EuGH: Präzisierung des Begriffs „missbräuchliche Praxis“ i. S. d. MwSt-RL
EuGH, Urteil vom 17.12.2015 – C-419/14, WebMindLicenses Kft. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Kiemelt Adó- és Vám Főigazgatóság, ECLI:EU:C:2015:832
Tenor
1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass für die Beurteilung, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Lizenzvertrag, der die Verpachtung von Know-how zum Gegenstand hatte, durch das der Betrieb einer Website ermöglicht wurde, über die interaktive audiovisuelle Dienstleistungen erbracht wurden, und der mit einer Gesellschaft geschlossen wurde, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als die lizenzgebende Gesellschaft hat, auf einen Rechtsmissbrauch zurückzuführen war, durch den ausgenutzt werden sollte, dass der auf diese Dienstleistungen anwendbare Mehrwertsteuersatz in diesem anderen Mitgliedstaat niedriger war, die Tatsache, dass der Geschäftsführer und alleinige Anteilsinhaber der lizenzgebenden Gesellschaft der Urheber dieses Know-hows war, die Tatsache, dass diese Person einen Einfluss auf oder eine Kontrolle über die Entwicklung und die Nutzung des Know-hows und die Erbringung der auf diesem Know-how beruhenden Dienstleistungen ausübte, die Tatsache, dass die Verwaltung der Finanztransaktionen, des Personals und der für die Erbringung der Dienstleistungen erforderlichen technischen Mittel von Subunternehmern erledigt wurde, sowie die Gründe, die die lizenzgebende Gesellschaft dazu bewegt haben können, das fragliche Know-how an die in dem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft zu verpachten anstatt es selbst zu nutzen, für sich genommen nicht entscheidend erscheinen.
Das vorlegende Gericht hat sämtliche Umstände des Ausgangsverfahrens zu untersuchen, um zu bestimmen, ob dieser Vertrag eine rein künstliche Gestaltung darstellte, durch die verschleiert wurde, dass die betreffende Dienstleistung tatsächlich nicht von der lizenznehmenden Gesellschaft, sondern in Wirklichkeit von der lizenzgebenden Gesellschaft erbracht wurde, wobei es insbesondere ermitteln muss, ob die Errichtung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit oder der festen Niederlassung der lizenznehmenden Gesellschaft nicht den Tatsachen entsprach oder ob diese Gesellschaft für die Ausübung der fraglichen wirtschaftlichen Tätigkeit keine geeignete Struktur in Form von Geschäftsräumen, Personal und technischen Mitteln aufwies oder ob sie diese wirtschaftliche Tätigkeit nicht in eigenem Namen und auf eigene Rechnung, in Eigenverantwortung und auf eigenes Risiko ausübte.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass im Fall der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis, die dazu geführt hat, dass als Ort einer Dienstleistung ein anderer Mitgliedstaat bestimmt wurde als der, der ohne diese missbräuchliche Praxis bestimmt worden wäre, die Tatsache, dass die Mehrwertsteuer in dem anderen Staat gemäß dessen Rechtsvorschriften entrichtet wurde, einer Nacherhebung der Mehrwertsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem diese Dienstleistung tatsächlich erbracht wurde, nicht entgegensteht.
3. Die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer ist dahin auszulegen, dass die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats, die prüft, ob für Leistungen, für die in anderen Mitgliedstaaten bereits Mehrwertsteuer entrichtet worden ist, Mehrwertsteuer verlangt werden kann, dann verpflichtet ist, an die Steuerbehörden dieser anderen Mitgliedstaaten ein Auskunftsersuchen zu richten, wenn ein solches Ersuchen nützlich oder sogar unverzichtbar ist, um festzustellen, dass in dem erstgenannten Mitgliedstaat Mehrwertsteuer verlangt werden kann.
4. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es dem, dass die Steuerbehörde bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV sowie Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zum Nachweis des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ohne Wissen des Steuerpflichtigen z. B. durch eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und eine Beschlagnahme von E-Mails erlangt wurden, nicht entgegensteht, sofern durch die Erlangung dieser Beweise im Rahmen des Strafverfahrens und ihre Verwendung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nicht die durch das Unionsrecht garantierten Rechte verletzt werden.
Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens hat das Gericht, das die Rechtmäßigkeit eines auf diese Beweise gestützten Bescheids über eine Mehrwertsteuernacherhebung prüft, nach Art. 7, Art. 47 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum einen zu überprüfen, ob es sich bei der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und der Beschlagnahme von E‑Mails um gesetzlich vorgesehene und im Rahmen des Strafverfahrens erforderliche Untersuchungsmaßnahmen handelte, und zum anderen, ob die Verwendung der durch diese Maßnahmen erlangten Beweise durch die Steuerbehörde ebenfalls gesetzlich vorgesehen und erforderlich war. Außerdem hat es zu überprüfen, ob dem Steuerpflichtigen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens gemäß dem allgemeinen Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte Zugang und rechtliches Gehör zu diesen Beweisen gewährt wurde. Stellt es fest, dass dies nicht der Fall war oder dass bei der Erlangung dieser Beweise im Rahmen des Strafverfahrens oder deren Verwendung im Verwaltungsverfahren gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen wurde, hat es diese Beweise zurückzuweisen und den betreffenden Bescheid aufzuheben, wenn er deswegen keine Grundlage hat. Diese Beweise sind auch dann zurückzuweisen, wenn das genannte Gericht nicht befugt ist, nachzuprüfen, ob sie im Rahmen des Strafverfahrens im Einklang mit dem Unionsrecht erlangt wurden, oder sich nicht zumindest aufgrund einer von einem Strafgericht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens bereits ausgeübten Nachprüfung vergewissern kann, dass sie im Einklang mit dem Unionsrecht erlangt wurden.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 24 Abs. 1, Art. 43 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. L 268, S. 1), von Art. 4 Abs. 3 EUV, der Art. 49, 56 und 325 AEUV sowie der Art. 7, 8, 41, 47, 48, 51 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der WebMindLicenses Kft. (im Folgenden: WML) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Kiemelt Adó- és Vám Főigazgatóság (Nationale Steuer- und Zollverwaltung – Hauptdirektion für Großsteuerzahler, im Folgenden: nationale Steuer- und Zollverwaltung) wegen einer Entscheidung dieser Behörde, mit der die Zahlung verschiedener Beträge als Steuer für die Jahre 2009 bis 2011 samt einer Geldbuße und eines Säumniszuschlags angeordnet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer.
