EuGH: Rentenfonds – Vergleichbarkeit mit einem Organismus für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) – von den Mitgliedern getragene Anlagerisiken
EuGH, Urteil vom 5.9.2024 – verb. Rs. C-639/22 bis C-644/22
ECLI:EU:C:2024:688
Volltext:BB-ONLINE BBL2024-2133-2
Tenor
1. Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die Mitglieder eines Rentenfonds, der im Rahmen eines kollektiven Rentensystems einen Rentenvertrag durchführt, der Rentenanwartschaften und ‑leistungen vorsieht, deren Höhe, obwohl sie auf der Grundlage einer Regelrente oder des Berufseinkommens und der Anzahl der Arbeitsjahre jedes Mitglieds festgelegt wird, unter bestimmten Bedingungen als Folge der Ergebnisse der Anlagen dieses Rentenfonds variieren kann, nur dann als Träger des Anlagerisikos angesehen werden können, wenn die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen in erster Linie von den Ergebnissen dieser Anlagen abhängt. Für eine solche Beurteilung sind weder die Anzahl der Jahre, in denen ein Mitglied Rentenanwartschaften aufgebaut hat, noch der Umstand, dass der Aufbau von Rentenanwartschaften in Bezug auf einen Rentenfonds zu einem bestimmten Zeitpunkt unterbrochen wurde, relevant. Dass das Risiko individuell oder kollektiv getragen wird, insbesondere im Fall einer Insolvenz, oder dass ein Arbeitgeber für einen bestimmten Zeitraum eine Garantie für den erwarteten Aufbau von Rentenanwartschaften übernommen hat, ist zwar von Bedeutung, jedoch sind diese Faktoren als solche nicht ausschlaggebend.
2. Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112 ist im Licht des Grundsatzes der Steuerneutralität dahin auszulegen, dass für die Klärung der Frage, ob ein Rentenfonds, der kein Organismus für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren ist, die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung in Anspruch nehmen kann, nicht nur ein Vergleich mit einem solchen Organismus durchzuführen ist, sondern auch zu beurteilen ist, ob der Rentenfonds im Hinblick auf die rechtliche und finanzielle Situation des Mitglieds im Verhältnis zu diesem Rentenfonds mit anderen Fonds vergleichbar ist, bei denen es sich zwar nicht um Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren handelt, die aber von dem betreffenden Mitgliedstaat als Sondervermögen im Sinne dieser Bestimmung betrachtet werden.
Aus den Gründen
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Diese Ersuchen ergehen in sechs Rechtsstreitigkeiten, und zwar erstens zwischen X, einem Pflicht-Berufsrentenfonds (Rechtssache C‑639/22), sowie Stichting BPL Pensioen und Stichting Bedrijfstakpensioensfonds voor het levensmiddelenbedrijf (BPFL), zwei branchenspezifischen Betriebsrentenfonds (Rechtssachen C‑643/22 und C‑644/22), auf der einen und dem Inspecteur van de Belastingdienst Utrecht (Inspektor der Steuer- und Zollverwaltung Utrecht, Niederlande) auf der anderen Seite, zweitens zwischen der Fiscale Eenheid Achmea BV, einem Unternehmen, das Leistungen an einen branchenspezifischen Betriebsrentenfonds erbracht hat (Rechtssache C‑640/22), und Y, einem Unternehmensrentenfonds (Rechtssache C‑641/22), auf der einen und dem Inspecteur van de Belastingdienst Amsterdam (Inspektor der Steuer- und Zollverwaltung Amsterdam, Niederlande) auf der anderen Seite, sowie drittens zwischen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten, einem Pflicht-Berufsrentenfonds (Rechtssache C‑642/22), auf der einen und dem Inspecteur van de Belastingdienst Maastricht (Inspektor der Steuer- und Zollverwaltung Maastricht, Niederlande) auf der anderen Seite, über die Anwendung der in Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung auf diese Rentenfonds.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
3 Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.
4 Art. 135 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
g) die Verwaltung von durch die Mitgliedstaaten als solche definierten Sondervermögen“.
Die OGAW-Richtlinie
5 Art. 1 der Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. 2009, L 302, S. 32) (im Folgenden: OGAW-Richtlinie) sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für die im Gebiet der Mitgliedstaaten niedergelassenen Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW).
(2) Für die Zwecke dieser Richtlinie und vorbehaltlich des Artikels 3 bezeichnet der Ausdruck ‚OGAW‘ Organismen,
a) deren ausschließlicher Zweck es ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung nach dem Grundsatz der Risikostreuung in Wertpapieren und/oder anderen in Artikel 50 Absatz 1 genannten liquiden Finanzanlagen zu investieren, und
b) deren Anteile auf Verlangen der Anteilinhaber unmittelbar oder mittelbar zu Lasten des Vermögens dieser Organismen zurückgenommen oder ausgezahlt werden. Diesen Rücknahmen oder Auszahlungen gleichgestellt sind Handlungen, mit denen ein OGAW sicherstellen will, dass der Kurs seiner Anteile nicht erheblich von deren Nettoinventarwert abweicht.
Die Mitgliedstaaten können eine Zusammensetzung der OGAW aus verschiedenen Teilfonds genehmigen.
