EuGH: Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze für Kleinunternehmer – missbräuchliche Praxis durch Gründung einer neuen Gesellschaft (Kroatisches Vorabentscheidungsersuchen)
EuGH, Urteil vom 4.10.2024 – C-171/23; UP CAFFE d.o.o. gegen Ministarstvo financija Republike Hrvatske
ECLI:EU:C:2024:840
Volltext BB-Online BBL2024-2389-2
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2016/856 des Rates vom 25. Mai 2016 geänderten Fassung ist im Licht des Grundsatzes des Verbots der missbräuchlichen Praktiken dahin auszulegen, dass wenn feststeht, dass die Gründung einer Gesellschaft eine missbräuchliche Praxis darstellt, mit der bezweckt wird, weiterhin in den Genuss der Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze gemäß Art. 287 Nr. 19 dieser Richtlinie 2006/112 für eine Tätigkeit zu kommen, die zuvor im Rahmen dieser Regelung von einer anderen Gesellschaft ausgeübt wurde, diese Richtlinie 2006/112 verlangt, dass die so gegründete Gesellschaft diese Regelung nicht in Anspruch nehmen kann, auch wenn es in der nationalen Rechtsordnung keine spezifischen Bestimmungen gibt, in denen das Verbot solch missbräuchlicher Praktiken verankert ist.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2016/856 des Rates vom 25. Mai 2016 (ABl. 2016, L 142, S. 12) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und den Grundsatz des Verbots der missbräuchlichen Praktiken.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der UP CAFFE d.o.o., einer kroatischen Gesellschaft, und dem Ministarstvo financija Republike Hrvatske (Finanzministerium der Republik Kroatien) wegen eines Bescheids, mit dem Letzteres von UP CAFFE die Zahlung eines Mehrwertsteuerbetrags verlangt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 285 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Mitgliedstaaten, die von der Möglichkeit nach Artikel 14 der [Zweiten] Richtlinie 67/228/EWG [des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, 71, S. 1303)] keinen Gebrauch gemacht haben, können Steuerpflichtigen mit einem Jahresumsatz von höchstens 5 000 [Euro] oder dem Gegenwert dieses Betrags in Landeswährung eine Steuerbefreiung gewähren.“
4 In Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Mitgliedstaaten, die nach dem 1. Januar 1978 beigetreten sind, können Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung gewähren, wenn ihr Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert der folgenden Beträge nicht übersteigt, wobei der Umrechnungskurs am Tag des Beitritts zugrunde zu legen ist:
…
19. Kroatien: … 35 000 [Euro]“.
5 Art. 1 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2017/1768 des Rates vom 25. September 2017 zur Ermächtigung der Republik Kroatien, eine von Artikel 287 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] abweichende Sondermaßnahme einzuführen (ABl. 2017, L 250, S. 71) bestimmt:
„Abweichend von Artikel 287 Nummer 19 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] wird Kroatien ermächtigt, Steuerpflichtigen, deren Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert von 45 000 [Euro] zu dem am Beitrittstag geltenden Umrechnungskurs nicht übersteigt, eine Mehrwertsteuerbefreiung zu gewähren.“
6 Nach Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses 2017/1768 gilt dieser Beschluss vom 1. Januar 2018 bis zum 31. Dezember 2020 oder bis zu dem Tag, an dem eine Richtlinie zur Änderung der Art. 281 bis 294 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Kraft tritt, je nachdem, welcher Zeitpunkt früher liegt.
Kroatisches Recht
7 Art. 9 („Pflicht, nach gutem Glauben zu handeln“) des Opći porezni zakon (Allgemeines Steuergesetz) (Narodne novine, Nrn. 115/16 und 106/18) sieht vor:
„(1) Die Beteiligten eines steuerrechtlichen Verhältnisses sind verpflichtet, nach gutem Glauben zu handeln.
(2) Nach gutem Glauben zu handeln, bedeutet gewissenhaftes und ehrliches Handeln im Einklang mit dem Gesetz.
(3) Der Finanzminister legt durch Erlass die Modalitäten des Handelns nach gutem Glauben fest.“
8 Nach Art. 11 dieses Gesetzes werden steuerliche Sachverhalte „nach ihrer wirtschaftlichen Substanz festgestellt“.
9 In Art. 90 des Zakon o porezu na dodanu vrijednost (Mehrwertsteuergesetz) (Narodne novine, Nr. 77/13) heißt es:
„(1) ‚Kleinunternehmer‘ im Sinne dieses Gesetzes ist eine juristische Person mit Sitz oder fester Niederlassung [im Inland] bzw. eine natürliche Person mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, deren Lieferungen von Gegenständen oder erbrachten Dienstleistungen im vergangenen oder laufenden Kalenderjahr den Gegenwert von 300 000 [kroatischen Kuna (HRK) (etwa 39 000 Euro)] nicht überschritten haben.