4 Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
5 Nach Art. 24 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Dienstleistung“ jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.
6 In ihrer vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2009 geltenden Fassung sah die Mehrwertsteuerrichtlinie in ihrem Art. 43 vor:
„Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort.“
7 In ihrer durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie bezüglich des Ortes der Dienstleistung (ABl. L 44, S. 11) geänderten Fassung, die seit dem 1. Januar 2010 in Kraft ist, bestimmt die Mehrwertsteuerrichtlinie in ihrem Art. 45:
„Als Ort einer Dienstleistung an einen Nichtsteuerpflichtigen gilt der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch von der festen Niederlassung des Dienstleistungserbringers, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, aus erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Dienstleistungserbringers.“
8 Art. 56 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmte in ihrer vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2009 geltenden Fassung:
„(1) Als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Dienstleistungsempfänger oder an Steuerpflichtige, die innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Staates des Dienstleistungserbringers ansässig sind, erbracht werden, gilt der Ort, an dem der Dienstleistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort:
…
k) elektronisch erbrachte Dienstleistungen, unter anderem die in Anhang II genannten Dienstleistungen;
…“
9 Der erwähnte Anhang II („Exemplarisches Verzeichnis elektronisch erbrachter Dienstleistungen im Sinne des Artikels 56 Absatz 1 Buchstabe k“) nennt u. a. „Bereitstellung von Websites, Webhosting, Fernwartung von Programmen und Ausrüstungen“ sowie „Bereitstellung von Bildern, Texten und Informationen sowie Bereitstellung von Datenbanken“.
10 Art. 59 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht in seiner durch die Richtlinie 2008/8 geänderten Fassung vor:
„Als Ort der folgenden Dienstleistungen an einen Nichtsteuerpflichtigen, der außerhalb der Gemeinschaft ansässig ist oder seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort außerhalb der Gemeinschaft hat, gilt der Ort, an dem dieser Nichtsteuerpflichtige ansässig ist oder seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat:
…
k) elektronisch erbrachte Dienstleistungen, insbesondere die in Anhang II genannten Dienstleistungen.
…“
11 Art. 250 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.“
12 Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
…“
13 Der siebte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 904/2010 lautet:
„Für die Erhebung der geschuldeten Steuer sollten die Mitgliedstaaten kooperieren, um die richtige Festsetzung der Mehrwertsteuer sicherzustellen. Daher müssen sie nicht nur die richtige Erhebung der geschuldeten Steuer in ihrem eigenen Hoheitsgebiet kontrollieren, sondern sollten auch anderen Mitgliedstaaten Amtshilfe gewähren, um die richtige Erhebung der Steuer sicherzustellen, die im Zusammenhang mit einer in ihrem Hoheitsgebiet erfolgten Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird.“
14 In Art. 1 der Verordnung Nr. 904/2010 heißt es:
„(1) Diese Verordnung regelt die Modalitäten, nach denen die in den Mitgliedstaaten mit der Anwendung der Vorschriften auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer beauftragten zuständigen Behörden untereinander und mit der Kommission zusammenarbeiten, um die Einhaltung dieser Vorschriften zu gewährleisten.
Zu diesem Zweck werden in dieser Verordnung Regeln und Verfahren festgelegt, nach denen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten untereinander zusammenarbeiten und Informationen austauschen, die für die korrekte Festsetzung der Mehrwertsteuer, die Kontrolle der richtigen Anwendung der Mehrwertsteuer insbesondere auf grenzüberschreitende Umsätze sowie die Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs geeignet sind. Es werden insbesondere die Regeln und Verfahren festgelegt, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, diese Informationen elektronisch zu erfassen und auszutauschen.
…“
Ungarisches Recht
15 § 37 des Gesetzes Nr. CXXVII aus dem Jahr 2007 über die Umsatzsteuer (Az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény) sieht Folgendes vor:
„(1) Werden Dienstleistungen an eine steuerpflichtige Person erbracht, ist der Ort der Dienstleistung der Ort, an dem der Dienstleistungsempfänger zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit niedergelassen ist, oder, in Ermangelung einer solchen Niederlassung mit wirtschaftlicher Zielsetzung, der Ort seines Wohnsitzes oder seines gewöhnlichen Aufenthalts.
(2) Werden Dienstleistungen an eine nicht steuerpflichtige Person erbracht, ist der Ort der Dienstleistung der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit niedergelassen ist, oder, in Ermangelung einer solchen Niederlassung mit wirtschaftlicher Zielsetzung, der Ort seines Wohnsitzes oder seines gewöhnlichen Aufenthalts.“
16 § 46 dieses Gesetzes bestimmt:
„(1) Für die von dem vorliegenden Paragrafen erfassten Dienstleistungen ist der Ort der Dienstleistung der Ort, an dem in diesem Kontext der nicht steuerpflichtige Dienstleistungsempfänger niedergelassen ist, oder, in Ermangelung einer solchen Niederlassung, der Ort seines Wohnsitzes oder seines gewöhnlichen Aufenthalts, sofern dieser sich außerhalb des Gemeinschaftsgebiets befindet.
(2) Folgende Dienstleistungen fallen unter diesen Paragrafen:
…
k) elektronisch erbrachte Dienstleistungen.
…“
17 § 50 Abs. 4 bis 6 des Gesetzes Nr. CXL aus dem Jahr 2004 über die allgemeinen Vorschriften für das Verfahren und die Leistungen der Verwaltungsbehörden (A közigazgatási hatósági eljárás és szolgáltatás általános szabályairól szóló 2004. évi CXL. törvény) sieht vor:
„(4) Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens können alle Beweise verwendet werden, die die Aufklärung des Sachverhalts erleichtern können. Beweise sind insbesondere: Erklärungen der Parteien, Urkunden, Zeugenaussagen, Besichtigungsprotokolle, Sachverständigengutachten, bei der Verwaltungskontrolle erstellte Protokolle und Sachbeweise.
(5) Die Verwaltungsbehörde wählt frei die zu verwendenden Beweismittel. Der Verwaltungsbehörde kann gesetzlich auferlegt werden, ihre Entscheidung auf ausschließlich ein Beweismittel zu gründen; außerdem kann ihr mittels Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung für bestimmte Rechtssachen die Verwendung eines bestimmten Beweismittels auferlegt oder von ihr die Einholung der Stellungnahme einer bestimmten Einrichtung verlangt werden.
