EuGH-Schlussanträge: Quellensteuer auf den Bruttobetrag von Dividenden nationalen Ursprungs, die an gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden
GA Wathelet: Schlussanträge vom 7.8.2018 – C-575/17, Sofina SA, Rebelco SA, Sidro SA gegen Ministre de l’Action et des Comptes publics
ECLI:EU:C:2018:650
Volltext BB-Online BBL2018-1941-2
Tenor
In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlägt der GA dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) wie folgt zu antworten:
1. Die Art. 63 und 65 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, nach der Dividenden, die an eine defizitäre gebietsfremde Gesellschaft ausgeschüttet werden, durch einen Einbehalt an der Quelle besteuert werden, während bei vergleichbaren gebietsansässigen Gesellschaften die Dividenden inländischen Ursprungs nicht besteuert werden, sofern sie defizitär bleiben.
2. Eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs, die sich aus einer nationalen Regelung ergibt, nach der nur bei Gebietsfremden der Abzug der mit dem Bezug von Dividenden in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Aufwendungen ausgeschlossen ist, kann weder durch die unterschiedlichen Steuersätze bei der Besteuerung der Gebietsansässigen nach allgemeinem Steuerrecht in einem späteren Steuerjahr und bei der Quellensteuer auf Dividenden, die an Gebietsfremde ausgeschüttet werden, gerechtfertigt werden noch durch die Notwendigkeit, die Effizienz der Steuererhebung zu gewährleisten.
Aus den Gründen
I. Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich auf die Auslegung der Art. 63 und 65 AEUV im Hinblick auf die französischen Rechtsvorschriften, die für Dividenden, die von einer gebietsansässigen Gesellschaft an defizitäre gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden, eine anhand des Bruttobetrags berechnete Quellensteuer vorsehen, während die einer defizitären gebietsansässigen Gesellschaft gezahlten Dividenden erst später einer Besteuerung auf Nettobasis nach dem allgemeinen Steuerrecht unterliegen, falls sie wieder Gewinn erzielt.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Französisches Recht
2. In Art. 38 des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) heißt es:
„…[D]er steuerpflichtige Gewinn [ist] der Nettogewinn, der anhand der Gesamtergebnisse der von den Unternehmen getätigten Umsätze jeder Art, u. a. einschließlich der Veräußerungen von Vermögenswerten, sei es während oder am Ende der Nutzungsdauer, ermittelt wird“.
3. In Art. 39-1 CGI heißt es weiter:
„Der Nettogewinn wird unter Abzug aller Aufwendungen ermittelt …“
4. Art. 119bis Abs. 2 CGI sieht vor, dass von den in den Art. 108 bis 117bis CGI angeführten Einkünften, darunter Dividenden, eine Quellensteuer in der in Art. 187 Abs. 1 festgelegten Höhe einbehalten wird, wenn sie an Personen ausgeschüttet werden, die ihren steuerlichen Wohnsitz oder ihren Sitz nicht in Frankreich haben.
5. Nach der auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbaren Fassung von Art. 187-1 CGI beträgt der Quellensteuersatz 25 %.
6. In seiner bis zum 21. September 2011 anwendbaren Fassung hieß es in Art. 209-1 CGI:
„… [I]n einem Steuerjahr erlittene Verluste [werden] als Aufwendungen des folgenden Steuerjahrs angesehen und von dem in diesem Steuerjahr erzielten Gewinn abgezogen. Reicht der Gewinn nicht aus, um den Abzug vollständig vornehmen zu können, wird der verbleibende Verlust auf die nachfolgenden Steuerjahre übertragen.“
7. Seit dem 21. September 2011 hat Art. 209-1 CGI folgenden Wortlaut:
„… [I]n einem Steuerjahr erlittene Verluste [werden] als Aufwendungen des folgenden Steuerjahrs angesehen und von dem in diesem Steuerjahr erzielten Gewinn bis zu einem Höchstbetrag von 1 Mio. [Euro] zuzüglich 60 % des Betrags, der dem steuerpflichtigen Gewinn dieses Steuerjahrs entspricht und den erstgenannten Betrag übersteigt, abgezogen. Reicht der Gewinn nicht aus, um den Abzug vollständig vornehmen zu können, wird der verbleibende Verlust unter den gleichen Bedingungen auf die nachfolgenden Steuerjahre übertragen. Gleiches gilt für den Teil des Verlusts, der nach Satz 1 dieses Absatzes nicht in Abzug gebracht werden kann.“
B. Steuerabkommen zwischen Frankreich und Belgien vom 10. März 1964
8. Art. 15 des am 10. März 1964 zwischen Frankreich und Belgien geschlossenen Steuerabkommens in geänderter Fassung (im Folgenden: französisch-belgisches Abkommen) sieht vor:
„(1) Dividenden, die ihren Ursprung in einem Vertragsstaat haben und einer im anderen Vertragsstaat ansässigen Person gezahlt werden, können im anderen Staat besteuert werden.
(2) Diese Dividenden können jedoch vorbehaltlich der Bestimmungen von Absatz 3 in dem Vertragsstaat, in dem die ausschüttende Gesellschaft ansässig ist, nach dem Recht dieses Staates besteuert werden, wobei die Steuer folgende Beträge nicht übersteigen darf:
a) 10 vom Hundert des Bruttobetrags der Dividenden, wenn der Empfänger eine Gesellschaft ist, der mindestens 10 vom Hundert des Kapitals der die Dividenden ausschüttenden Gesellschaft seit Beginn ihres letzten abgeschlossenen Geschäftsjahrs vor der Ausschüttung ausschließlich gehören;
b) 15 vom Hundert des Bruttobetrags der Dividenden in den übrigen Fällen.