(2) Ein Steuerpflichtiger im Sinne von Abs. 1 dieses Artikels wird von der Zahlung der Mehrwertsteuer auf die Lieferung von Gegenständen und erbrachten Dienstleistungen befreit, ist nicht berechtigt, Mehrwertsteuer auf den ausgestellten Rechnungen auszuweisen, und hat keinen Anspruch auf Vorsteuerabzug.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10 UP CAFFE mit Sitz in Kroatien ist ein Gastronomiebetrieb.
11 Am 17. Oktober 2018 erließ die kroatische Steuerverwaltung einen Steuerbescheid gegen UP CAFFE für den Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis zum 31. Juli 2018 über einen Mehrwertsteuerbetrag in Höhe von 138 234,02 HRK (ca. 18 000 Euro) zuzüglich eines Betrags von 2 425,12 HRK (ca. 320 Euro) Verzugszinsen (im Folgenden: streitiger Steuerbescheid).
12 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung stützt sich der streitige Steuerbescheid auf die Ergebnisse einer Steuerprüfung, bei der festgestellt wurde, dass UP CAFFE Teil einer aggressiven Steuerplanung sei, die betrieben werde, um weiterhin die in § 90 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze in Anspruch zu nehmen, in deren Genuss die ebenfalls in Kroatien ansässige SS-UGO d.o.o. für eine Tätigkeit im Gastronomiebereich gekommen sei, die in Wirklichkeit weiterhin von letzterer Gesellschaft ausgeübt werde. Die kroatische Steuerverwaltung sei nämlich der Ansicht, dass es tatsächlich keine Unterbrechung der Tätigkeit von SS-UGO gegeben habe und dass die Gründung der neuen Gesellschaft, nämlich UP CAFFE, in Wirklichkeit fiktiv sei. Der streitige Steuerbescheid sehe daher sowohl die Mehrwertbesteuerung von UP CAFFE für diese Tätigkeit als auch die Anerkennung des Rechts auf Abzug der im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit geschuldeten oder gezahlten Vorsteuer.
13 UP CAFFE focht die Rechtmäßigkeit des streitigen Steuerbescheids vor dem Upravni sud u Zagrebu (Verwaltungsgericht Zagreb, Kroatien), dem vorlegenden Gericht, an.
14 Nach den Angaben dieses Gerichts wurden die nationalen Vorschriften, die es erlauben würden, die Mehrwertbesteuerung von UP CAFFE mit einem Rechtsmissbrauch zu begründen, erst nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Besteuerungszeitraum erlassen und der Ustav Republike Hrvatske (Verfassung der Republik Kroatien) untersage deren rückwirkende Anwendung.
15 Es fragt sich jedoch, ob sich die kroatische Steuerverwaltung in Anbetracht der sich aus dem Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a. (C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455), ergebenden Grundsätze unmittelbar auf den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken berufen kann, um eine solche Besteuerung zu rechtfertigen. Es weist darauf hin, dass die Umstände der Rechtssache, mit der es befasst sei, allerdings insoweit anders seien als jene, um die es in den Rechtssachen gegangen sei, die diesem Urteil zugrunde lägen, als der Rechtsstreit, mit dem es befasst sei, nicht das Recht auf Abzug, Befreiung oder Rückerstattung von Mehrwertsteuer, sondern die Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze betreffe.
16 Unter diesen Umständen hat der Upravni sud u Zagrebu (Verwaltungsgericht Zagreb) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verpflichtet das Unionsrecht, wenn die objektiven Umstände des Falls darauf hindeuten, dass eine Mehrwertsteuerhinterziehung durch die Gründung einer neuen Gesellschaft bzw. die Unterbrechung der steuerlichen Kontinuität der Geschäftstätigkeit der früheren Gesellschaft begangen wurde, wobei der Steuerpflichtige weiß oder wissen müsste, dass er sich an einer solchen Tat beteiligt hat, die nationalen Behörden und Gerichte auch dann zur Feststellung der Mehrwertsteuerpflicht (nicht zur Ablehnung des Antrags auf Mehrwertsteuererstattung), wenn das nationale Gesetz eine solche Feststellung zum Zeitpunkt des Eintretens des steuerbaren Ereignisses nicht vorsieht?