(6) Die Verwaltungsbehörde beurteilt die Beweise sowohl für sich genommen als auch in ihrer Gesamtheit und stellt entsprechend ihrer Überzeugung, zu der sie auf dieser Grundlage gelangt ist, den Sachverhalt fest.“
18 § 51 des Gesetzes Nr. CXXII aus dem Jahr 2010 über die Steuer- und Zollverwaltung (A Nemzeti Adó- és Vámhivatalról szóló 2010. évi CXXII. törvény) lautet:
„(1) Die Hauptdirektion für Strafsachen [der Steuer- und Zollverwaltung] und die Dienststellen ihrer mittleren Ebene (im Folgenden: ermächtigte Dienststellen) können – in dem durch dieses Gesetz vorgegebenen Rahmen – verdeckt Informationen einholen, um die Begehung einer Straftat, die nach dem Gesetz über das Strafverfahren in die Untersuchungskompetenz der [Steuer- und Zollverwaltung] fällt, vorzubeugen, zu verhindern, aufzudecken, zu unterbrechen, die Identität des Täters festzustellen, ihn zu verhaften, seinen Aufenthaltsort festzustellen und Beweise zu erlangen sowie um die am Strafverfahren teilnehmenden Personen und die für das Verfahren zuständigen Verwaltungsangehörigen sowie die mit der Justiz zusammenarbeitenden Personen zu schützen.
(2) Die Maßnahmen, die auf der Grundlage von Abs. 1 getroffen werden, sowie die Daten der von diesen Maßnahmen betroffenen natürlichen Personen, juristischen Personen und Organisationen ohne Rechtspersönlichkeit können nicht offengelegt werden.
(3) Die ermächtigten Dienststellen sowie, soweit die erhaltenen Daten und die Maßnahme des Sammelns von Informationen als solche betroffen sind, Staatsanwälte und Richter können während der Sammlung dieser Informationen – ohne spezifische Ermächtigung – vom Inhalt der klassifizierten Daten Kenntnis nehmen.“
19 § 97 Abs. 4 bis 6 des Gesetzes Nr. XCII aus dem Jahr 2003 über das Steuerverfahren (Az adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény) bestimmt:
„(4) Die Steuerverwaltung hat während der Kontrolle den Sachverhalt zu ermitteln und zu beweisen, außer in den Fällen, in denen dem Abgabenpflichtigen aufgrund eines Gesetzes die Beweislast obliegt.
(5) Beweismittel und Beweise sind insbesondere: Urkunden, Gutachten, Erklärungen des Abgabenpflichtigen, seines Vertreters, seiner Angestellten oder anderer Abgabenpflichtiger, Zeugenaussagen, Besichtigungen, Testkäufe, verdeckte Testkäufe, Testläufe, Vor-Ort-Bestandskontrollen, Daten anderer Abgabenpflichtiger, Feststellungen aus angeordneten, im Zusammenhang stehenden Kontrollen, Inhalte übermittelter Informationen, elektronische Daten oder Informationen, die aus Registern anderer Verwaltungsbehörden stammen oder öffentlich zugänglich sind.
(6) Bei der Feststellung des Sachverhalts hat die Steuerverwaltung auch die Umstände zugunsten des Abgabenpflichtigen zu ermitteln. Eine nicht bewiesene Tatsache oder ein nicht bewiesener Umstand kann – außer im Schätzverfahren – nicht zum Nachteil des Abgabenpflichtigen verwendet werden.“
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
20 WML ist eine im Jahr 2009 gegründete, in Ungarn eingetragene Handelsgesellschaft, deren Geschäftsführer sämtliche Kapitalanteile hält. Mit Vertrag vom 1. September 2009 erwarb diese Gesellschaft von der Hypodest Patent Development Company, einer Gesellschaft mit Sitz in Portugal, unentgeltlich Know-how, durch das ihr der Betrieb einer Website ermöglicht wurde, über die von natürlichen Personen mit Aufenthalt in aller Welt interaktive audiovisuelle Dienstleistungen im Erotikbereich erbracht wurden (im Folgenden: Know-how von WML). Am selben Tag verpachtete sie dieses Know-how durch einen Lizenzvertrag an die Lalib – Gestão e Investimentos Lda. (im Folgenden: Lalib), eine Gesellschaft mit Sitz auf Madeira (Portugal).
21 Infolge einer Steuerprüfung bei WML betreffend einen Teil des Jahres 2009 sowie die Jahre 2010 und 2011 verfügte die erstinstanzliche Steuerbehörde mit Bescheid vom 8. Oktober 2013 verschiedene Steuernacherhebungen und schrieb dieser Gesellschaft die Zahlung verschiedener Beträge vor, darunter 10 293 457 000 ungarische Forint (HUF) als Mehrwertsteuer, 7 940 528 000 HUF als Geldbuße und 2 985 262 000 HUF als Säumniszuschlag. Als Begründung gab die Behörde an, dass nach den von ihr gesammelten Beweisen die Übertragung des Know-hows von WML an Lalib keinem tatsächlichen wirtschaftlichen Vorgang entspreche, da das Know-how in Wirklichkeit von WML genutzt werde, so dass davon ausgegangen werden müsse, dass die Nutzung des Know-hows im ungarischen Hoheitsgebiet erfolgt sei.
22 Dieser Bescheid wurde von der nationalen Steuer- und Zollverwaltung teilweise abgeändert, die jedoch ebenfalls davon ausging, dass das Know-how von WML nicht tatsächlich von und für Lalib genutzt worden sei und dass WML daher dadurch, dass sie mit Lalib den Lizenzvertrag geschlossen habe, einen Rechtsmissbrauch begangen habe, der auf die Umgehung der ungarischen Steuergesetzgebung gerichtet gewesen sei, die weniger vorteilhaft sei als die portugiesische. Diese Schlussfolgerung wurde u. a. darauf gestützt, dass WML niemals die Absicht gehabt habe, Lalib die Gewinne aus der Nutzung des Know-hows von WML zugutekommen zu lassen, dass enge persönliche Verbindungen zwischen dem Inhaber des Know-hows und den Subunternehmern, die die betreffende Website tatsächlich betrieben hätten, bestünden und dass die portugiesische Gesellschaft vernunftwidrig geführt werde, absichtlich eine verlustbringende Tätigkeit ausübe und über keine autonome Betriebsfähigkeit verfüge.
23 WML erhob Klage gegen die Entscheidung der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, wobei sie rügte, dass Beweise herangezogen worden seien, die ohne ihr Wissen durch Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und eine Beschlagnahme von E-Mails im Rahmen eines parallel geführten Strafverfahrens, zu dem sie keinen Zugang gehabt habe, erlangt worden seien.
