1, BStBl II 1998, 530).
c) Schließlich deutet ein Blick in die Historie auf die Richtigkeit des gefundenen Auslegungsergebnisses hin. Die Vorgängervorschriften brachten das Erfordernis des hinterzogenen Betrages im Sinne eines zugunsten des geschädigten Fiskus bestehenden Nachzahlungsanspruchs sprachlich deutlich zum Ausdruck. So definierte § 359 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (RAO) vom 13. Dezember 1919 (RGBl 1919, 993) die Steuerhinterziehung als die Verkürzung von Steuereinnahmen. § 121 Satz 1 RAO sprach davon, dass die Verjährungsfrist bei hinterzogenen Beträgen, also verkürzten Steuereinnahmen, zehn Jahre laufe. Es spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber der AO 1977 von der Vorstellung abrücken wollte, dass nicht dem Hinterzieher, sondern dem durch ein Steuerdelikt geschädigten Fiskus zum Zwecke der Nachforderung vorenthaltener Steuerbeträge eine längere Frist als sonst üblich einzuräumen ist.
4. Der Hinweis der Kläger, mangels anrechenbarer Steuerabzugsbeträge sei jedenfalls definitiv Kirchensteuer mit der Folge der Verlängerung der Festsetzungsfrist hinterzogen worden, rechtfertigt keine andere Beurteilung des Streitfalles. Abgesehen davon, dass der Freistaat Bayern in seinem Kirchensteuergesetz die Strafvorschriften der §§ 369 ff. AO ausdrücklich für unanwendbar erklärt hat (Art. 18 Abs. 2, 23 Satz 2 des Kirchensteuergesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 21. November 1994, Gesetz- und Verordnungsblatt 1994, 1026; Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 370 AO Rz 83), wäre, selbst wenn es den Straftatbestand der Kirchensteuerhinterziehung geben würde, allein die Frist zur Festsetzung der Kirchensteuer, nicht aber zur Festsetzung der Einkommensteuer verlängert. Denn § 169 Abs. 2 Satz 2 AO geht, wie die Formulierung "soweit eine Steuer hinterzogen wurde" zeigt, von einer Teilverjährung aus. Nur diejenige Steuerart bzw. derjenige anteilige Steuerbetrag, die tatsächlich Gegenstand einer Steuerhinterziehung sind, verjähren nach zehn Jahren. Im Übrigen bleibt es bei der vierjährigen Frist (Ruban in HHSp, § 169 AO Rz 52; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 169 AO Rz 14).