Zur Vorlagefrage
17 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht vorschreibt, den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich seine Vorlagefragen einfügen, festzulegen oder zumindest die tatsächlichen Umstände zu erläutern, auf denen die Fragen beruhen, um eine dem Ausgangsrechtsstreit dienliche Auslegung des Unionsrechts zu ermöglichen.
18 Im vorliegenden Fall wird die auszulegende Bestimmung des Unionsrechts in der Vorlagefrage nicht konkret genannt.
19 Außerdem erscheint Art. 285 der Mehrwertsteuerrichtlinie, auf den sowohl UP CAFFE als auch die kroatische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen Bezug nehmen, angesichts der in der Vorlageentscheidung angeführten tatsächlichen Umstände für das Ausgangsverfahren ebenfalls nicht relevant.
20 Da nämlich die im Ausgangsverfahren angewandten kroatischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Mehrwertsteuerfreigrenze von 300 000 HRK (etwa 39 000 Euro) vorsehen, ist die einschlägige Bestimmung der Mehrwertsteuerrichtlinie offensichtlich a priori nicht Art. 285 dieser Richtlinie, der einen Freibetrag von 5 000 Euro vorsieht, sondern, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, eher Art. 287 Nr. 19 dieser Richtlinie; dieser sieht für die Republik Kroatien die Möglichkeit vor, einen Mehrwertsteuerfreibetrag von 35 000 Euro anzuwenden, der für den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Besteuerungszeitraum durch den Durchführungsbeschluss 2017/1768 auf 45 000 Euro angehoben wurde.
21 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich der Wortlaut der Vorlagefrage zwar auf einen Steuerhinterziehungsfall bezieht, aus den Angaben in der Vorlageentscheidung jedoch hervorgeht, dass die in dieser Rechtssache aufgeworfene Frage in Wirklichkeit den Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken betrifft.
22 Somit ist im Hinblick auf die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen, die das Unionsrecht betreffen, und im Hinblick auf den Umstand, dass der Gerichtshof über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2024, Ilva u. a., C-626/22, EU:C:2024:542, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung), davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken dahin auszulegen ist, dass wenn feststeht, dass die Gründung einer Gesellschaft eine missbräuchliche Praxis darstellt, mit der bezweckt wird, weiterhin in den Genuss der Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze gemäß Art. 287 Nr. 19 dieser Richtlinie für eine Tätigkeit zu kommen, die zuvor im Rahmen dieser Regelung von einer anderen Gesellschaft ausgeübt wurde, diese Richtlinie verlangt, dass die so gegründete Gesellschaft diese Regelung nicht in Anspruch nehmen kann, auch wenn es in der nationalen Rechtsordnung keine spezifischen Bestimmungen gibt, in denen das Verbot solch missbräuchlicher Praktiken verankert ist.
23 Erstens setzt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer zum einen voraus, dass der fragliche Umsatz trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis hat, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen, dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit dem fraglichen Umsatz im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird. Das Missbrauchsverbot ist nämlich nicht relevant, wenn die fraglichen Umsätze eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung von Steuervorteilen (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 74 und 75).
24 Was die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, die Gegenstand eines solchen Rechtsmissbrauchs sein können, ist im vorliegenden Fall das Recht auf Inanspruchnahme der in Art. 287 Nr. 19 dieser Richtlinie vorgesehenen Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze einzubeziehen, da die Republik Kroatien von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, diese Regelung anzuwenden.
25 Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass die nationalen Behörden und Gerichte, sofern eine etwaige Versagung eines sich aus der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebenden Rechts den allgemeinen Grundsatz widerspiegelt, wonach sich niemand missbräuchlich oder betrügerisch auf die im Rechtssystem der Union vorgesehenen Rechte berufen darf, dieses Recht generell zu versagen haben, unabhängig davon, welches Recht aus dem Bereich der Mehrwertsteuer vom Rechtsmissbrauch oder von der betrügerischen Handlung betroffen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 46).
26 Im vorliegenden Fall ist es daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu ermitteln, ob die kroatische Steuerverwaltung zu Recht festgestellt hat, dass die Gründung von UP CAFFE eine missbräuchliche Praxis im Sinne der in Rn. 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellt, mit der bezweckt wird, weiterhin in den Genuss der in den nationalen Vorschriften zur Umsetzung von Art. 287 Nr. 19 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze zu kommen.