Dieser Absatz berührt nicht die Besteuerung der Gesellschaft für die Gewinne, die zur Zahlung der Dividenden dienen.
…“
III. Sachverhalt
9. Die Sofina SA, die Rebelco SA und die Sidro SA sind in Belgien niedergelassene Gesellschaften belgischen Rechts. Sie bezogen von 2008 bis 2011 Dividenden aufgrund ihrer Beteiligungen an französischen Gesellschaften, an denen sie Minderheitsanteile hielten, für die kein Recht auf Inanspruchnahme der Regelung für Muttergesellschaften nach dem CGI und der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten(2) (im Folgenden: Mutter-Tochter-Richtlinie) bestand.
10. Gemäß Art. 119bis CGI in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 des französisch-belgischen Abkommens wurden von diesen Dividenden Quellensteuern in Höhe von 15 % einbehalten.
11. Die betreffenden belgischen Gesellschaften, die die Geschäftsjahre 2008 bis 2011 mit Verlust abgeschlossen hatten, richteten Einsprüche an die französische Steuerverwaltung und beantragten die Erstattung der einbehaltenen Steuern. Da die aus französischen Quellen bezogenen Dividenden einer defizitären Gesellschaft mit Sitz in Frankreich nur dann tatsächlich besteuert werden, wenn sie wieder Gewinn erzielt, sahen sich die betreffenden belgischen Gesellschaften ungünstiger behandelt als ihre französische Pendants.
12. Nach Zurückweisung dieser Einsprüche riefen die betreffenden belgischen Gesellschaften die zuständigen Gerichte an, die ihren Erstattungsklagen weder im ersten Rechtszug noch im Berufungsverfahren stattgaben.
13. Daraufhin legten sie Kassationsbeschwerde beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) ein.
14. Dieses Gericht stellte erstens fest, dass für defizitäre gebietsfremde Gesellschaften, die Dividenden aufgrund ihrer Beteiligungen an französischen Gesellschaften erhielten, die Einbehaltung einer Quellensteuer allein bei ihnen zu einem Liquiditätsnachteil gegenüber defizitären gebietsansässigen Gesellschaften führen könne, die Dividenden aufgrund ihrer Beteiligungen an französischen Gesellschaften erhielten. Es möchte jedoch wissen, ob ein solcher Umstand für sich allein eine Ungleichbehandlung darstellen würde, die für eine Beschränkung von Art. 63 AEUV kennzeichnend ist.
15. Falls die in Rede stehenden Rechtsvorschriften eine solche Beschränkung darstellen, möchte der Conseil d’État (Staatsrat) zweitens wissen, ob die erwähnte Beschränkung in Anbetracht des Ziels dieser Bestimmungen, die Effizienz der Steuererhebung zu gewährleisten, gerechtfertigt sein könnte.
16. Drittens stellt der Conseil d’État (Staatsrat) fest, dass auch die unterschiedlichen Modalitäten der Berechnung der Besteuerungsgrundlage für Dividenden, je nachdem, ob die sie beziehende Gesellschaft gebietsansässig sei oder nicht, eine Beschränkung darstellen könnten. Da die in Art. 119bis CGI vorgesehene Quellensteuer auf den Bruttobetrag der Dividenden erhoben werde, würden die mit dem Bezug der Dividenden als solchem verbundenen Aufwendungen nämlich von der Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Steuer auf Dividenden für eine gebietsansässige Gesellschaft abgezogen, während ein solcher Abzug nicht möglich sei, wenn die Dividenden an eine gebietsfremde Gesellschaft ausgeschüttet würden.
17. Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind die Art. 63 und 65 AEUV dahin auszulegen, dass der Liquiditätsnachteil, der sich aus der Einbehaltung einer Quellensteuer auf Dividenden ergibt, die an defizitäre gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden, während bei gebietsansässigen defizitären Gesellschaften der Betrag der von ihnen bezogenen Dividenden erst in dem Steuerjahr besteuert wird, in dem sie gegebenenfalls wieder Gewinn erzielen, als solcher eine Ungleichbehandlung darstellt, die für eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs kennzeichnend ist?
2. Kann die in der vorstehenden Frage angeführte mögliche Beschränkung des freien Kapitalverkehrs im Hinblick auf die Anforderungen, die sich aus den Art. 63 und 65 AEUV ergeben, als durch die Notwendigkeit, die Effizienz der Steuererhebung zu gewährleisten, gerechtfertigt angesehen werden, da gebietsfremde Gesellschaften nicht der Kontrolle der französischen Finanzverwaltung unterliegen, oder durch das Erfordernis, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren?
3. Falls die Einbehaltung der streitigen Quellensteuer im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr grundsätzlich zulässig ist:
– Stehen diese Bestimmungen der Erhebung einer Quellensteuer auf Dividenden entgegen, die eine gebietsansässige Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige defizitäre Gesellschaft ausschüttet, wenn Letztere ihre Tätigkeit einstellt, ohne wieder Gewinn zu erzielen, während die einer gebietsansässigen Gesellschaft gezahlten Dividenden in dieser Situation tatsächlich nicht besteuert werden?