…“
Niederländisches Recht
6 Art. 11 Abs. 1 Buchst. i Nr. 3 der Wet houdende vervanging van de bestaande omzetbelasting door een omzetbelasting volgens het stelsel van heffing over de toegevoegde waarde (Wet op de omzetbelasting) (Gesetz über die Ersetzung der bestehenden Umsatzsteuer durch eine Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem [Umsatzsteuergesetz]) vom 28. Juni 1968 (Stb. 1968, Nr. 329) in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung bestimmt:
„1. Unter den durch Verordnung festzulegenden Voraussetzungen sind von der Steuer befreit:
…
i. die folgenden … Dienstleistungen:
…
3°. die Verwaltung eines von Investmentfonds bzw. Investmentgesellschaften für gemeinsame Anlagen angesammelten Vermögens“.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
7 Bei den Klägerinnen der Ausgangsverfahren in den Rechtssachen C‑639/22 und C‑641/22 bis C‑644/22, also bei X, Y, Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten, Stichting BPL Pensioen und Stichting Bedrijfstakpensioensfonds voor het levensmiddelenbedrijf (BPFL), handelt es sich um niederländische Rentenfonds, die Vermögensverwaltungsdienstleistungen eines außerhalb der Niederlande ansässigen Vermögensverwalters in Anspruch genommen haben. In der Rechtssache C‑640/22 hat die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Fiscale Eenheid Achmea, eine Gesellschaft niederländischen Rechts, Vermögensverwaltungsdienstleistungen an einen branchenspezifischen Betriebsrentenfonds erbracht.
8 Diese Klägerinnen beanstanden vor der Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, in allen in der vorstehenden Randnummer genannten Rechtssachen den von den Inspektoren der Steuer- und Zollverwaltung Utrecht, Amsterdam und Maastricht (im Folgenden: Steuerverwaltung) für die Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen berechneten Mehrwertsteuerbetrag. Sie vertreten die Ansicht, dass der Rentenfonds, der diese Dienstleistungen in Anspruch genommen habe bzw. an den diese Dienstleistungen erbracht worden seien, ein „Sondervermögen“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie darstelle. Folglich sei die Inanspruchnahme bzw. die Erbringung dieser Dienstleistungen nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. i Nr. 3 des Gesetzes über die Ersetzung der bestehenden Umsatzsteuer durch eine Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem (Umsatzsteuergesetz) in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung von der Mehrwertsteuer ausgenommen.
9 Aus den Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass das niederländische Altersvorsorgesystem aus drei Säulen besteht, und zwar aus der gesetzlichen Grundrente, der betrieblichen Altersvorsorge und der freiwilligen individuellen Altersvorsorge. Die zweite Säule, die in der Wet houdende regels betreffende pensioenen (Gesetz zur Regelung der Renten) (im Folgenden: Rentengesetz) geregelt ist, umfasst Unternehmensrentenfonds und branchenspezifische Betriebsrentenfonds. Pflicht-Berufsrentenfonds im Sinne der Wet verplichte beroepspensioenregeling (Gesetz über die Regelung der Pflicht-Berufsrente) fallen dem vorlegenden Gericht zufolge ebenfalls unter die zweite Säule.
10 Bei den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentenfonds handele es sich in den Rechtssachen C‑639/22 und C‑642/22 um Pflicht-Berufsrentenfonds, in den Rechtssachen C‑640/22, C‑643/22 und C‑644/22 um branchenspezifische Betriebsrentenfonds und in der Rechtssache C‑641/22 um einen Unternehmensrentenfonds.
11 Das vorlegende Gericht führt in allen Vorabentscheidungsersuchen aus, dass das durch den jeweiligen Rentenfonds begründete Rentensystem auf einem „Rentenleistungsvertrag“ beruhe, der durch die Zahlung von Rentenleistungen einer fixen Höhe gekennzeichnet sei. Es handele sich um eine der drei im Rentengesetz vorgesehenen Vertragsarten. Dieser Vertrag unterscheide sich vom „Prämienvertrag“, der bestimmte Prämien vorsehe, die später in Rentenleistungen in fixer oder variabler Höhe umgewandelt würden, und vom „Kapitalvertrag“, der auf einem bestimmten Kapital beruhe, das später in Rentenleistungen fixer oder variabler Höhe umgewandelt würde.
12 Rentenfonds unterlägen hinsichtlich der Einhaltung eines strategischen Deckungsgrads – dem Verhältnis des Vermögens dieser Fonds zum Barwert ihrer bestehenden Rentenverpflichtungen – einer staatlichen Überwachung. Der strategische Deckungsgrad und die Eigenmittel eines Rentenfonds bestimmten die finanzielle Situation des Fonds sowie in erheblichem Maß die Höhe der Beiträge und potenzieller Senkungen dieser Beiträge, ebenso wie die Gewährung bedingter Zulagen zu den Rentenleistungen (Indexierung) oder eine mögliche Kürzung der Rentenleistungen oder ‑anwartschaften.
13 Die Höhe der zu entrichtenden Beiträge werde vom Rentenfonds so festgelegt, dass die durch den Anstieg der Rentenverpflichtungen erforderliche Aufstockung der Eigenmittel gedeckt sei, wobei auch die voraussichtliche Anlagerendite berücksichtigt werde.
14 Für bestimmte Rentenfonds, und zwar für die in den Rechtssachen C‑640/22, C‑643/22 und C‑644/22 in Rede stehenden, würden die an den Fonds zu leistenden Beiträge nach Abstimmung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen vom Verwaltungsgremium des jeweiligen Fonds festgelegt. Die Beiträge würden vom Arbeitgeber abgeführt, wobei ein Teil des Gehalts der Arbeitnehmer einbehalten werde. Beim in der Rechtssache C‑641/22 in Rede stehenden Rentenfonds Y werde der Beitrag für jedes Mitglied einzeln festgelegt, es gebe aber eine Höchstgrenze. In dieser Rechtssache hätten die Arbeitgeber zwischen 2014 und 2020 eine Garantie in Höhe von 250 Mio. Euro übernommen, die zur Ergänzung der Beiträge verwendet werden könne, falls diese nicht ausreichen sollten, um die erwarteten Rentenanwartschaften zu gewährleisten. In den Rechtssachen C‑639/22 und C‑642/22 bemesse sich der Beitrag der Mitglieder an ihrem Berufseinkommen oder an ihrem Unternehmensgewinn.