27 Insoweit ist klarzustellen, dass die in Art. 287 Nr. 19 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze im Hinblick auf die Voraussetzung in Bezug auf die Erlangung eines Steuervorteils, dessen Gewährung den mit dieser Regelung verfolgten Zielen zuwiderliefe, es durch die mit ihr verbundenen Verwaltungsvereinfachungen ermöglicht, die Gründung, die Tätigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit von Kleinunternehmen zu stärken sowie ein angemessenes Verhältnis zwischen dem mit der Steuerprüfung verbundenen Verwaltungsaufwand und den zu erwartenden geringen Steuereinnahmen zu wahren. Diese Regelung soll damit sowohl den Kleinunternehmen als auch den Steuerverwaltungen einen solchen Verwaltungsaufwand ersparen (Urteil vom 9. Juli 2020, AJPF Caraş-Severin und DGRFP Timişoara, C-716/18, EU:C:2020:540, Rn. 40).
28 Wenn eine Gesellschaft gegründet wird, um weiterhin in den Genuss der in Art. 287 Nr. 19 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze zu kommen, und zwar für eine Tätigkeit, die zuvor von einer anderen Gesellschaft ausgeübt wurde, zu einem Zeitpunkt, zu dem Letztere die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieser Regelung nicht mehr erfüllte, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, würde die Gewährung eines solchen Steuervorteils folglich nicht den mit dieser Regelung verfolgten Zielen entsprechen.
29 Zweitens geht in Bezug auf die rechtlichen Konsequenzen, die im Fall der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis zu ziehen wären, aus ständiger Rechtsprechung hervor, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird (vgl. entsprechend Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 71, sowie vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 42).
30 Wie sich aus Rn. 25 des vorliegenden Urteils ergibt, haben die nationalen Behörden und Gerichte, die Inanspruchnahme der in Art. 287 Nr. 19 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass die Anwendung dieser Regelung missbräuchlich geltend gemacht wird.
31 Hinsichtlich des vom vorlegenden Gericht in seiner Frage angesprochenen Umstands, dass das nationale Recht keine spezifischen Bestimmungen über das Verbot missbräuchlicher Praktiken enthalte, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte gehalten sind, das nationale Recht so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und der Zielsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen, was erfordert, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der in diesem anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 52).
32 Es ist somit Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob das kroatische Recht Rechtsregeln – sei es eine Vorschrift oder einen allgemeinen Grundsatz –, wonach Rechtsmissbrauch verboten ist, oder andere Vorschriften über Steuerhinterziehung oder -umgehung enthält, die im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts in Bezug auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung ausgelegt werden könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht festzustellen, ob es, wie die Kommission vorschlägt, jedenfalls nicht denkbar wäre, eine solche Versagung auf eine unionsrechtskonforme Auslegung von Art. 9 oder Art. 11 des Allgemeinen Steuergesetzes zu stützen.
34 Sollte sich jedoch herausstellen, dass das kroatische Recht keine solchen konform auslegbaren Regeln enthält, kann daraus zum anderen jedenfalls nicht der Schluss gezogen werden, dass die nationalen Behörden und Gerichte daran gehindert wären, die Anforderungen der Mehrwertsteuerrichtlinie zu beachten und somit den Vorteil aus einem in dieser Richtlinie vorgesehenen Recht im Fall einer missbräuchlichen Praxis zu versagen (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 54).
35 Denn nach ständiger Rechtsprechung kann eine Richtlinie zwar nicht selbst Verpflichtungen eines Einzelnen begründen, so dass sich ein Mitgliedstaat ihm gegenüber nicht auf die Richtlinie als solche berufen kann, die Konstellation, auf die sich diese Rechtsprechung bezieht, erfasst aber nicht den Fall, dass ein Recht infolge einer missbräuchlichen Praxis versagt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 55).