– Sind diese Bestimmungen dahin auszulegen, dass bei Besteuerungsregeln, die an Gebietsansässige und an Gebietsfremde ausgeschüttete Dividenden unterschiedlich behandeln, die jedem von ihnen hinsichtlich dieser Dividenden auferlegte tatsächliche Steuerlast zu vergleichen ist, so dass eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs, die sich daraus ergibt, dass diese Regeln nur für Gebietsfremde den Abzug von Aufwendungen ausschließen, die unmittelbar mit dem Bezug der Dividenden als solchem zusammenhängen, als durch die unterschiedlichen Steuersätze bei der Besteuerung der Gebietsansässigen nach allgemeinem Steuerrecht in einem nachfolgenden Steuerjahr und bei der Quellensteuer, die von den an Gebietsfremde ausgeschütteten Dividenden einbehalten wird, gerechtfertigt angesehen werden könnte, wenn dieser Unterschied in Anbetracht des entrichteten Steuerbetrags die unterschiedliche Steuerbemessungsgrundlage ausgleicht?
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
18. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 28. September 2017 beim Gerichtshof eingegangen. Sofina, die französische, die belgische, die deutsche, die niederländische und die schwedische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
19. Am 25. Juni 2018 hat eine Sitzung stattgefunden, in der Sofina, die französische, die deutsche und die schwedische Regierung sowie die Kommission mündlich verhandelt haben.
V. Würdigung
A. Vorbemerkungen
20. Das vorlegende Gericht stellt seine Fragen von vornherein unter dem Blickwinkel des freien Kapitalverkehrs sowie der Art. 63 und 65 AEUV, da die belgischen Gesellschaften Sofina, Rebelco und Sidro Dividenden aufgrund von Minderheitsbeteiligungen an französischen Gesellschaften erhielten, die ihnen nicht die Befugnis gaben, entscheidenden Einfluss im Unternehmen auszuüben. Die folgenden Ausführungen wären jedoch genau die gleichen, wenn es um die Niederlassungsfreiheit ginge, da alle in Rede stehenden Dividendenausschüttungen ausschließlich zwischen in Mitgliedstaaten niedergelassenen Gesellschaften stattfanden.
21. Die Fragen des vorlegenden Gerichts zeigen zwei Unterschiede auf, die in den französischen Rechtsvorschriften bei der steuerlichen Behandlung von Dividenden gemacht werden, je nachdem, ob sie von gebietsansässigen Gesellschaften an andere gebietsansässige Gesellschaften oder an gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden:
– Die an defizitäre gebietsansässige Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden werden nur besteuert, wenn sie Gewinn erzielen oder wieder erzielen, während die französischen Rechtsvorschriften eine Quellensteuer auf Dividenden vorsehen, die gebietsansässige Gesellschaften an gebietsfremde Gesellschaften ausschütten, auch wenn Letztere defizitär sind. Erstere werden daher möglicherweise nie besteuert und kommen – im Fall einer Besteuerung – jedenfalls in den Genuss eines Liquiditätsvorteils, da die Quellensteuer auf Dividenden, die an gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden, zwangsläufig vor der Besteuerung der an gebietsansässige Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden anfällt, sei es im Lauf desselben oder eines anderen Steuerjahrs. Diese erste Ungleichbehandlung ist Gegenstand der ersten und der zweiten Vorlagefrage sowie des ersten Teils der dritten Vorlagefrage.
– Die Steuerbemessungsgrundlage der Dividenden unterscheidet sich, weil die Quellensteuer auf Dividenden, die an gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden, auf den Bruttobetrag der Dividenden erhoben wird, während bei Dividenden, die an gebietsansässige Gesellschaften ausgeschüttet werden, der Nettobetrag besteuert wird, da die Aufwendungen für ihren Bezug abgezogen werden, was bei den an gebietsfremde Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden nicht vorgesehen ist. Diese Ungleichbehandlung ist Gegenstand des zweiten Teils der dritten Vorlagefrage.
22. Ich werde somit zunächst auf die erste und die zweite Vorlagefrage sowie den ersten Teil der dritten Vorlagefrage eingehen und dann auf den verbleibenden Teil der letztgenannten Frage.
B. Zur ersten und zur zweiten Vorlagefrage sowie zum ersten Teil der dritten Vorlagefrage
1. Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Besteuerung sogenannter „abfließender“ Dividenden
23. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist reich an Urteilen, in denen die Problematik angesprochen worden ist, dass Dividenden unterschiedlich besteuert werden, je nachdem, ob die ausschüttende gebietsansässige Gesellschaft (beispielsweise eine Tochtergesellschaft) sie an einen gebietsansässigen Anteilseigner (beispielsweise ihre Muttergesellschaft) oder an einen gebietsfremden Anteilseigner gezahlt hat. Im letztgenannten Fall spricht man von „abfließenden Dividenden“ (outgoing dividends).
24. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs kann es, „wenn ein Mitgliedstaat Dividenden, die an gebietsfremde [Steuerpflichtige] gezahlt werden, ungünstiger behandelt als Dividenden, die an gebietsansässige [Steuerpflichtige] gezahlt werden, … in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaften davon abhalten, in dem erstgenannten Mitgliedstaat zu investieren, und stellt damit eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar, die nach Art. 63 AEUV grundsätzlich verboten ist“(3).
25. Sobald ein Mitgliedstaat nicht nur bei den gebietsansässigen, sondern auch bei den gebietsfremden Anteilseignern die Dividenden, die sie von einer gebietsansässigen Gesellschaft beziehen, einseitig oder aufgrund eines Abkommens besteuert, ist die Situation der gebietsfremden Anteilseigner mit derjenigen der gebietsansässigen Anteilseigner vergleichbar(4).
26. Da sich die verschiedenen Anteilseigner somit in einer vergleichbaren Situation befinden, stellen nationale Rechtsvorschriften „eine mit dem [AEU‑]Vertrag unvereinbare diskriminierende Maßnahme dar, [soweit] sie vor[sehen], dass von gebietsansässigen Tochtergesellschaften an [gebietsfremde] Muttergesellschaften ausgeschüttete Dividenden stärker belastet werden als Dividenden gleicher Art, die an [gebietsansässige] Muttergesellschaften ausgeschüttet werden“(5).