15 In allen Ausgangsverfahren, mit Ausnahme der Rechtssache C‑639/22, erfolge die Berechnung der Rentenanwartschaften und ‑leistungen der in Rede stehenden Rentensysteme auf der Grundlage des Gehalts und der Anzahl der Arbeitsjahre jedes Arbeitnehmers. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass sich die Höhe dieser Rentenanwartschaften und ‑leistungen in den in diesen Rechtssachen in Rede stehenden Rentensystemen ändern könne. Es könne zu einer Erhöhung kommen, beispielsweise entsprechend der Entwicklung des Verbraucherpreisindexes. Über die Gewährung dieser Zulage entscheide jeweils das Verwaltungsgremium des Rentenfonds. Zur Rechtssache C‑644/22 stellt das vorlegende Gericht klar, dass die Gewährung einer etwaigen Zulage vollständig durch die vom in Rede stehenden Rentenfonds erzielte Anlagerendite finanziert werde.
16 Im in der Rechtssache C‑639/22 in Rede stehenden Rentensystem bestimme sich die Altersrente nach der Anzahl der Beitragsquartale. Es handele sich um eine Regelrente, die vom Verwaltungsgremium des Rentenfonds gegenüber dem letzten Kalenderjahr nach einer bestimmten Formel erhöht werden könne, wenn ausreichend finanzielle Mittel vorhanden seien.
17 Im in der Rechtssache C‑641/22 in Rede stehenden Rentensystem entscheide das Verwaltungsgremium des Rentenfonds, soweit die Vermögenslage dieses Fonds es zulasse, jährlich, ob und inwieweit eine Zulage auf die Rentenanwartschaften und ‑leistungen gewährt werde. Im in der Rechtssache C‑642/22 in Rede stehenden Rentensystem werde jährlich eine Zulage von 2 % auf die Rentenanwartschaften und ‑leistungen gewährt. Das Verwaltungsgremium des Rentenfonds könne in Abhängigkeit von der finanziellen Lage des Fonds beschließen, eine höhere Zulage zu gewähren, die teilweise aus den Beiträgen und teilweise aus Überrenditen des investierten Kapitals finanziert werde.
18 Umgekehrt könne ein Rentenfonds gezwungen sein, die Rentenanwartschaften und ‑leistungen zu kürzen, wie es in der Rechtssache C‑641/22 der Fall gewesen sei, was den Prozentsatz des Rentenaufbaus im Jahr 2020 betreffe. Solche Kürzungen und Erhöhungen würden im Rentengesetz geregelt. In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Gewährung von Zulagen nicht möglich sei, wenn der strategische Deckungsgrad eine bestimmte Schwelle unterschreite. So habe der Rentenfonds in der Rechtssache C‑644/22 nur im Jahr 2009 eine Zulage gewähren können. Außerdem sei aufgrund der Verschlechterung der finanziellen Situation dieses Fonds bei der Nederlandsche Bank (Zentralbank, Niederlande) ein Sanierungsplan vorgelegt worden, der eine Kürzung der aufgebauten Renten um 0,85 % vorgesehen habe.
19 Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob die in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten in Rede stehenden Rentenfonds als „Sondervermögen“ zu betrachten sind, die die Mehrwertsteuerbefreiung gemäß Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie in Anspruch nehmen können.
20 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf die Urteile vom 7. März 2013, Wheels Common Investment Fund Trustees u. a. (C‑424/11, EU:C:2013:144), vom 13. März 2014, ATP PensionService (C‑464/12, EU:C:2014:139), und vom 9. Dezember 2015, Fiscale Eenheid X (C‑595/13, EU:C:2015:801), darauf hin, dass ein Rentenfonds, der – wie die in den Rechtsstreitigkeiten, mit denen dieses Gericht befasst sei, in Rede stehenden Rentenfonds – keinen OGAW im Sinne der OGAW-Richtlinie darstelle, dennoch als „Sondervermögen“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie betrachtet werden könne, wenn er bestimmte Merkmale aufweise.
21 Es wirft insbesondere Fragen nach der Auslegung eines dieser Merkmale auf, nämlich der Voraussetzung, dass das Anlagerisiko von den Mitgliedern zu tragen sei. Nach Ansicht der Steuerverwaltung, die sich in diesem Zusammenhang auf ein Urteil des Hoge Raad (Oberster Gerichtshof, Niederlande) stütze, sei das Risiko nicht bedeutend genug, das aufgrund der Anlagen der Rentenfonds, die in den vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten in Rede stünden, für deren Mitglieder bestehe.
22 Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, dass die in den bei ihm anhängigen Verfahren in Rede stehenden Rentensysteme weder mit den in den Urteilen vom 7. März 2013, Wheels Common Investment Fund Trustees u. a. (C‑424/11, EU:C:2013:144), und vom 13. März 2014, ATP PensionService (C‑464/12, EU:C:2014:139), in Rede stehenden Systemen vollständig vergleichbar seien noch mit dem im Vorabentscheidungsersuchen genannten Urteil des Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) in Rede stehenden System.