24 WML machte zudem geltend, dass die Beteiligung von Lalib an der Nutzung des Know-hows von WML geschäftliche, technische und rechtliche Gründe habe. Die fraglichen gegen Bezahlung über das Internet zugänglichen Dienstleistungen hätten nämlich während des untersuchten Zeitraums nicht von Ungarn aus erbracht werden können, da es dort seinerzeit unmöglich gewesen sei, für solche Dienstleistungen ein Bankkartensystem zu nutzen. WML habe nicht über das Personal, die technischen Kenntnisse, die Mittel, die Verträge und die internationalen Kontakte verfügt, die sie zum Betrieb der Website befähigt hätten. Lalib, Inhaberin der Domainnamen, sei in ihrer Eigenschaft als Inhalteanbieterin zivil- und strafrechtlich für die angebotenen Dienstleistungen verantwortlich gewesen. Deshalb habe der Abschluss des Lizenzvertrags mit Lalib kein steuerliches Ziel gehabt und sei die Mehrwertsteuer ordnungsgemäß in Portugal entrichtet worden. Außerdem habe WML keinen echten Steuervorteil gehabt, da der Unterschied zwischen den Mehrwertsteuersätzen in Ungarn und in Portugal damals nur gering gewesen sei.
25 Unter Bezugnahme auf die Urteile Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (C‑196/04, EU:C:2006:544) und Newey (C‑653/11, EU:C:2013:409) führt das vorlegende Gericht aus, dass es angesichts der Besonderheit der fraglichen über das Internet angebotenen Dienstleistungen wissen möchte, welche Umstände es zu berücksichtigen gelte, um im Hinblick auf die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung zu beurteilen, ob die verwendete vertragliche Konstruktion auf eine missbräuchliche Praxis zurückzuführen sei.
26 Darüber hinaus möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich aus den Zielen der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, dass die Steuerbehörde Beweise sammeln darf, die im Rahmen eines Strafverfahrens – u. a. durch geheime Mittel – erlangt wurden, und diese Beweise zur Begründung einer Verwaltungsentscheidung verwenden darf. Hierzu verweist das vorlegende Gericht auf das Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105) und möchte wissen, welche Grenzen die Charta der institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten setzt.
27 Außerdem werfe das Ausgangsverfahren auch die Frage auf, wie die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden vorzugehen habe, wenn die Mehrwertsteuer bereits in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet worden sei.
28 Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Gericht für Verwaltungs- und Arbeitssachen Budapest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist es im Rahmen der Bestimmung der Person, die die Dienstleistung im Sinne der Mehrwertsteuer erbringt, bei der Prüfung, ob ein Geschäft fiktiv ist, keine tatsächliche wirtschaftliche oder kaufmännische Substanz hat und ausschließlich auf die Erlangung eines Steuervorteils ausgerichtet ist, für die Anwendung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 24 Abs. 1 und Art. 43 der Mehrwertsteuerrichtlinie von Bedeutung, dass es sich in der Situation des Ausgangsverfahrens beim Geschäftsführer und alleinigen Eigentümer der die Lizenz erteilenden Handelsgesellschaft um die natürliche Person handelt, die Urheber des mit der Lizenz übertragenen Know-hows ist?
2. Falls Frage 1 bejaht wird: Ist für die Anwendung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 24 Abs. 1 und Art. 43 der Mehrwertsteuerrichtlinie und die Feststellung, ob eine missbräuchliche Praxis vorliegt, von Bedeutung, dass diese natürliche Person auf die Art der Nutzung durch die die Lizenz erwerbende Handelsgesellschaft und auf deren geschäftliche Entscheidungen informell Einfluss ausübt oder ausüben kann? Kann für diese Auslegung der Umstand von Bedeutung sein, dass der Urheber des Know-hows an geschäftlichen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Erbringung von auf diesem Know-how beruhenden Dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar durch fachliche Beratung sowie Ratschläge zur Entwicklung und zur Nutzung des Know-hows beteiligt ist oder beteiligt sein kann?
3. Spielt es unter den Umständen des Ausgangsverfahrens und unter Berücksichtigung der Ausführungen in Frage 2 für die Bestimmung der Person, die die Dienstleistung im Sinne der Mehrwertsteuer erbringt, neben der Analyse des dieser Dienstleistung zugrunde liegenden Vertrags eine Rolle, dass der Urheber des Know-hows als natürliche Person Einfluss bzw. entscheidenden Einfluss ausübt oder Leitlinien vorgibt, was die Art und Weise der Erbringung der auf dem Know-how beruhenden Dienstleistung betrifft?
4. Falls Frage 3 bejaht wird: Welche Umstände können bei der Bestimmung, wie weit dieser Einfluss und diese Leitlinien gehen, berücksichtigt werden bzw. aufgrund welcher Kriterien kann festgestellt werden, dass ein bestimmender Einfluss auf die Erbringung der Dienstleistung ausgeübt wird und dass die tatsächliche wirtschaftliche Substanz der dieser Dienstleistung zugrunde liegenden Transaktion dem lizenzgebenden Unternehmen zugutekommt?
5. Ist es in der Situation des Ausgangsverfahrens für die Prüfung der Erlangung des Steuervorteils bei der Beurteilung des Verhältnisses zwischen den an dem Geschäft beteiligten Wirtschaftsteilnehmern und Personen von Bedeutung, dass es sich bei den an der beanstandeten, angeblich auf Steuerumgehung gerichteten vertraglichen Transaktion beteiligten Steuerpflichtigen um juristische Personen handelt, wenn die Steuerbehörde des Mitgliedstaats die strategischen und operativen Entscheidungen hinsichtlich der Nutzung einer natürlichen Person zuordnet, und, falls ja, muss berücksichtigt werden, in welchem Mitgliedstaat die natürliche Person diese Entscheidungen getroffen hat? Ist es unter Umständen wie denen des vorliegenden Verfahrens – falls festgestellt werden kann, dass die vertragliche Rechtsstellung der Parteien nicht ausschlaggebend ist – für die Auslegung von Bedeutung, dass die Verwaltung der technischen Mittel, des Personals und der Finanztransaktionen, die für die in Rede stehende internetgestützte Erbringung der Dienstleistung erforderlich sind, durch Subunternehmer erfolgt?