27. Dies gilt erst recht, wenn Dividenden, die den Mitgliedstaat nicht verlassen, später besteuert werden als abfließende Dividenden oder wenn sie vollständig von der Steuer befreit sind, während abfließende Dividenden besteuert werden(6).
28. Der Sitzstaat der ausschüttenden Gesellschaft erhebt sehr häufig eine Quellensteuer auf abfließende Dividenden. Diese – ausschließlich auf die an gebietsfremde Anteilseigner ausgeschütteten Dividenden erhobene – Quellensteuer stellt allerdings als solche keine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar, weil es sich lediglich um eine Erhebungsmodalität der Steuer handelt(7). Entscheidend ist der Unterschied in der gesamten steuerlichen Behandlung der beiden Kategorien von Dividenden.
29. In mehreren Rechtssachen hat der Gerichtshof eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs bejaht, obwohl der Mitgliedstaat der ausschüttenden Gesellschaft sowohl auf abfließende Dividenden als auch auf Dividenden, die sein Hoheitsgebiet nicht verließen, eine Quellensteuer erhob. Dies war der Fall in der Rechtssache, in der das Urteil vom 20. Oktober 2011, Kommission/Deutschland (C‑284/09, EU:C:2011:670), ergangen ist. Dort wurde die Quellensteuer auf alle von einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland ausgeschütteten Dividenden erhoben, aber nur die gebietsansässigen Gesellschaften kamen in den Genuss einer Anrechnung der Steuer, wobei der Anrechnungsbetrag sogar erstattet wurde, wenn er die endgültige Einkommensteuer überstieg, während die Quellensteuer bei den gebietsfremden Gesellschaften endgültig erhoben wurde.
30. Dies war auch der Fall in der Rechtssache, in der der Beschluss vom 12. Juli 2012, Tate & Lyle Investments (C‑384/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:463), ergangen ist. Dort zahlte der gebietsansässige Dividendenempfänger eine anrechenbare und erstattungsfähige Quellensteuer, während die Quellensteuer für Gebietsfremde endgültig war.
31. Dies war ferner der Fall in der Rechtssache, in der das Urteil vom 17. September 2015, Miljoen u. a. (C‑10/14, C‑14/14 und C‑17/14, EU:C:2015:608), ergangen ist. Dort war für gebietsansässige Steuerpflichtige ein Verfahren zum Abzug oder zur Erstattung der Quellensteuer vorgesehen, während sie für gebietsfremde Steuerpflichtige eine endgültige Steuer darstellte.
32. Mit anderen Worten sind, wie der Gerichtshof im Urteil vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a. (C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286), entschieden hat, „die Art. 63 AEUV und 65 AEUV dahin auszulegen …, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Dividenden inländischer Herkunft einer Quellensteuer unterwirft, wenn sie von in einem anderen Staat ansässigen [Steuerpflichtigen] bezogen werden, während solche Dividenden, die von im ersten Staat ansässigen [Steuerpflichtigen] bezogen werden, von der Steuer befreit sind“(8).
2. Anwendung dieser Rechtsprechung auf die Ausgangsrechtssache
a) Zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Kapitalverkehrs
33. Nach der in der Ausgangsrechtssache in Rede stehenden französischen Regelung werden Dividenden, die an defizitäre gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden, durch einen Einbehalt an der Quelle besteuert, während Dividenden, die an gebietsansässige Gesellschaften ausgeschüttet werden, nur unter Umständen und jedenfalls später – in dem Steuerjahr, in dem diese Gesellschaften wieder Gewinne erzielen – über die Körperschaftsteuer besteuert werden.
34. Auch wenn Dividenden, die an defizitäre gebietsansässige Gesellschaften ausgeschüttet werden, formal nicht von der Steuer befreit sind, werden sie nur unter Umständen, jedenfalls später und vielleicht nie besteuert, da die gebietsansässige Gesellschaft, die sie bezieht, möglicherweise nie Gewinn erzielen oder gar ihre Tätigkeit einstellen wird(9).
35. Im vorliegenden Fall liegt daher eine offenkundig ungünstigere Besteuerung der an defizitäre gebietsfremde Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden vor, da Dividenden, die an gebietsansässige Gesellschaften ausgeschüttet werden, möglicherweise nie und – falls doch – erst später besteuert werden, was einen Liquiditätsnachteil für die gebietsfremden defizitären Gesellschaften mit sich bringt, wobei das vorlegende Gericht den letztgenannten Fall in seiner ersten Frage ausdrücklich anführt.
36. Im Ergebnis bin ich in diesem Punkt der Ansicht, dass ein System, das durch eine mitgliedstaatliche Regelung wie die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehende geschaffen wird, eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellt, die Art. 63 AEUV grundsätzlich verbietet.
b) Zur Vergleichbarkeit der Situationen und zum Vorliegen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses, der geeignet ist, die Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zu rechtfertigen
37. Gemäß Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV berührt Art. 63 AEUV nicht das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln.
38. Wie ich in Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig: Sobald ein Mitgliedstaat nicht nur bei den gebietsansässigen, sondern auch bei den gebietsfremden Anteilseignern die Dividenden, die sie von einer gebietsansässigen Gesellschaft beziehen, besteuert, ist die Situation der gebietsfremden Anteilseigner mit derjenigen der gebietsansässigen Anteilseigner vergleichbar.