23 Im Rahmen der in den bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten in Rede stehenden Rentensysteme werde die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen nämlich auf der Grundlage des Berufseinkommens und der Anzahl der Arbeitsjahre der Mitglieder oder auf der Grundlage einer Regelrente berechnet.
24 Daraus folge zum einen, dass sich der Sachverhalt von jenem im Urteil vom 7. März 2013, Wheels Common Investment Fund Trustees u. a. (C‑424/11, EU:C:2013:144), unterscheide, da nicht davon ausgegangen werden könne, dass sich die in den Verfahren beim vorlegenden Gericht in Rede stehenden Rentenanwartschaften und ‑leistungen in keiner Weise nach dem Wert der Vermögenswerte des Rentenfonds und der von ihm erzielten Anlagerendite richteten. Obwohl die Höhe dieser Rentenanwartschaften und ‑leistungen nicht unmittelbar von der Anlagerendite abhänge, sei die voraussichtliche Höhe der Rente nicht gewährleistet. Das Risiko, dass sich der Wert der Vermögenswerte verändere, spiegele sich im strategischen Deckungsgrad wider und bestimme so, gemeinsam mit anderen Berechnungsparametern, ob und inwieweit Zulagen gewährt werden könnten oder aber ob Rentenanwartschaften und ‑leistungen gekürzt werden müssten. Die Anlagerendite und Veränderungen des Werts der Vermögenswerte kämen also in der Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen zum Ausdruck.
25 Zum anderen unterschieden sich die in den Rechtsstreitigkeiten vor dem vorlegenden Gericht in Rede stehenden Rentensysteme auch von dem Rentensystem, um das es im Urteil vom 13. März 2014, ATP PensionService (C‑464/12, EU:C:2014:139), gehe, in dem die Höhe der Rente von der Höhe der Beiträge sowie den damit erzielten Renditen abhänge, was nach Ansicht des vorlegenden Gerichts eher einem Rentensystem entspreche, das auf „Prämienverträgen“ im Sinne des Rentengesetzes basiere. Dies verhindere jedoch nicht in allen in den Verfahren beim vorlegenden Gericht in Rede stehenden Rentensystemen, dass das Verlust- und Gewinnrisiko von der Gesamtheit der Mitglieder getragen werde, und zwar mittels Einschränkung der erworbenen Anwartschaften oder Durchführung einer Kürzung oder im gegenteiligen Fall durch die Gewährung von Zulagen oder die Kompensierung bereits erfolgter Kürzungen.
26 Das vorlegende Gericht möchte ermitteln, ob der Umstand, dass das Anlagerisiko von der Gesamtheit der Mitglieder getragen wird, verhindert, dass ein Rentenfonds wie die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten in Rede stehenden als Sondervermögen betrachtet wird, und ob es dafür ausreicht, dass die Mitglieder irgendein Risiko tragen, oder ob sie ein signifikantes Risiko tragen müssen.
27 Im Übrigen ergibt sich aus den Vorabentscheidungsersuchen, dass in den Rechtssachen C‑640/22 und C‑644/22 die Klägerinnen der Ausgangsrechtsstreitigkeiten, Fiscale Eenheid Achmea und Stichting Bedrijfstakpensioensfonds voor het levensmiddelenbedrijf (BPFL), geltend machen, dass der Grundsatz der Steuerneutralität einen Vergleich mit bestimmten Rentenfonds voraussetze, die „Prämienverträge“ durchführten und die, ohne als OGAW zu gelten, von der Steuerverwaltung wie Sondervermögen behandelt würden. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass gemäß einem Schreiben des Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) bestimmte Rentenfonds, die Prämienverträge durchführten, von der Steuerverwaltung wie Sondervermögen behandelt würden.
28 Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel an der Notwendigkeit eines solchen Vergleichs, da die in den Urteilen vom 7. März 2013, Wheels Common Investment Fund Trustees u. a. (C‑424/11, EU:C:2013:144), und vom 13. März 2014, ATP PensionService (C‑464/12, EU:C:2014:139), angeführten Merkmale, anhand deren festgestellt werden könne, ob andere Wirtschaftsteilnehmer gleichartige Umsätze tätigen wie OGAW, im Licht des Grundsatzes der Steuerneutralität entwickelt worden seien. Es fragt sich außerdem, ob für einen einzelnen Arbeitnehmer, der die Art des Rentenvertrags nicht immer frei wählen könne, wesentliche Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Arten von Rentenverträgen bestünden.
29 Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑644/22 folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass davon ausgegangen werden kann, dass die Mitglieder eines Rentenfonds, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, ein Anlagerisiko tragen, und führt dies dazu, dass der Rentenfonds ein „Sondervermögen“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt? Ist dabei von Bedeutung,
– ob die Mitglieder ein individuelles Anlagerisiko tragen, oder reicht es aus, dass die Mitglieder als Gemeinschaft und sonst keiner die Folgen der Ergebnisse der Anlagen tragen;
– wie hoch das kollektive bzw. individuelle Risiko ist;
– inwiefern für die Höhe der Rentenleistungen andere Faktoren wie der Zeitraum des Rentenaufbaus, die Höhe des Arbeitsentgelts und der Abzinsungsfaktor mitbestimmend sind?
2. Hat der Grundsatz der Steuerneutralität zur Folge, dass bei der Anwendung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie im Rahmen von Fonds, die kein OGAW sind, nicht ausschließlich zu beurteilen ist, ob diese mit einem OGAW vergleichbar sind, sondern auch, ob sie aus Sicht des durchschnittlichen Verbrauchers mit anderen Fonds vergleichbar sind, die zwar kein OGAW sind, aber die der Mitgliedstaat als Sondervermögen ansieht?