6. Haben, falls festgestellt werden kann, dass die Klauseln des Lizenzvertrags nicht den tatsächlichen wirtschaftlichen Inhalt widerspiegeln, die Neubewertung der Vertragsklauseln und die Wiederherstellung der Situation, die ohne die die missbräuchliche Praxis verkörpernde Transaktion bestanden hätte, auch zur Folge, dass die nationale Steuerbehörde eines Mitgliedstaats den Mitgliedstaat des Ortes der Dienstleistung und damit den Ort der Steuerzahlungspflicht auch dann abweichend bestimmen kann, wenn der Lizenzerwerber im Übrigen seine Steuerzahlungspflicht in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Sitz hat, entsprechend den dort geltenden Rechtsvorschriften erfüllt hat?
7. Sind die Art. 49 AEUV und 56 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer Vertragsgestaltung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, bei der ein in einem Mitgliedstaat beheimatetes steuerpflichtiges Unternehmen mittels eines Lizenzvertrags einem in einem anderen Mitgliedstaat beheimateten steuerpflichtigen Unternehmen das Know-how und das Nutzungsrecht in Bezug auf die Erbringung einer Dienstleistung mit Inhalten für Erwachsene, die auf der Grundlage einer interaktiven internetgestützten Kommunikationstechnologie erfolgt, verpachtet, und eine solche Vertragsgestaltung einen Missbrauch der Niederlassungsfreiheit sowie des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen kann, wenn die Mehrwertsteuerbelastung in dem Mitgliedstaat, in dem das die Lizenz erwerbende Unternehmen ansässig ist, in Bezug auf die übertragene Dienstleistung günstiger ist?
8. Welches Gewicht ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens neben dem mutmaßlich erzielbaren Steuervorteil den geschäftlichen Erwägungen des lizenzgebenden Unternehmens beizumessen und ist es insoweit für die Auslegung insbesondere von Bedeutung, dass es sich bei dem alleinigen Eigentümer und Geschäftsführer der lizenzgebenden Handelsgesellschaft um die natürliche Person handelt, die Urheber des Know-hows ist?
9. Können bei der Prüfung des missbräuchlichen Verhaltens Umstände wie die im Ausgangsverfahren geprüften, z. B. die technischen Gegebenheiten und die Infrastruktur für die Ein- und Durchführung der Dienstleistung, die Gegenstand des beanstandeten Geschäfts ist, oder die vom Lizenzgeber getroffenen Vorkehrungen und dessen Personal zur Erbringung der betreffenden Dienstleistung, berücksichtigt werden und, wenn ja, welches Gewicht ist ihnen beizumessen?
10. Sind im vorliegenden Fall Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 24 Abs. 1, Art. 43 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV dahin auszulegen, dass die nationale Steuerbehörde eines Mitgliedstaats im Interesse der tatsächlichen Erfüllung der die Mitgliedstaaten der Union treffenden Verpflichtung zum wirksamen und genauen Einzug des Gesamtbetrags der Mehrwertsteuer und der Vermeidung von Mindereinnahmen im Haushalt infolge von Steuerhinterziehung und Steuerflucht über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg im Fall einer Dienstleistung zum Zweck der Bestimmung der Person, die diese Dienstleistung erbringt, bei der Beweisaufnahme im steuerrechtlichen Verfahren (Verwaltungsverfahren) berechtigt ist, im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung Daten, Informationen und Beweismittel, wie Abhörprotokolle, die im Verlauf einer geheimen Datensammlung erlangt wurden, die – im Rahmen eines Strafverfahrens vom Ermittlungsorgan der Steuerbehörde – in Bezug auf den Steuerpflichtigen durchgeführt worden war, entgegenzunehmen, diese zu verwenden und (auch) darauf ihre Beurteilung der steuerrechtlichen Folgen zu stützen, und dass das Verwaltungsgericht, das die Entscheidung der nationalen Steuerbehörde eines Mitgliedstaats prüft, diese Aspekte als Beweise – zusammen mit ihrer Rechtmäßigkeit – beurteilen darf?
11. Sind im vorliegenden Fall Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 24 Abs. 1, Art. 43 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV dahin auszulegen, dass im Interesse der tatsächlichen Erfüllung der die Mitgliedstaaten der Union treffenden Verpflichtung zum effektiven und genauen Einzug des Gesamtbetrags der Mehrwertsteuer und der Durchführung der die Mitgliedstaaten treffenden Verpflichtung, zu gewährleisten, dass der Steuerpflichtige die ihm auferlegten Pflichten gebührend beachtet, der den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten eingeräumte Spielraum hinsichtlich der Art und Weise der Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel für die nationale Behörde eines Mitgliedstaats auch das Recht einschließt, die ursprünglich zu Strafverfolgungszwecken erlangten Beweismittel für die Unterbindung steuerumgehenden Verhaltens auch dann zu verwenden, wenn das nationale Recht selbst es nicht zulässt, dass im Verwaltungsverfahren eine geheime Datensammlung zur Unterbindung steuerumgehenden Verhaltens erfolgt, oder die geheime Datensammlung, wenn sie in einem Strafverfahren erfolgt, an Garantien knüpft, die für das Steuerverwaltungsverfahren nicht vorgeschrieben sind, aber im Übrigen für die Verwaltungsbehörde nach nationalem Recht der Grundsatz der freien Beweisführung gilt?
12. Schließt es Art. 8 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) in Verbindung mit Art. 52 Abs. 2 der Charta aus, dass der nationalen Steuerbehörde eines Mitgliedstaats die in den Fragen 10 und 11 dargestellte Befugnis zuerkannt wird, oder kann unter den Umständen des vorliegenden Falles davon ausgegangen werden, dass es im Interesse der Bekämpfung von Steuerumgehung gerechtfertigt ist, im Steuerverwaltungsverfahren die Ergebnisse einer geheimen Datensammlung zum „wirtschaftlichen Wohl des Landes“ für die wirksame Erhebung der Steuer zu verwenden?
13. Hat die nationale Steuerbehörde eines Mitgliedstaats, sofern sich aus den Antworten auf die Fragen 10 bis 12 ergibt, dass sie solche Beweismittel im Verwaltungsverfahren verwenden darf, zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rechts auf eine ordnungsgemäße Verwaltung und des Verteidigungsrechts – aufgrund der Art. 7, 8, 41 und 48 in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta – die uneingeschränkte Verpflichtung, den Steuerpflichtigen im Laufe des Verwaltungsverfahrens anzuhören, ihm Einsicht in die Ergebnisse der herangezogenen geheimen Datensammlung zu gewähren und den Zweck zu beachten, zu dem die in diesen Beweismitteln enthaltenen Daten gewonnen wurden, oder schließt in diesem Kontext der Umstand, dass die geheime Datensammlung ausschließlich zum Zweck der Strafverfolgung vorgenommen wurde, von vornherein die Verwendung dieser Beweismittel aus?