39. Die Ungleichbehandlung, die durch die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehende französische Regelung geschaffen wird, kann somit „nicht durch einen erheblichen in der Situation begründeten Unterschied gerechtfertigt werden“(10).
c) Zur Rechtfertigung
40. Die französische Regierung hat vor dem Gerichtshof zwei Rechtfertigungsgründe geltend gemacht, und zwar die Notwendigkeit, eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren, und die Notwendigkeit, die Effizienz der Steuererhebung zu gewährleisten.
41. Zwar kann die Notwendigkeit, eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren, u. a. dann anerkannt werden, wenn mit der betreffenden Regelung Verhaltensweisen verhindert werden sollen, die geeignet sind, das Recht eines Mitgliedstaats auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten zu gefährden(11), doch ist, da die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehende französische Regelung zu einer Besteuerung abfließender Dividenden führt, die ungünstiger ist als bei Dividenden, die an Gebietsansässige ausgeschüttet werden (zumindest in Form eines Liquiditätsnachteils), zunächst hervorzuheben, dass die französische Regierung nicht erläutert, inwiefern eine solche Besteuerung notwendig ist, um eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen, obwohl sich dieses Ziel mit nichtdiskriminierenden Maßnahmen erreichen lässt, ewa mit der Erhebung einer Quellensteuer sowohl auf Dividenden, die an Gebietsansässige ausgeschüttet werden, als auch auf Dividenden, die an Gebietsfremde ausgeschüttet werden.
42. Da die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehende französische Regelung zur Steuerbefreiung der an gebietsansässige Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden führen kann, ist ferner darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat, der sich dafür entschieden hat, gebietsansässige Empfänger von Dividenden inländischer Herkunft nicht zu besteuern, sich nicht auf die Notwendigkeit einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten berufen kann, um die Besteuerung gebietsfremder Bezieher derartiger Einkünfte zu rechtfertigen(12).
43. Schließlich ist festzustellen, dass die französische Regierung von ihrer Befugnis Gebrauch gemacht hat, Dividenden zu besteuern, die an gebietsfremde Gesellschaften – die im Übrigen keinerlei Möglichkeit hatten, eine andere, für sie günstigere nationale Regelung zur Besteuerung dieser Dividenden zu wählen – ausgeschüttet werden.
44. Die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehende französische Regelung kann auch nicht mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Effizienz der Steuererhebung zu gewährleisten, da dieser Rechtfertigungsgrund keine Besteuerung rechtfertigen kann, die im Wesentlichen nur Gebietsfremde trifft(13).
45. Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste und die zweite Vorlagefrage sowie den ersten Teil der dritten Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 63 und 65 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, nach der Dividenden, die an eine defizitäre gebietsfremde Gesellschaft ausgeschüttet werden, durch einen Einbehalt an der Quelle besteuert werden, während bei vergleichbaren gebietsansässigen Gesellschaften die Dividenden inländischen Ursprungs nicht besteuert werden, sofern sie defizitär bleiben.
C. Zum zweiten Teil der dritten Vorlagefrage
46. Mit dem zweiten Teil der dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs, die sich aus einer nationalen Regelung ergibt, nach der nur bei Gebietsfremden der Abzug der mit dem Bezug von Dividenden in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Aufwendungen ausgeschlossen ist, unter Berücksichtigung der tatsächlichen steuerlichen Belastung von Dividenden, die an Gebietsansässige ausgeschüttet werden, und von Dividenden, die an Gebietsfremde ausgeschüttet werden, durch die unterschiedlichen Steuersätze bei der Besteuerung der Gebietsansässigen nach allgemeinem Steuerrecht (33,33 %) in einem späteren Steuerjahr(14) und bei der Quellensteuer (15 %) auf Dividenden, die an Gebietsfremde ausgeschüttet werden, gerechtfertigt sein könnte, wenn dieser Unterschied in Anbetracht des entrichteten Steuerbetrags die unterschiedliche Steuerbemessungsgrundlage ausgleicht.
1. Zur Zulässigkeit
47. Nach ständiger Rechtsprechung gilt für Vorlagefragen eines mitgliedstaatlichen Gerichts, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit, so dass der Gerichtshof ihre Beantwortung nur dann ablehnen kann, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer Unionsvorschrift offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(15).
48. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hält die vorliegende Frage für hypothetisch, da die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehenden belgischen Gesellschaften keine Aufwendungen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bezug von Dividenden benannt hätten, die sie im Rahmen der Berechnung des Betrags der Quellensteuer nicht hätten abziehen dürfen. Der zweite Teil der dritten Frage sei daher für die Entscheidung des vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits unerheblich.
49. In der mündlichen Verhandlung hat Sofina vorgetragen, sie selbst, Rebelco und Sidro hätten für sämtliche Aufwendungen im Zusammenhang mit ihren Portfolioverwaltungstätigkeiten, nämlich alle erforderlichen Aufwendungen für den Erwerb, die Erhaltung und die Verwaltung ihrer Beteiligungen an französischen Gesellschaften, sowie für alle sich aus dem Halten dieser Beteiligungen zwangsläufig ergebenden Belastungen in der Tat einen Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage für Dividenden beantragt.
50. Da ein Abzug beantragt wurde, ist der zweite Teil der dritten Vorlagefrage meines Erachtens entscheidungserheblich.
51. Es obliegt jedoch dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob es sich bei den Aufwendungen, deren Abzug beantragt wurde, um Aufwendungen handelt, die für gebietsansässige Gesellschaften, die Dividenden inländischen Ursprungs beziehen, abzugsfähig sind(16), bzw. um solche, die mit dem Bezug der in der Ausgangsrechtssache in Rede stehenden Einkünfte als solchem in unmittelbarem Zusammenhang stehen(17).