30 In den Rechtssachen C‑639/22, C‑642/22 und C‑643/22 hat die Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die mit der ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑644/22 identisch ist.
31 In der Rechtssache C‑640/22 weist dieses Gericht darauf hin, dass seit dem 1. Januar 2018 kein aktiver Aufbau des Rentenfonds mehr stattfinde, dem die Klägerin des Ausgangsverfahrens dieser Rechtssache Vermögensverwaltungsdienstleistungen erbracht habe. Der im vor diesem Gericht anhängigen Rechtsstreit in Rede stehende Rentenfonds sei nämlich verpflichtet worden, aufgrund seines niedrigen strategischen Deckungsgrads sein Vermögen zu übertragen. Das vorlegende Gericht stellt sich folglich die Frage, ob dieser Umstand bei der Prüfung des Anlagerisikos dieses Rentenfonds, das von den Mitgliedern getragen werde, von Bedeutung ist.
32 Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die gleichen Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen wie in der Rechtssache C‑644/22, vorbehaltlich folgender Präzisierung der ersten Vorlagefrage:
Ist dabei von Bedeutung,
…
– dass der Rentenfonds seit dem 1. Januar 2018 keinen aktiven Aufbau mehr betreibt und aufgrund des niedrigen strategischen Deckungsgrads verpflichtet ist, das Gesamtvermögen an einen Versicherer oder einen anderen Rentenfonds zu übertragen?
…
33 In der Rechtssache C‑641/22 stellt sich das vorlegende Gericht schließlich die Frage, ob sich der bereits in Rn. 14 dieses Urteils erwähnte Umstand, dass die Arbeitgeber für einen bestimmten Zeitraum eine Garantie übernommen haben, um den Rentenaufbau zu gewährleisten, auf das Bestehen eines von den Mitgliedern des Rentenfonds zu tragenden Anlagerisikos auswirkt.
34 Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die vorbehaltlich folgender Präzisierung mit der ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑644/22 identisch ist:
Ist dabei von Bedeutung,
…
– dass der Arbeitgeber für den Zeitraum von 2014 bis 2020 eine Garantie bis 250 Mio. Euro für die Verwirklichung des angestrebten Rentenaufbaus übernommen hat?
35 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. November 2022 sind die Rechtssachen C‑639/22 bis C‑644/22 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
36 Mit seiner ersten Frage, die allen verbundenen Rechtssachen gemeinsam ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass davon ausgegangen werden kann, dass Mitglieder eines Rentenfonds, der im Rahmen eines kollektiven Rentensystems einen Rentenvertrag durchführt, der Rentenanwartschaften und ‑leistungen vorsieht, deren Höhe zwar auf der Grundlage einer Regelrente oder des Berufseinkommens und der Anzahl der Arbeitsjahre jedes Mitglieds bestimmt wird, sich aber unter bestimmten Umständen aufgrund der Ergebnisse der von diesem Rentenfonds getätigten Anlagen ändern kann, das Anlagerisiko tragen. Es stellt sich auch die Frage, ob in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, wie hoch dieses Risiko ist, ob es sich um ein individuelles oder kollektives Risiko handelt, wie viele Jahre das Mitglied zum Rentenaufbau beigetragen hat, dass der Rentenaufbau in Bezug auf einen Rentenfonds zu einem bestimmten Zeitpunkt unterbrochen wurde oder dass ein Arbeitgeber für einen bestimmten Zeitraum eine Garantie für den angestrebten Rentenaufbau übernommen hat.
37 Gemäß Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten die Verwaltung von durch die Mitgliedstaaten als solche definierten Sondervermögen von der Mehrwertsteuer.
38 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber es zwar den Mitgliedstaaten überlassen hat, den Begriff „Sondervermögen“ zu definieren, OGAW im Sinne der OGAW-Richtlinie aber als solche zu betrachten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2014, ATP PensionService, C‑464/12, EU:C:2014:139, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Wie Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie zu entnehmen ist, sind OGAW Organismen, deren ausschließlicher Zweck es ist, beim Publikum beschaffte Gelder nach dem Grundsatz der Risikostreuung in Wertpapieren zu investieren, und deren Anteilscheine auf Verlangen der Anteilsinhaber unmittelbar oder mittelbar zulasten des Vermögens dieser Organismen zurückgenommen oder ausgezahlt werden (Urteil vom 9. Dezember 2015, Fiscale Eenheid X, C‑595/13, EU:C:2015:801, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Konkret handelt es sich bei OGAW um Organismen, in denen zahlreiche Anlagen gebündelt und auf ein Spektrum von Wertpapieren verteilt sind, die sich zur Optimierung der Ergebnisse wirksam verwalten lassen und in deren Rahmen die einzelnen Anlagebeträge verhältnismäßig geringfügig sein können. Derartige Fonds verwalten ihre Anlagen im eigenen Namen und für eigene Rechnung, während der einzelne Anleger einen oder mehrere Anteile an dem Fonds, nicht aber die Anlagen des Fonds als solche besitzt (Urteil vom 13. März 2014, ATP PensionService, C‑464/12, EU:C:2014:139, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Nach ständiger Rechtsprechung sind als Sondervermögen darüber hinaus auch Fonds anzusehen, die zwar keine Organismen für gemeinsame Anlagen im Sinne der OGAW‑Richtlinie darstellen, jedoch dieselben Merkmale aufweisen wie diese und somit dieselben Umsätze tätigen oder diesen zumindest so weit ähnlich sind, dass sie mit ihnen im Wettbewerb stehen (Urteil vom 9. Dezember 2015, Fiscale Eenheid X, C‑595/13, EU:C:2015:801, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass eines der Merkmale, die vorliegen müssen, damit ein Organismus als einem OGAW ähnlich und damit als Sondervermögen betrachtet werden kann, das die Mehrwertsteuerbefreiung gemäß Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie in Anspruch nehmen kann, darin besteht, dass die Anteilsinhaber Anrecht auf die Gewinne haben oder das Risiko im Zusammenhang mit der Verwaltung des Fonds tragen. Anders ausgedrückt muss das Anlagerisiko von den Mitgliedern getragen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. März 2013, Wheels Common Investment Fund Trustees u. a., C‑424/11, EU:C:2013:144, Rn. 27, vom 13. März 2014, ATP PensionService, C‑464/12, EU:C:2014:139, Rn. 59, und vom 9. Dezember 2015, Fiscale Eenheid X, C‑595/13, EU:C:2015:801, Rn. 51 und 52).
