FG Köln: Reichweite des Progressionsvorbehalts bei Einkünften aus EU-Betriebsstätten – Belastingadviseur in den Niederlanden
FG Köln, Urteil vom 1.7.2015 – 1 K 1807/13
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die Einbeziehung von in den Niederlanden bezogenen Einkünften aus der Tätigkeit des Klägers als Belastingadviseur in den sogenannten Progressionsvorbehalt.
Der Kläger ist ausgebildeter Steuerfachangestellter und betreibt seit 2001 in A (Niederlande) ein Büro als Belastingadviseur, aus dem er in den Streitjahren Einkünfte bezog. Er hat seinen Wohnsitz mit seiner Ehefrau in Deutschland, mit der er zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wird.
Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagungen 2010 und 2011 schätzte der Beklagte niederländische Einkünfte aus selbständiger Arbeit (§ 18 des Einkommensteuergesetzes (EStG)) i.H. von jeweils 25.000 €. Bei den Einkommensteuerfestsetzungen 2010 vom 24.01.2013 und 2011 vom 28.01.2013 berücksichtigte der Beklagte diese bei der Ermittlung des besonderen Steuersatzes nach § 32b EStG (sog. Progressionsvorbehalt). Die Bescheide ergingen nach § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
Da die Kläger ihre hiergegen erhobenen Einsprüche vom 25.02.2013 nicht begründeten, wies der Beklagte diese mit Entscheidung vom 24.05.2013 zurück und hob gleichzeitig die Vorbehalte der Nachprüfung nach § 164 Abs. 3 AO auf.
Die hiergegen am 13.06.2013 erhobene Klage begründen die Kläger im Wesentlichen damit, dass nach der Rechtsprechung des EuGH, Urteil vom 29.03.2007 RS C-347/04 (REWE-Zentralfinanz), BStBl II 2007, 492 die niederländischen Einkünfte des Klägers nicht dem Progressionsvorbehalt zu unterwerfen seien. Auch die aufgrund dieser EuGH-Rechtsprechung erfolgte Gesetzesänderung führe zu diesem Ergebnis. Denn der Progressionsvorbehalt greife nach § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG nicht für EU-Einkünfte, die nicht die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG erfüllen. Dies sei gegeben, da der klägerische Betrieb weder im Drittland liege, noch negative Einkünfte bezogen würden, so dass § 2a EStG weder direkt noch indirekt zur Anwendung komme. Im Übrigen handele es sich bei den Einkünften des Klägers um sog. „passive Einkünfte“, da es sich um keine Tätigkeit handele, die in § 2a Abs. 2 EStG aufgezählt sei.
Die Kläger beantragen,
die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2010 und 2011 einschließlich der dazu ergangenen Einspruchsentscheidungen insoweit zu ändern, als die darin jeweils in den Progressionsvorbehalt einbezogenen ausländischen Einkünfte nicht mehr berücksichtigt werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung seines Klageabweisungsantrags nimmt der Beklagte Bezug auf die Gründe des Urteils 9 K 2563/09.
In diesem Verfahren wendeten sich die Kläger gegen die Einbeziehung der niederländischen Einkünfte in den Progressionsvorbehalt der Einkommensteuerfestsetzungen 2002 bis 2006. Mit Urteil vom 25.01.2012 wurde die Klage durch das Finanzgericht Köln abgewiesen. Die hiergegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BFH mit Beschluss vom 06.11.2012, I B 28/12, BFH/NV 2013, 246 als unbegründet zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 13.05.2013, 2 BvR 27/13 hat das BVerfG die weitergehend erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Auf Antrag der Kläger wurde die Akte des Verfahrens 9 K 2563/09 beigezogen, auf deren Inhalt Bezug genommen wird.
Aus den Gründen
Die Klage ist unbegründet.
Der Beklagte hat zu Recht in den angefochtenen Einkommensteuerbescheiden der Kläger die niederländischen Einkünfte des Klägers aus seiner Tätigkeit als Belastingadviseur in den Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG in der geschätzten Höhe einbezogen.