2. Zur Beantwortung der Frage
a) Zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Kapitalverkehrs
52. Wie die Kommission ausführt, geht das vorlegende Gericht zutreffend davon aus, dass die Weigerung, den Abzug der mit dem Bezug der abfließenden Dividenden in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Aufwendungen zuzulassen, während ein solcher Abzug bei Dividenden, die an gebietsansässige Gesellschaften ausgeschüttet werden, möglich ist, eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellt(18). Eine solche unterschiedliche Behandlung ist nämlich geeignet, in anderen Mitgliedstaaten ansässige Gesellschaften von Investitionen in französische Gesellschaften abzuhalten.
b) Zur Rechtfertigung
1) Zur Vergleichbarkeit der Situationen
53. Festzustellen ist, dass „der Gerichtshof … bereits entschieden hat, dass sich Gebietsansässige und Gebietsfremde in Bezug auf Betriebsausgaben, die unmittelbar mit einer Tätigkeit zusammenhängen, aus der die in einem Mitgliedstaat zu versteuernden Einkünfte erzielt wurden, in einer vergleichbaren Lage befinden“(19).
54. Wie er dazu ausgeführt hat, wäre, wenn die auf Gebietsansässige angewandte Besteuerungstechnik den Abzug von Ausgaben erlaubt, die unmittelbar mit dem Bezug der Dividenden zusammenhängen, „die Berücksichtigung derartiger Ausgaben auch [Gebietsfremden] einzuräumen“(20).
55. In diesem Kontext kann eine solche Beschränkung des freien Kapitalverkehrs „nicht mit dem Umstand gerechtfertigt werden …, dass [Gebietsfremde] einem niedrigeren Steuersatz als [Gebietsansässige] unterliegen“(21). Daher ist es unnötig, die tatsächliche steuerliche Belastung von Dividenden, die an Gebietsansässige ausgeschüttet werden, mit der von Dividenden zu vergleichen, die an Gebietsfremde ausgeschüttet werden. Denn auch wenn der Steuersatz für Gebietsfremde niedriger ist als der Satz für Gebietsansässige, ist die Höhe der für Gebietsansässige abzugsfähigen Aufwendungen ungewiss, und nichts deutet darauf hin, dass sie der Differenz bei der Besteuerung von Gebietsansässigen und von Gebietsfremden entspräche.
2) Zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses
56. Die französische Regierung trägt vor, die Besteuerung von Dividenden, die an gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet würden, anhand ihres Bruttobetrags, ohne dass die mit ihrem Bezug in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Aufwendungen abgezogen werden könnten (anders als bei den einer gebietsansässigen Gesellschaft gezahlten, anhand ihres Nettobetrags besteuerten Dividenden), sei aufgrund der Notwendigkeit gerechtfertigt, die Effizienz der Steuererhebung zu gewährleisten(22).
57. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar entschieden hat, dass ein solches Ziel einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der eine durch eine mitgliedstaatliche Steuerregelung geschaffene Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen kann(23). Die Anwendung der Beschränkung muss allerdings geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist(24). Diese Grundsätze sind offensichtlich auf die vorliegende Rechtssache, die den freien Kapitalverkehr betrifft, übertragbar.
58. Im vorliegenden Fall trägt die französische Regierung unter Berufung auf die Rn. 46 und 47 des Urteils vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765), vor, die Weigerung, den Abzug der Aufwendungen zuzulassen, sei als inhärenter Bestandteil der Quellensteuerregelung anzusehen, die darauf abziele, sowohl die Arbeit der Steuerverwaltung des Quellenmitgliedstaats zu vereinfachen als auch den gebietsfremden Steuerpflichtigen zu entlasten. Dabei werde die Steuerverwaltung von der Aufgabe entbunden, bei dem Gebietsfremden Steuern zu erheben, und für ihn entfalle jede Pflicht zur Zusammenarbeit, so dass er sich nicht mit dem französischen Steuersystem vertraut machen müsse, um bei der französischen Steuerverwaltung eine Steuererklärung für seine in Frankreich erzielten Einkünfte abgeben zu können. Der Abzug der Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Bezug der Dividenden stünde schließlich im Widerspruch zu der mit der Quellensteuerregelung angestrebten Vereinfachung, da die Quellensteuer bei der ausschüttenden Gesellschaft erhoben werde, die nicht wissen könne, welche Aufwendungen dem Gebietsfremden im Zusammenhang mit dem Bezug der Dividenden entstanden seien.
59. Dieses Vorbringen kann meiner Ansicht nach keinen Erfolg haben.
60. Erstens betraf die Rechtssache, in der das Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765), ergangen ist – abgesehen davon, dass dieses Urteil von den Urteilen vom 18. März 2010, Gielen (C‑440/08, EU:C:2010:148), und vom 28. Februar 2013, Beker und Beker (C‑168/11, EU:C:2013:117), abwich, in denen die Tatsache, dass eine nationale Regelung gebietsfremden Steuerpflichtigen auf Antrag ein alternatives und mit dem Unionsrecht vereinbares Steuersystem bot, nicht als Rechtfertigung für eine Diskriminierung anerkannt wurde – einen ganz anderen Sachverhalt als den hier in Rede stehenden(25).
61. In der Rechtssache, in der das Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765), ergangen ist, ging es um ein schwedisches Gesetz, das dazu diente, die im Urteil vom 1. Juli 2004, Wallentin (C‑169/03, EU:C:2004:403), festgestellte Beschränkung zulasten gebietsfremder Steuerpflichtiger zu beseitigen, indem ihnen die Möglichkeit eingeräumt wurde, entweder die für Gebietsansässige geschaffene normale Besteuerungsregelung oder die für Gebietsfremde bestimmte Quellensteuerregelung zu wählen.