43 Hierzu hat der Gerichtshof klargestellt, dass Mitglieder eines Rentensystems nicht die Risiken der Verwaltung eines Investmentfonds tragen, in dem das Kapitalvermögen dieses Systems zusammengeführt wurde, wenn die Rente, die ein Angestellter erhält, in keiner Weise vom Wert des Kapitalvermögens des Systems und den Ergebnissen der von den Verwaltern des Systems getätigten Anlagen abhängt, sondern durch die Dauer seiner Beschäftigung bei dem Arbeitgeber und die Höhe seines Gehalts vorgegeben ist, was sich vom Gewinn unterscheidet, den Personen, die Anteile an einem Organismus für gemeinsame Anlagen kaufen, erwarten können, der sich nach den Ergebnissen der Anlagen richtet, die von den Verwaltern des Fonds während des Zeitraums, während dessen sie diese Anteile halten, getätigt werden (Urteil vom 7. März 2013, Wheels Common Investment Fund Trustees u. a., C‑424/11, EU:C:2013:144, Rn. 27).
44 Daraus folgt, dass für die Feststellung, dass ein Mitglied eines Rentenfonds das erforderliche Anlagerisiko trägt, die von diesem Mitglied bezogene Rente von den Anlagen dieses Fonds abhängen muss, und zwar in einem Maße, das demjenigen vergleichbar ist, wie die Gewinne von Anteilsinhabern eines Organismus für gemeinsame Anlagen von den Anlagen dieses Organismus abhängen.
45 Damit ein Rentenfonds als Sondervermögen betrachtet werden kann, das die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Befreiung in Anspruch nehmen kann, muss also das Risiko, das die Mitglieder dieses Rentenfonds aufgrund der von diesem getätigten Anlagen tragen, mit dem Risiko vergleichbar sein, das Anteilsinhaber eines Organismus für gemeinsame Anlagen im Zusammenhang mit dem Vermögen tragen, das sie in diesen Organismus investiert haben.
46 Da sich ein solches Risiko in der Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen widerspiegeln muss, ist bei der Ermittlung, ob die Mitglieder eines Rentenfonds ein vergleichbares Risiko tragen wie Anteilsinhaber eines Organismus für gemeinsame Anlagen, festzustellen, dass sich die Ergebnisse der Anlagen des Rentenfonds maßgeblich auf die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen auswirken.
47 Da nämlich die Rendite, die Anteilsinhaber eines Organismus für gemeinsame Anlagen erwarten können, im Wesentlichen von den Ergebnissen abhängt, die während des Zeitraums, in dem diese Anteile gehalten werden, durch die Anlagen dieses Organismus erzielt werden, was sich unmittelbar auf den Wert der Anteile auswirkt, setzt die Anwendung der in Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befreiung auf einen Rentenfonds voraus, dass die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen aus dem betroffenen Rentenvertrag nicht garantiert ist, sondern in erster Linie von den Ergebnissen der Anlagen dieses Fonds abhängt, und zwar unabhängig davon, ob sich dies positiv oder negativ auswirkt.
48 Für die Feststellung, dass ein Anlagerisiko, das von den Mitgliedern eines Rentenfonds getragen wird, mit jenem vergleichbar ist, das Anteilsinhaber eines Organismus für gemeinsame Anlagen tragen, darf die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen also nicht in Abhängigkeit von der Dauer der Beschäftigung beim Arbeitgeber und der Höhe des Gehalts jedes Mitglieds weitgehend vorbestimmt sein. In diesem Zusammenhang hat das nationale Gericht, wie von der Generalanwältin im Wesentlichen in Nr. 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt, zu ermitteln, ob die Rentenanwartschaften und ‑leistungen in erster Linie von den Ergebnissen der Anlagen des Rentenfonds abhängen.
49 In diesem Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Rentenanwartschaften und ‑leistungen in den Rentensystemen, die in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten in Rede stünden, prinzipiell auf der Grundlage einer Regelrente oder des Berufseinkommens und der Anzahl der Arbeitsjahre jedes Mitglieds berechnet würden. Ihre Höhe hänge nicht unmittelbar von den Ergebnissen der Anlagen des Rentenfonds ab, sei aber auch nicht garantiert. Anhand des strategischen Deckungsgrads könne ermittelt werden, ob und inwieweit den Mitgliedern Zulagen gewährt werden könnten oder ob die Rentenanwartschaften und ‑leistungen gar gekürzt werden müssten. Die Ergebnisse dieser Anlagen spiegelten sich also in der Höhe der Renten wider. Außerdem verteilten sich das Verlustrisiko und mögliche Gewinne auf alle Mitglieder.