14. Wird, wenn Beweismittel unter Verstoß gegen die Art. 7, 8, 41 und 48 der Charta erlangt und verwendet wurden, im Hinblick auf Art. 47 der Charta dem Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf durch eine nationale Regelung Genüge getan, nach der bei in Steuersachen ergangenen Entscheidungen ein Verstoß gegen das Verfahrensrecht nur dann vor Gericht mit Erfolg gerügt werden und zur Aufhebung der Entscheidung führen kann, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die konkrete Möglichkeit besteht, dass ohne den Verfahrensfehler eine von der angefochtenen Entscheidung abweichende Entscheidung erlassen worden wäre, und der Verfahrensfehler darüber hinaus gleichzeitig die materielle Rechtsposition des Klägers beeinträchtigt, oder müssen die auf diese Weise begangenen Verfahrensfehler in einem weiteren Kontext berücksichtigt werden, unabhängig davon, wie sich der unter Verstoß gegen die Charta begangene Verfahrensfehler auf das Ergebnis des Verfahrens ausgewirkt hat?
15. Verlangt die praktische Wirksamkeit von Art. 47 der Charta, dass in einer Verfahrenssituation wie der hier vorliegenden das Verwaltungsgericht, das die Entscheidung der nationalen Steuerbehörde eines Mitgliedstaats überprüft, nachprüfen kann, ob die Beweismittel, die zur Strafverfolgung durch eine geheime Datensammlung in einem Strafverfahren erhoben worden waren, rechtmäßig erlangt wurden, insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige, gegen den parallel ein Strafverfahren eingeleitet worden ist, von diesen Schriftstücken noch keine Kenntnis nehmen und deren Rechtmäßigkeit vor Gericht nicht bestreiten konnte?
16. Ist – auch unter Berücksichtigung der sechsten Frage – die Verordnung Nr. 904/2010 – insbesondere im Hinblick auf ihren siebten Erwägungsgrund, wonach die Mitgliedstaaten für die Erhebung der geschuldeten Steuer kooperieren sollten, um die richtige Festsetzung der Mehrwertsteuer sicherzustellen, und daher nicht nur die richtige Erhebung der geschuldeten Steuer in ihrem eigenen Hoheitsgebiet kontrollieren müssen, sondern auch anderen Mitgliedstaaten Amtshilfe gewähren sollten, um die richtige Erhebung der Steuer sicherzustellen, die im Zusammenhang mit einer in ihrem Hoheitsgebiet erfolgten Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird – dahin auszulegen, dass bei einem Sachverhalt wie dem des Ausgangsverfahrens die nationale Steuerbehörde eines Mitgliedstaats, die eine Steuerschuld feststellt, verpflichtet ist, ein Ersuchen an die Steuerbehörde des Mitgliedstaats zu richten, in dem der Steuerpflichtige, der einer Steuerprüfung unterzogen wird, seine Steuerzahlungspflicht bereits erfüllt hat?
17. Falls Frage 16 bejaht wird: Welche Konsequenzen muss das Gericht, das die Verwaltungsentscheidungen der nationalen Steuerbehörde eines Mitgliedstaats überprüft – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen in Frage 14 – ziehen, wenn vor Gericht gerügt und festgestellt wird, dass die Entscheidungen der nationalen Steuerbehörde eines Mitgliedstaats aus dem genannten Grund – d. h., weil ein Ersuchen an die nationale Steuerbehörde eines anderen Mitgliedstaats unterblieben ist und keine Informationen eingeholt wurden – gegen Verfahrensvorschriften verstoßen?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
29 Mit am 17. August 2015 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat WML nach Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt und dafür vorgetragen, dass sich die nationale Steuer- und Zollverwaltung in der mündlichen Verhandlung, um das Vorliegen einer künstlichen Gestaltung im Ausgangsverfahren nachzuweisen, auf Umstände berufen habe, die davor überhaupt nicht oder nicht zu diesem Zweck geltend gemacht worden seien.
30 Dieser Antrag ist vor der Stellung der Schlussanträge des Generalanwalts und damit zu einem Zeitpunkt gestellt worden, bevor das mündliche Verfahren gemäß Art. 82 Abs. 2 der Verfahrensordnung für abgeschlossen erklärt worden ist. Er ist folglich als ein Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu verstehen.
31 WML hat aber zum einen an der mündlichen Verhandlung teilgenommen und die Gelegenheit gehabt, mündlich eine Erwiderung zu den Erklärungen der nationalen Steuer- und Zollverwaltung abzugeben. Zum anderen geht der Gerichtshof davon aus, dass er hinreichende Klarheit über die Umstände des Ausgangsrechtsstreits gewonnen hat, um die Fragen sachdienlich zu beantworten, die das vorlegende Gericht gestellt hat, das jedenfalls dafür zuständig ist, diese Umstände für die Entscheidung dieses Rechtsstreits zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 15).
32 Daher wird der Antrag abgelehnt.
Zu den Vorlagefragen
Zu den Fragen 1 bis 5 und 7 bis 9
33 Mit seinen Fragen 1 bis 5 und 7 bis 9, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass für die Beurteilung, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Lizenzvertrag, der die Verpachtung von Know-how zum Gegenstand hatte, durch das der Betrieb einer Website ermöglicht wurde, über die interaktive audiovisuelle Dienstleistungen erbracht wurden, und der mit einer Gesellschaft geschlossen wurde, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als die lizenzgebende Gesellschaft hat, auf einen Rechtsmissbrauch zurückzuführen war, durch den ausgenutzt werden sollte, dass der auf diese Dienstleistungen anwendbare Mehrwertsteuersatz in diesem anderen Mitgliedstaat niedriger war, Folgendes relevant ist: die Tatsache, dass der Geschäftsführer und alleinige Anteilsinhaber der lizenzgebenden Gesellschaft der Urheber dieses Know-hows war, die Tatsache, dass diese Person einen Einfluss auf oder eine Kontrolle über die Entwicklung und die Nutzung des Know-hows und die Erbringung der auf diesem Know-how beruhenden Dienstleistungen ausübte, sowie die Tatsache, dass die Verwaltung der Finanztransaktionen, des Personals und der für die Erbringung der Dienstleistungen erforderlichen technischen Mittel von Subunternehmern erledigt wurde. Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die geschäftlichen, technischen, organisatorischen und rechtlichen Gründe berücksichtigt werden müssen, die die lizenzgebende Gesellschaft vorbringt, um die Verpachtung des Know-hows an die Gesellschaft mit Sitz in dem anderen Mitgliedstaat zu erklären.