62. Im Anschluss an die Feststellung, dass die Quellensteuerregelung für Gebietsfremde letztlich insgesamt günstiger war(26), entschied der Gerichtshof, dass „keine gegen Art. 21 AEUV verstoßende Diskriminierung vor[liegt], wenn im Rahmen der Einkommensteuer gebietsfremden Steuerpflichtigen, die ihre Einkünfte überwiegend im Quellenstaat erzielen und sich für die Quellensteuerregelung entschieden haben, die persönlichen, gebietsansässigen Steuerpflichtigen im Rahmen der normalen Besteuerungsregelung gewährten Freibeträge versagt werden, sofern die gebietsfremden Steuerpflichtigen nicht einer insgesamt höheren Besteuerung unterworfen werden als gebietsansässige Steuerpflichtige und ihnen gleichgestellte Personen, deren Situation mit der ihren vergleichbar ist“(27).
63. Meiner Meinung nach sollte an der Rechtsprechung in den Urteilen vom 18. März 2010, Gielen (C‑440/08, EU:C:2010:148), und vom 28. Februar 2013, Beker und Beker (C‑168/11, EU:C:2013:117), festgehalten werden. Darüber hinaus erscheinen mir die Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765), anfechtbar, da die Frage, ob eine Diskriminierung vorliegt, nicht vom Gesamtergebnis für den Steuerpflichtigen abhängt und „eine unterschiedliche Behandlung dieser beiden Gruppen von Steuerpflichtigen als Diskriminierung im Sinne des [AEU‑]Vertrags angesehen werden [kann], wenn kein objektiver Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Steuerpflichtigen besteht, der eine solche unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnte“(28).
64. Im Übrigen dürfte der vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765), eingenommene Standpunkt vermutlich auf die Besorgnis zurückzuführen gewesen sein, einem gebietsfremden Steuerpflichtigen nicht zu gestatten, sich die „Rosinen herauszupicken“, d. h. die günstigsten Elemente der beiden gesonderten Steuerregelungen für sich zu beanspruchen. Wenn sich der Gerichtshof somit auf den Umstand gestützt hat, dass die für Gebietsfremde geltende Steuerregelung insgesamt günstiger war als die grundsätzlich nur für Gebietsansässige geltende Regelung, dann deshalb, weil das schwedische Recht es dem gebietsfremden Steuerpflichtigen ermöglichte, uneingeschränkt für die auf Gebietsansässige anwendbare Steuerregelung zu optieren(29).
65. Die in der Ausgangsrechtssache in Rede stehende französische Regelung lässt Gebietsfremden jedoch keine Wahl. Wenn Gebietsfremde verlangen, wie Gebietsansässige die mit dem Bezug von Dividenden in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Aufwendungen abziehen zu können, betreiben sie daher kein „Rosinenpicken“, sondern streben eine Gleichbehandlung an.
66. Zweitens ist es für die französische Steuerverwaltung zwar mit Verwaltungsaufwand verbunden, wenn Gebietsfremde mit dem Bezug von Dividenden in unmittelbarem Zusammenhang stehende Aufwendungen abziehen; dies gilt aber entsprechend auch für Gebietsansässige(30).
67. Drittens obliegt, worauf der Gerichtshof in Rn. 43 seines Urteils vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549), hingewiesen hat, dem gebietsfremden Steuerpflichtigen, der Dividenden bezieht, „die Entscheidung, ob er es für opportun erachtet, Mittel in die Erstellung und Übersetzung von Dokumenten zu investieren, die die Richtigkeit und die tatsächliche Höhe der Betriebsausgaben, deren Abzug er beantragt, darlegen sollen“.
68. Viertens schließlich hat der Gerichtshof – auch wenn ich einräume, dass es nicht sehr effizient wäre, die Dividenden ausschüttende Gesellschaft aufzufordern, die mit dem Bezug der Dividenden durch gebietsfremde Steuerpflichtige in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Aufwendungen abzuziehen – bereits entschieden, dass das Abzugsrecht nach Erhebung der Quellensteuer in Form der Rückerstattung eines Bruchteils der abgezogenen Steuer gewährt werden kann(31).
69. Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf den zweiten Teil der dritten Vorlagefrage zu antworten, dass eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs, die sich aus einer nationalen Regelung wie der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden ergibt, nach der nur bei Gebietsfremden der Abzug der mit dem Bezug von Dividenden in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Aufwendungen ausgeschlossen ist, weder durch die unterschiedlichen Steuersätze bei der Besteuerung der Gebietsansässigen nach allgemeinem Steuerrecht in einem späteren Steuerjahr und bei der Quellensteuer auf Dividenden, die an Gebietsfremde ausgeschüttet werden, gerechtfertigt werden kann noch durch die Notwendigkeit, die Effizienz der Steuererhebung zu gewährleisten.
VI. Ergebnis
…
Originalsprache: Französisch.
ABl. 2011, L 345, S. 8.
Urteil vom 2. Juni 2016, Pensioenfonds Metaal en Techniek (C‑252/14, EU:C:2016:402, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Vgl. Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C‑374/04, EU:C:2006:773, Rn. 68), vom 14. Dezember 2006, Denkavit Internationaal und Denkavit France (C‑170/05, EU:C:2006:783, Rn. 35), vom 8. November 2007, Amurta (C‑379/05, EU:C:2007:655, Rn. 38), vom 20. Mai 2008, Orange European Smallcap Fund (C‑194/06, EU:C:2008:289, Rn. 78 und 79), und vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a. (C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286, Rn. 44).