50 Daraus scheint sich zu ergeben, dass die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen in Abhängigkeit von der Dauer der Beschäftigung beim Arbeitgeber und dem Gehalt jedes Mitglieds weitgehend vorbestimmt ist. Änderungen der Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen richten sich zudem nach dem strategischen Deckungsgrad, der insbesondere unter Bezugnahme auf den Barwert der bestehenden Rentenverpflichtungen definiert wird. So kann es zwar Entwicklungen nach oben oder nach unten geben, und die Gewährung von Zulagen wird in bestimmten Fällen vollständig durch die Ergebnisse der Anlagen des Rentenfonds finanziert. Für die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen scheinen aber mehrere Faktoren maßgeblich zu sein, und bei den Ergebnissen dieser Anlagen handelt es sich offenbar nicht um den hauptsächlichen Faktor. Dies ist jedoch unter Berücksichtigung aller Merkmale der betroffenen Rentenverträge vom vorlegenden Gericht zu prüfen.
51 Wenn es darum geht, zu ermitteln, ob die Mitglieder der in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten in Rede stehenden Rentenfonds ein vergleichbares Anlagerisiko tragen wie Anteilseigner eines Organismus für gemeinsame Anlagen, genügt es im Übrigen nicht, festzustellen, dass das Risiko für die Anlagen eines solchen Fonds individuell oder kollektiv von den Mitgliedern getragen wird und nicht von anderen Personen oder Einrichtungen. Wenn sich diese Anlagen nämlich nur am Rande auf die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen auswirken, ist das von den Mitgliedern zu tragende Risiko nicht mit dem Risiko vergleichbar, das Anteilsinhaber eines Organismus für gemeinsame Anlagen im Zusammenhang mit dem Vermögen tragen, das sie in diesen Organismus investiert haben.
52 Wenn hingegen das Risiko aus den Anlagen eines Rentenfonds einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der aus dem Rentenvertrag geschuldeten Rentenanwartschaften und ‑leistungen hat, ist der Umstand, dass sich dieses Risiko auf alle Mitglieder des Fonds verteilt und seine Auswirkungen daher mäßig sind, unerheblich. Dies ergibt sich nämlich aus der Bündelung des Fonds und verhindert nicht, dass sich dieses Risiko individuell auf die Rechte aller Mitglieder des Fonds auswirkt.
53 Ebenso unerheblich sind die Anzahl der Jahre, über die ein Mitglied seine Rentenanwartschaft aufgebaut hat, oder der Umstand, dass der Zeitraum für den Aufbau dieser Anwartschaft im Zusammenhang mit einem Rentenfonds zu einem bestimmten Zeitpunkt unterbrochen wurde, wie dies in der Rechtssache C‑640/22 der Fall wäre. Wie nämlich von der Generalanwältin in Nr. 46 ihrer Schlussanträge ausgeführt, kommt es nur auf die Ausgestaltung dieser Rentenanwartschaften und ‑leistungen im Rentenvertrag des Mitglieds sowie darauf an, wie sehr diese Rentenanwartschaften und ‑leistungen von den Ergebnissen der Anlagen des Rentenfonds abhängen. Dass der Rentenfonds nicht mehr existiert oder dass er aufgrund seiner finanziellen Situation verpflichtet ist, sein Vermögen auf eine andere Einrichtung zu übertragen, wirkt sich nicht auf das Bestehen eines Anlagerisikos aus, das von den Mitgliedern dieses Fonds getragen wird, außer wenn diese Übertragung den Übergang des Risikos auf eine dritte Einrichtung impliziert.
54 Dazu könnte es im Fall der Insolvenz eines Rentenfonds kommen, was ein kollektives Risiko darstellt, das von möglichen Änderungen der Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen zu unterscheiden ist. In diesem Fall obliegt es dem nationalen Gericht, zu prüfen, ob für den betreffenden Rentenfonds eine Form der staatlichen Garantie oder ein Rückversicherungssystem eingerichtet wurde, um festzustellen, ob die Mitglieder auch das Risiko tragen, das die Insolvenz des Fonds mit sich bringt.
55 Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Umstand, dass ein Arbeitgeber für einen bestimmten Zeitraum eine Garantie für den angestrebten Rentenaufbau übernommen hat, insoweit auf die Rentenanwartschaften und ‑leistungen auswirken kann, als in diesem Fall die eingezahlten Beiträge zu einer Rente in einer bestimmten Höhe führen können, die von den Ergebnissen der Anlagen des betreffenden Rentenfonds unabhängig ist, was möglicherweise zum Wegfall des Risikos führt, das vorliegen muss, damit dieser Fonds als einem OGAW ähnlich betrachtet werden kann. Jedenfalls hat das nationale Gericht zu prüfen, inwieweit sich die Ergebnisse dieser Anlagen auf die Gesamthöhe dieser Renten auswirken, es sei denn, eine solche Garantie ist allumfassend.