Denn es handelt sich hierbei um Einkünfte i.S. von § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG, die nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA-NL) steuerfrei sind. Hierbei ist es unerheblich, ob es sich bei den Einkünften als Belastingadviseur um solche aus Unternehmensgewinnen (Art. 5 DBA-NL) oder aus selbständiger Arbeit (Art. 9 DBA-NL) handelt. Denn in beiden Fällen liegt das Besteuerungsrecht bei den Niederlanden. So hätten die Niederlande zum einen nach Art. 5 Abs. 1 DBA-NL als „anderer“ als der Wohnsitzstaat das alleinige Besteuerungsrecht für die Einkünfte aus der alleinigen Betriebsstätte des Klägers in A (Niederlande) und zum anderen nach Art. 9 Abs. 1 und 2 DBA-NL, weil die selbständige Arbeit in den Niederlanden in einer ständigen Einrichtung des Klägers ausgeübt wäre. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 DBA-NL nimmt die Bundesrepublik Deutschland diese Einkünfte von der Bemessungsgrundlage aus. Auch hat sich die Bundesrepublik Deutschland in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 DBA-NL ausdrücklich die Einbeziehung dieser Einkünfte in die Ermittlung des anzuwendenden Steuersatzes vorbehalten (sog. Progressionsvorbehalt).
Auch § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG (zur Anwendbarkeit auf den Veranlagungszeitraum ab 2008: § 52 Abs. 43a Satz 2 EStG 2009) führt zu keiner anderen Beurteilung. Nach dieser Vorschrift gilt der Progressionsvorbehalt nicht mehr für (nach einem DBA steuerfreie) Einkünfte aus einer anderen als in einem Drittstaat belegenen gewerblichen Betriebsstätte, die nicht die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG erfüllt. Die Tatbestandsvoraussetzungen liegen im Streitfall jedoch nicht vor. Denn der Kläger bezog in den Streitjahren keine Einkünfte aus einer gewerblichen Betriebsstätte, die nicht die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG erfüllt.
Der Senat geht zu Gunsten der Kläger davon aus, dass es sich bei den in den Niederlanden erzielten Einkünften des Klägers als Belastingadviseur um solche aus Gewerbebetrieb (§ 15 EStG) handelt (so die Verwaltungsauffassung im BMF-Schreiben vom 04.05.1998 IV B 4-S 2246-2/98II, FMNR246000098). Denn würde es sich um Einkünfte aus selbständiger/freiberuflicher Arbeit (§ 18 EStG) handeln, wäre § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG mangels gewerblicher Betriebsstätte von vornherein nicht einschlägig.
Die Vorschrift des § 2a EStG regelt Verlustausgleichsbeschränkungen für bestimmte negative Einkünfte mit Bezug zu Drittstaaten. § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG enthält wiederum eine Ausnahme, nach der derartige Verluste doch ausgeglichen werden dürfen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Steuerpflichtige nachweist, dass die negativen Einkünfte aus einer gewerblichen Betriebsstätte in einem Drittstaat stammen, die ausschließlich oder fast ausschließlich die Herstellung oder Lieferung von Waren, außer Waffen, die Gewinnung von Bodenschätzen sowie die Bewirkung gewerblicher Leistungen zum Gegenstand hat, soweit diese nicht in der Errichtung oder dem Betrieb von Anlagen, die dem Fremdenverkehr dienen, oder in der Vermietung oder Verpachtung von Wirtschaftsgütern einschließlich der Überlassung von Rechten, Plänen, Mustern, Verfahren, Erfahrungen und Kenntnissen bestehen (§ 2a Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz EStG, sog. Aktivitätsvorbehalt).
Die gesetzliche Formulierung von § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG sieht der Senat als misslungen und kaum verständlich an. Dies gilt insbesondere aufgrund der doppelten Negation und des Verweises auf eine Vorschrift, die zu Drittstaaten ergangen ist. Der Senat versteht die Regelung des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 i.V. mit § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG jedoch so, dass der Gesetzgeber hiermit den Progressionsvorbehalt für passive gewerbliche EU-Einkünfte ausschließen wollte (vgl. so auch FG Münster, Urteil vom 21.03.2014, 4 K 2292/11 F, EFG 2014, 1003).