36 Eine solche Versagung entspricht dem Grundsatz, auf den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, wonach sich niemand in missbräuchlicher Weise auf Vorschriften des Unionsrechts berufen darf, da die Anwendung dieser Vorschriften nicht so weit gehen kann, dass missbräuchliche Praktiken gedeckt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 56 sowie vom 22. November 2017, Cussens u. a., C-251/16, EU:C:2017:881, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Da missbräuchliche Tätigkeiten kein in der Unionsrechtsordnung vorgesehenes Recht begründen können, bedeutet die Versagung eines sich hier aus der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebenden Vorteils nicht, dass dem Einzelnen nach dieser Richtlinie eine Verpflichtung auferlegt wird, sondern ist die schlichte Folge der Feststellung, dass die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des angestrebten Vorteils, die in dieser Richtlinie in Bezug auf dieses Recht vorgeschrieben sind, in Wirklichkeit nicht erfüllt sind, und daher ist für eine solche Versagung keine spezielle Rechtsgrundlage erforderlich (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 57 sowie vom 22. November 2017, Cussens u. a., C-251/16, EU:C:2017:881, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Somit geht es in diesem Fall vielmehr darum, dass sich der Steuerpflichtige nicht auf ein in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenes Recht berufen kann, wenn die objektiven Voraussetzungen für dessen Kriterien wegen einer missbräuchlichen Praxis, mit welcher der vom Steuerpflichtigen selbst bewirkte Umsatz einhergeht, nicht erfüllt sind (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 58). Demnach müssen die nationalen Behörden und Gerichte im Fall einer missbräuchlichen Praxis, mit der bezweckt wird, in den Genuss der in Art. 287 Nr. 19 Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze zu kommen, die Inanspruchnahme dieser Regelung versagen, auch wenn das nationale Recht keine dahin gehenden spezifischen Bestimmungen enthält (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Dezember 2014, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti u. a., C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 62 und vom 22. November 2017, Cussens u. a., C-251/16, EU:C:2017:881, Rn. 33).
39 Das Urteil vom 5. Juli 2007, Kofoed (C-321/05, EU:C:2007:408), auf das sich UP CAFFE beruft, um gleichwohl die Erforderlichkeit spezifischer nationaler Bestimmungen über den Rechtsmissbrauch geltend zu machen, um die Versagung der Inanspruchnahme der Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze zu begründen, steht dieser Feststellung nicht entgegen. Denn es geht aus den Rn. 38 und 48 jenes Urteils hervor, dass der Gerichtshof nicht über die Anwendungsvoraussetzungen des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken entschieden hat, sondern über die einer speziellen Bestimmung in einer Richtlinie, die es den Mitgliedstaaten erlaubt, die in dieser Richtlinie vorgesehene Steuerbefreiung zu versagen, wenn der betreffende Vorgang als hauptsächlichen Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung hat. Zwar hat der Gerichtshof im Übrigen in Rn. 48 jenes Urteils den Schwerpunkt auf das Vorliegen von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts über Rechtsmissbrauch, Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung gelegt, die richtlinienkonform ausgelegt werden können, diese Rechtsprechung betrifft jedoch die genannte Vorschrift des Sekundärrechts und ist daher nicht auf den allgemeinen Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2017, Cussens u. a. , C-251/16, EU:C:2017:881, Rn. 38).
40 Es ist schließlich hinzuzufügen, dass im Fall von missbräuchlichen Praktiken die betroffenen Umsätze in der Weise neu zu definieren sind, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte, und dass diese Umqualifizierung jedoch nicht über das hinausgehen darf, was erforderlich ist, um die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 92, 94 und 98, vom 22. Dezember 2010, Weald Leasing, C-103/09, EU:C:2010:804, Rn. 48 und 52 sowie vom 22. November 2017, Cussens u. a., C-251/16, EU:C:2017:881, Rn. 46).
41 Der Gerichtshof hat ebenfalls klargestellt, dass die Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer zunächst voraussetzt, dass die Situation bestimmt wird, wie sie ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte, und sodann diese „umqualifizierte“ Situation anhand der einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts und der Mehrwertsteuerrichtlinie beurteilt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2017, Cussens u. a., C-251/16, EU:C:2017:881, Rn. 47).
42 Im vorliegenden Fall implizieren diese Grundsätze zumindest, dass die Gesellschaft, deren Gründung möglicherweise eine missbräuchliche Praxis darstellt, der Mehrwertsteuer unterliegt, die ohne einen solchen Missbrauch anwendbar gewesen wäre, und im Übrigen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, das Recht auf Abzug der im Zusammenhang mit der von ihr ausgeübten Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer hat, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
43 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes des Verbots der missbräuchlichen Praktiken dahin auszulegen ist, dass wenn feststeht, dass die Gründung einer Gesellschaft eine missbräuchliche Praxis darstellt, mit der bezweckt wird, weiterhin in den Genuss der Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze gemäß Art. 287 Nr. 19 dieser Richtlinie für eine Tätigkeit zu kommen, die zuvor im Rahmen dieser Regelung von einer anderen Gesellschaft ausgeübt wurde, diese Richtlinie verlangt, dass die so gegründete Gesellschaft diese Regelung nicht in Anspruch nehmen kann, auch wenn es in der nationalen Rechtsordnung keine spezifischen Bestimmungen gibt, in denen das Verbot solcher missbräuchlicher Praktiken verankert ist.
Kosten
44 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.