Urteil vom 14. Dezember 2006, Denkavit Internationaal und Denkavit France (C‑170/05, EU:C:2006:783, Rn. 39).
Vgl. Urteile vom 8. November 2007, Amurta (C‑379/05, EU:C:2007:655, Rn. 61), und vom 18. Juni 2009, Aberdeen Property Fininvest Alpha (C‑303/07, EU:C:2009:377, Rn. 76).
Vgl. Urteile vom 22. Dezember 2008, Truck Center (C‑282/07, EU:C:2008:762, Rn. 38 bis 50), und vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a. (C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286, Rn. 43).
Rn. 55 dieses Urteils (Hervorhebung nur hier).
Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass sich, auch wenn die der Muttergesellschaft zugeflossenen Dividenden im Steuerjahr ihrer Ausschüttung nicht der Steuer unterliegen, die „Verminderung der Verluste der Muttergesellschaft [in Höhe der zugeflossenen Dividenden] … dahin gehend auswirken kann, dass diese Dividenden in späteren Steuerjahren indirekt bei der Muttergesellschaft besteuert werden, wenn ihr Betriebsergebnis positiv ist“ (vgl. Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C‑138/07, EU:C:2009:82, Rn. 40). Als der Gerichtshof anerkannte, dass es eine Besteuerungsmöglichkeit in einem späteren Veranlagungsjahr gibt, hat er jedoch eine ganz andere Problematik behandelt, und zwar die einer möglichen wirtschaftlichen Doppelbesteuerung von Dividenden, die von einer gebietsfremden Gesellschaft an eine gebietsansässige Gesellschaft ausgeschüttet und bereits bei ihrer Ausschüttung besteuert wurden (vgl. Urteil vom 10. Februar 2011, Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen, C‑436/08 und C‑437/08, EU:C:2011:61, Rn. 158). Eine solche Möglichkeit ist als Verstoß gegen die Mutter-Tochter-Richtlinie angesehen worden.
Urteil vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a. (C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286, Rn. 44).
Vgl. Urteil vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a. (C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Vgl. Urteil vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a. (C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Vgl. entsprechend Urteil vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a. (C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286, Rn. 49).
Ich erinnere daran, dass möglicherweise überhaupt keine Besteuerung erfolgt.
Vgl. Urteile vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25).
Vgl. Urteile vom 31. März 2011, Schröder (C‑450/09, EU:C:2011:198, Rn. 40), vom 17. September 2015, Miljoen u. a. (C‑10/14, C‑14/14 und C‑17/14, EU:C:2015:608, Rn. 57), sowie vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549, Rn. 44 und 45).
Vgl. Urteile vom 22. November 2012, Kommission/Deutschland (C‑600/10, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:737, Rn. 20), vom 17. September 2015, Miljoen u. a. (C‑10/14, C‑14/14 und C‑17/14, EU:C:2015:608, Rn. 58 und 59), sowie vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549, Rn. 46).
Vgl. Urteile vom 31. März 2011, Schröder (C‑450/09, EU:C:2011:198, Rn. 40), und vom 17. September 2015, Miljoen u. a. (C‑10/14, C‑14/14 und C‑17/14, EU:C:2015:608, Rn. 57).
Urteil vom 2. Juni 2016, Pensioenfonds Metaal en Techniek (C‑252/14, EU:C:2016:402, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Urteil vom 2. Juni 2016, Pensioenfonds Metaal en Techniek (C‑252/14, EU:C:2016:402, Rn. 65). Vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 12. Juni 2003, Gerritse (C‑234/01, EU:C:2003:340, Rn. 27 und 28), vom 15. Februar 2007, Centro Equestre da Lezíria Grande (C‑345/04, EU:C:2007:96, Rn. 23), vom 8. November 2012, Kommission/Finnland (C‑342/10, EU:C:2012:688, Rn. 37 [dieses Urteil bezieht sich auf Dividenden]), sowie vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549, Rn. 45).
Vgl. Urteil vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549, Rn. 33).
Diese Rechtfertigung ähnelt derjenigen, die an die Notwendigkeit anknüpft, die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen zu gewährleisten – ein zwingender Grund des Allgemeininteresses, den der Gerichtshof häufig in Rechtssachen geprüft hat, in denen es um den freien Kapitalverkehr ging. In Bezug auf Kapitaltransfers zwischen Mitgliedstaaten ist diese Rechtfertigung stets abgelehnt worden, seit die Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (ABl. 1977, L 336, S. 15) in Kraft trat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Januar 2014, Kommission/Belgien, C‑296/12, EU:C:2014:24, Rn. 42 bis 45, und vom 6. Juni 2013, Kommission/Belgien, C‑383/10, EU:C:2013:364, Rn. 50 bis 60). Gleiches gilt nunmehr für die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1).
Vgl. u. a. Urteile vom 3. Oktober 2006, FKP Scorpio Konzertproduktionen (C‑290/04, EU:C:2006:630, Rn. 35 und 36), sowie vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549, Rn. 39).
Vgl. Urteil vom 18. Oktober 2012, X (C‑498/10, EU:C:2012:635, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Vgl. Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765, Rn. 37 bis 40).
Vgl. Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765, Rn. 43).
Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765, Rn. 49).
Vgl. Urteil vom 18. März 2010, Gielen (C‑440/08, EU:C:2010:148, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Vgl. in diesem Sinne Nrn. 40 bis 43 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Hünnebeck (C‑479/14, EU:C:2016:100).
Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549, Rn. 41).
Vgl. Urteil vom 13. Juli 2016, Brisal und KBC Finance Ireland (C‑18/15, EU:C:2016:549, Rn. 42).