34 Wie das vorlegende Gericht feststellt, ist es seine Sache, die ihm unterbreiteten Tatsachen zu beurteilen und zu prüfen, ob im Ausgangsrechtsstreit die Tatbestandsvoraussetzungen einer missbräuchlichen Praxis erfüllt sind. Der Gerichtshof kann im Vorabentscheidungsverfahren jedoch Klarstellungen vornehmen, um dem vorlegenden Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 76 und 77, sowie Part Service, C‑425/06, EU:C:2008:108, Rn. 54 bis 56).
35 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, und dass nach dem Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, das im Bereich der Mehrwertsteuer Anwendung findet, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen, verboten sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 70, sowie Newey, C‑653/11, EU:C:2013:409, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 In den Rn. 74 und 75 des Urteils Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2006:121) hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer zum einen voraussetzt, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen, dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen lediglich ein Steuervorteil bezweckt wird.
37 Was als Erstes die Frage anbelangt, ob ein Vorgang wie der Abschluss des im Ausgangsverfahren fraglichen Lizenzvertrags zum Ergebnis hat, dass ein den Zielen der Mehrwertsteuerrichtlinie widersprechender Steuervorteil erlangt wird, ist zum einen anzumerken, dass der Begriff „Ort der Dienstleistung“, durch den der Ort der Besteuerung der entsprechenden Dienstleistung bestimmt wird, ebenso wie die Begriffe „Steuerpflichtiger“, „Dienstleistung“ und „wirtschaftliche Tätigkeit“ objektiven Charakter hat und unabhängig von Zweck und Ergebnis der betreffenden Umsätze anwendbar ist, ohne dass die Steuerverwaltung verpflichtet wäre, die Absicht des Steuerpflichtigen zu ermitteln (vgl. in diesem Sinne Urteile Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 56 und 57, sowie Newey, C‑653/11, EU:C:2013:409, Rn. 41).
38 Was elektronisch erbrachte Dienstleistungen wie die des Ausgangsverfahrens betrifft, geht aus Art. 43 und Art. 56 Abs. 1 Buchst. k der Mehrwertsteuerrichtlinie in ihrer vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2009 anwendbaren Fassung bzw. aus Art. 45 und Art. 59 Abs. 1 Buchst. k dieser Richtlinie in ihrer durch die Richtlinie 2008/8 geänderten Fassung hervor, dass als Ort einer Dienstleistung, die an einen in der Europäischen Union ansässigen Nichtsteuerpflichtigen erbracht wird, der Ort gilt, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, oder, in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung, sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort.
39 Zum anderen resultieren die Unterschiede zwischen den Regelmehrwertsteuersätzen in den Mitgliedstaaten daraus, dass mit der Mehrwertsteuerrichtlinie, die nur den Mindeststeuersatz festlegt, keine vollständige Harmonisierung vorgenommen worden ist.
40 Unter diesen Umständen kann die Tatsache, dass in einem Mitgliedstaat von einem Regelmehrwertsteuersatz profitiert wird, der niedriger ist als der in einem anderen Mitgliedstaat geltende, für sich genommen nicht als ein den Zielen der Mehrwertsteuerrichtlinie widersprechender Steuervorteil angesehen werden.
41 Etwas anderes gilt hingegen, wenn die Dienstleistung in Wirklichkeit in dem anderen Mitgliedstaat erbracht wird. Eine solche Situation widerspricht nämlich dem Ziel der Regeln der Mehrwertsteuerrichtlinie über die Bestimmung des Ortes der Besteuerung der Dienstleistungen, das darin besteht, einerseits Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten, und andererseits die Nichtbesteuerung von Einnahmen zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil Welmory, C‑605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 42). Außerdem steht diese Situation, da sie auf die Vermeidung der in einem Mitgliedstaat geschuldeten Mehrwertsteuer hinausläuft, im Widerspruch sowohl zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV sowie Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen, als auch zum dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem innewohnenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dem zufolge Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Italien, C‑132/06, EU:C:2008:412, Rn. 37, 39 und 46, Belvedere Costruzioni, C‑500/10, EU:C:2012:186, Rn. 20 bis 22, sowie Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25 und 26).
42 Was als Zweites die Frage anbelangt, ob das wesentliche Ziel eines Vorgangs nur in der Erlangung des Steuervorteils besteht, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Bereich der Mehrwertsteuer bereits entschieden hat, dass der Steuerpflichtige bei einer Wahlmöglichkeit zwischen zwei Umsätzen nicht verpflichtet ist, den Umsatz zu wählen, der die höhere Mehrwertsteuerzahlung nach sich zieht, sondern vielmehr das Recht hat, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält (vgl. u. a. Urteile Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 73, Part Service, C‑425/06, EU:C:2008:108, Rn. 47, sowie Weald Leasing, C‑103/09, EU:C:2010:804, Rn. 27). Somit können die Steuerpflichtigen die Organisationsstrukturen und die Geschäftsmodelle, die sie als für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten und zur Begrenzung ihrer Steuerlast am besten geeignet erachten, im Allgemeinen frei wählen (Urteil RBS Deutschland Holdings, C‑277/09, EU:C:2010:810, Rn. 53).
43 Hinsichtlich des Ausgangsverfahrens ist festzustellen, dass aus der dem Gerichtshof übermittelten Akte hervorgeht, dass Lalib eine von WML verschiedene Gesellschaft ist, da sie weder eine Zweigniederlassung noch eine Tochtergesellschaft noch eine Agentur von WML ist, und dass sie die Mehrwertsteuer in Portugal entrichtet hat.