56 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Mitglieder eines Rentenfonds, der im Rahmen eines kollektiven Rentensystems einen Rentenvertrag durchführt, der Rentenanwartschaften und ‑leistungen vorsieht, deren Höhe, obwohl sie auf der Grundlage einer Regelrente oder des Berufseinkommens und der Anzahl der Arbeitsjahre jedes Mitglieds festgelegt wird, unter bestimmten Bedingungen als Folge der Ergebnisse der Anlagen dieses Rentenfonds variieren kann, nur dann als Träger des Anlagerisikos angesehen werden können, wenn die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen in erster Linie von den Ergebnissen dieser Anlagen abhängt. Für eine solche Beurteilung sind weder die Anzahl der Jahre, in denen ein Mitglied Rentenanwartschaften aufgebaut hat, noch der Umstand, dass der Aufbau von Rentenanwartschaften in Bezug auf einen Rentenfonds zu einem bestimmten Zeitpunkt unterbrochen wurde, relevant. Dass das Risiko individuell oder kollektiv getragen wird, insbesondere im Fall einer Insolvenz, oder dass ein Arbeitgeber für einen bestimmten Zeitraum eine Garantie für den erwarteten Aufbau von Rentenanwartschaften übernommen hat, ist zwar von Bedeutung, jedoch sind diese Faktoren als solche nicht ausschlaggebend.
Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑640/22 und C‑644/22
57 Mit seiner zweiten Frage in den Rechtssachen C‑640/22 und C‑644/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Steuerneutralität dahin auszulegen ist, dass für die Klärung der Frage, ob ein Rentenfonds, der kein OGAW ist, die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung in Anspruch nehmen kann, nicht nur ein Vergleich mit einem solchen Organismus durchzuführen, sondern auch zu beurteilen ist, ob der Rentenfonds im Hinblick auf die rechtliche und finanzielle Situation des Mitglieds im Verhältnis zu diesem Rentenfonds mit anderen Fonds vergleichbar ist, bei denen es sich zwar nicht um OGAW handelt, die aber von dem betreffenden Mitgliedstaat als Sondervermögen im Sinne dieser Bestimmung betrachtet werden.
58 Aus den Rn. 38 und 41 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Anwendung dieser Befreiung verpflichtet sind, Fonds, die OGAW im Sinne der OGAW-Richtlinie darstellen, als Sondervermögen zu behandeln, und dass auch Fonds, die zwar keine Organismen für gemeinsame Anlagen im Sinne dieser Richtlinie darstellen, aber die gleichen Umsätze tätigen oder diesen Organismen zumindest so weit ähnlich sind, dass sie mit ihnen im Wettbewerb stehen, als Sondervermögen anzusehen sind.
59 Auch wenn die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung eng auszulegen ist, verlangen nämlich der Grundsatz der Steuerneutralität und das Ziel, den Anlegern die Anlage in Wertpapiere über Organismen für Anlagen zu erleichtern, dieser Befreiung die volle Wirksamkeit zu verleihen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juni 2021, K und DBKAG, C‑58/20 und C‑59/20, EU:C:2021:491, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Der Grundsatz der Steuerneutralität lässt insbesondere nicht zu, gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Februar 2022, Finanzamt A, C‑515/20, EU:C:2022:73, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass aufgrund eines Schreibens des Staatssekretärs für Finanzen bestimmte Rentenfonds, die Prämienverträge durchführten, von der Steuerverwaltung als Sondervermögen im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie zu behandeln seien.
62 In diesem Schreiben habe der Staatssekretär für Finanzen die Ansicht vertreten, dass ein individuelles beitragsorientiertes Rentensystem im Wesentlichen deshalb ein Sondervermögen darstelle, weil in einem solchen Rentensystem die Mitglieder das Anlagerisiko trügen. Darüber hinaus könnten bestimmte kollektive beitragsorientierte Rentensysteme ebenfalls als Sondervermögen angesehen werden, wenn der Aufbau von Rentenanwartschaften in einer Weise erfolge, die mit dem Aufbau solcher Anwartschaften in individuellen beitragsorientierten Rentensystemen vergleichbar sei.
63 In diesem Zusammenhang ist das Mitglied eines Rentenfonds als der durchschnittliche Verbraucher zu betrachten, auf den das vorlegende Gericht Bezug nimmt. Im vorliegenden Fall ist es daher Sache dieses Gerichts, eine konkrete Prüfung durchzuführen, um zu ermitteln, ob im Hinblick auf die rechtliche und finanzielle Situation dieses Mitglieds gegenüber dem Rentenfonds die Rentenanwartschaften, die aufgrund von Rentenverträgen – die dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge „Verträge über Rentenleistungen“ darstellen – erworben werden, die auf der Grundlage eines Rentenfonds wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden durchgeführt werden, mit Rentenanwartschaften vergleichbar sind, die aufgrund eines „Prämienrentenvertrags“ erworben werden, der auf der Grundlage eines Rentenfonds durchgeführt wird, der von einem Mitgliedstaat als Sondervermögen im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie eingestuft wird und insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, dass die Mitglieder das Anlagerisiko tragen.
64 Nach alledem ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C‑640/22 und C‑644/22 zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Steuerneutralität dahin auszulegen ist, dass für die Klärung der Frage, ob ein Rentenfonds, der kein OGAW ist, die in dieser Bestimmung vorgesehene Befreiung in Anspruch nehmen kann, nicht nur ein Vergleich mit einem solchen Organismus durchzuführen, sondern auch zu beurteilen ist, ob der Rentenfonds im Hinblick auf die rechtliche und finanzielle Situation des Mitglieds im Verhältnis zu diesem Rentenfonds mit anderen Fonds vergleichbar ist, bei denen es sich zwar nicht um OGAW handelt, die aber von dem betreffenden Mitgliedstaat als Sondervermögen im Sinne dieser Bestimmung betrachtet werden.
Kosten
65 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.