Entgegen der Ansicht der Kläger geht der Verweis des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG nicht ins Leere, weil es sich nicht um Einkünfte aus einem Drittland handelt. Denn § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG verweist insoweit ausschließlich auf die Aktivitätsklausel. Dies wird dadurch deutlich, dass die Regelung ausdrücklich von anderen als in einem Drittland belegenen gewerblichen Betriebsstätten spricht, also dieses Tatbestandsmerkmal des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG sozusagen „aufhebt“.
Der Verweis von § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG auf die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG kann sich bereits sprachlich nur auf den oben dargestellten Aktivvorbehalt beziehen, denn nur dies sind (neben bereits „eliminierten“ Drittlandseinkünften) die Voraussetzungen von § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG. Die Nichtanwendung von Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 (§ 2a Abs. 2 Satz 1, 1. HS EStG) ist hingegen nicht Voraussetzung, sondern Rechtsfolge der Vorschrift.
Für diese Auslegung spricht auch die Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zum JStG 2009 (Bundestagsdrucksache 16/10189, S. 46 und 53). Hiernach ergänzt § 32b Abs. 1 Satz 2 EStG die Neufassung von § 2a EStG, der mit demselben Gesetz auf Verluste aus Drittstaaten beschränkt wurde. Der Gesetzgeber reagierte damit auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH-Urteil vom 29.3.2007 C‑347/04, Slg. 2007 I-2647, Rewe-Zentralfinanz), das die frühere Regelung des § 2a EStG, die alle ausländischen Verluste erfasste, teilweise für europarechtswidrig erklärt hatte, sowie auf ein von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren. Gleichwohl sollten bestimmte gewerbliche Verluste aus EU-Betriebsstätten vom negativen Progressionsvorbehalt ausgenommen werden. Um europarechtlichen Bedenken hiergegen zu begegnen, sollten im Gegenzug auch entsprechende positive Einkünfte aus EU-Betriebsstätten vom Progressionsvorbehalt ausgenommen bleiben. Die Anwendung des Progressionsvorbehalts auf positive Einkünfte aus aktiven Tätigkeiten ist demnach als vom Gesetzgeber für notwendig erachtete Folgeregelung für den Erhalt des negativen Progressionsvorbehalts für Verluste aus denselben Tätigkeiten anzusehen.
Auch die Rechtsprechung des EuGH gebietet keine Außerachtlassung der niederländischen Einkünfte im Rahmen des Progressionsvorbehalts. Insoweit schließt der Senat sich den Ausführungen des Urteils des Finanzgerichts Köln vom 25.01.2012, 9 K 2563/09 an.
Mithin erfüllt die Tätigkeit des Klägers als beratender Belastingadviseur als „gewerbliche Leistung“ die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG im Sinne der Verweisnorm des § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EStG, so dass der Ausschluss des Progressionsvorbehalts nach § 32b Abs. 1 Satz 2 1. HS EStG i.V. mit § 32 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht zur Anwendung kommt.
Der Beklagte war auch zur Schätzung der niederländischen Einkünfte nach § 162 Abs. 1 Satz 1 i.V. mit Abs. 2 Satz 1 AO befugt, da der Kläger insoweit keine Angaben gemacht hat. Auch der Höhe nach hat sich der Beklagte im Schätzungsrahmen bewegt. Einziger Anhaltspunkt für eine Schätzung waren die im Veranlagungszeitraum 2004 erklärten niederländischen Einkünfte des Klägers i.H. von 32.091 € (vgl. Verfahren 9 K 2563/09), die der Beklagte mit dem Ansatz von jeweils 25.000 € deutlich unterschritten hat.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung) zugelassen. Soweit ersichtlich, ist bisher noch nicht höchstrichterlich entschieden, wie weit die seit 2008 geltende Ausnahme vom Progressionsvorbehalt bei Einkünften aus EU-Betriebsstätten reicht.