44 Unter diesen Umständen ist, um feststellen zu können, dass der fragliche Lizenzvertrag auf eine missbräuchliche Praxis zurückzuführen ist, durch die ein niedrigerer Mehrwertsteuersatz auf Madeira genutzt werden sollte, nachzuweisen, dass der Lizenzvertrag eine rein künstliche Gestaltung darstellt, durch die verschleiert wird, dass die betreffende Dienstleistung, nämlich der Betrieb der Website unter Nutzung des Know-hows von WML, tatsächlich nicht von Lalib auf Madeira, sondern in Wirklichkeit von WML in Ungarn erbracht wurde. Was die Prüfung, welcher der tatsächliche Ort der genannten Dienstleistung war, betrifft, muss eine Feststellung dieses Ortes auf objektiven, von dritter Seite nachprüfbaren Anhaltspunkten beruhen, wie etwa das greifbare Vorhandensein von Lalib in Form von Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen (vgl. entsprechend Urteil Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 67).
45 Um zu bestimmen, ob der genannte Vertrag eine solche Gestaltung darstellte, hat das vorlegende Gericht sämtliche ihm unterbreiteten tatsächlichen Umstände zu untersuchen, wobei es insbesondere ermitteln muss, ob die Errichtung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit oder der festen Niederlassung von Lalib auf Madeira nicht den Tatsachen entsprach oder ob Lalib für die Ausübung der fraglichen wirtschaftlichen Tätigkeit keine geeignete Struktur in Form von Geschäftsräumen, Personal und technischen Mitteln aufwies oder ob Lalib diese wirtschaftliche Tätigkeit nicht in eigenem Namen und auf eigene Rechnung, in Eigenverantwortung und auf eigenes Risiko ausübte.
46 Dagegen erscheinen die Tatsache, dass der Geschäftsführer und alleinige Anteilsinhaber von WML der Urheber des Know-hows von WML war, die Tatsache, dass diese Person einen Einfluss auf oder eine Kontrolle über die Entwicklung und die Nutzung des Know-hows und die Erbringung der auf diesem Know-how beruhenden Dienstleistungen ausübte, die Tatsache, dass die Verwaltung der Finanztransaktionen, des Personals und der für die Erbringung der Dienstleistungen erforderlichen technischen Mittel von Subunternehmern erledigt wurde, sowie die Gründe, die WML dazu bewegt haben können, das fragliche Know-how an Lalib zu verpachten, anstatt es selbst zu nutzen, für sich genommen nicht entscheidend.
47 Schließlich ist in Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts, ob ein Lizenzvertrag wie der im Ausgangsverfahren fragliche im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr als eine missbräuchliche Praxis angesehen werden kann, zum einen festzustellen, dass die Art der Verbindungen zwischen der lizenzgebenden Gesellschaft, nämlich WML, und der lizenznehmenden Gesellschaft, nämlich Lalib, offensichtlich nicht in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fällt, da Lalib keine Zweigniederlassung, Tochtergesellschaft oder Agentur von WML ist.
48 Zum anderen kann, da die Unterschiede zwischen den Regelmehrwertsteuersätzen in den Mitgliedstaaten daraus resultieren, dass mit der Mehrwertsteuerrichtlinie keine vollständige Harmonisierung vorgenommen worden ist, die bloße Tatsache, dass ein Lizenzvertrag wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit einer Gesellschaft abgeschlossen wurde, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat hat, in dem der Regelmehrwertsteuersatz niedriger ist als in dem Mitgliedstaat, in dem die lizenzgebende Gesellschaft ihren Sitz hat, ohne sonstige Anhaltspunkte nicht als eine im Hinblick auf den freien Dienstleistungsverkehr missbräuchliche Praxis angesehen werden.
49 Folglich ist auf die Fragen 1 bis 5 und 7 bis 9 zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass für die Beurteilung, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Lizenzvertrag, der die Verpachtung von Know-how zum Gegenstand hatte, durch das der Betrieb einer Website ermöglicht wurde, über die interaktive audiovisuelle Dienstleistungen erbracht wurden, und der mit einer Gesellschaft geschlossen wurde, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als die lizenzgebende Gesellschaft hat, auf einen Rechtsmissbrauch zurückzuführen war, durch den ausgenutzt werden sollte, dass der auf diese Dienstleistungen anwendbare Mehrwertsteuersatz in diesem anderen Mitgliedstaat niedriger war, die Tatsache, dass der Geschäftsführer und alleinige Anteilsinhaber der lizenzgebenden Gesellschaft der Urheber dieses Know-hows war, die Tatsache, dass diese Person einen Einfluss auf oder eine Kontrolle über die Entwicklung und die Nutzung des Know-hows und die Erbringung der auf diesem Know-how beruhenden Dienstleistungen ausübte, die Tatsache, dass die Verwaltung der Finanztransaktionen, des Personals und der für die Erbringung der Dienstleistungen erforderlichen technischen Mittel von Subunternehmern erledigt wurde, sowie die Gründe, die die lizenzgebende Gesellschaft dazu bewegt haben können, das fragliche Know-how an die in dem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft zu verpachten, anstatt es selbst zu nutzen, für sich genommen nicht entscheidend erscheinen.
50 Das vorlegende Gericht hat sämtliche Umstände des Ausgangsverfahrens zu untersuchen, um zu bestimmen, ob dieser Vertrag eine rein künstliche Gestaltung darstellte, durch die verschleiert wurde, dass die betreffende Dienstleistung tatsächlich nicht von der lizenznehmenden Gesellschaft, sondern in Wirklichkeit von der lizenzgebenden Gesellschaft erbracht wurde, wobei es insbesondere ermitteln muss, ob die Errichtung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit oder der festen Niederlassung der lizenznehmenden Gesellschaft nicht den Tatsachen entsprach oder ob diese Gesellschaft für die Ausübung der fraglichen wirtschaftlichen Tätigkeit keine geeignete Struktur in Form von Geschäftsräumen, Personal und technischen Mitteln aufwies oder ob sie diese wirtschaftliche Tätigkeit nicht in eigenem Namen und auf eigene Rechnung, in Eigenverantwortung und auf eigenes Risiko ausübte.
Zur sechsten Frage
51 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass im Fall der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis, die dazu geführt hat, dass als Ort einer Dienstleistung ein anderer Mitgliedstaat bestimmt wurde als der, der ohne diese missbräuchliche Praxis bestimmt worden wäre, die Tatsache, dass die Mehrwertsteuer in dem anderen Staat gemäß dessen Rechtsvorschriften entrichtet wurde, einer Nacherhebung der Mehrwertsteuer in dem Mitgliedstaat entgegensteht, in dem diese Dienstleistung tatsächlich erbracht wurde.
52 Hierzu genügt der Hinweis, dass dann, wenn eine missbräuchliche Praxis festgestellt worden ist, die betroffenen Transaktionen in der Weise neu definiert werden müssen, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese Praxis darstellenden Transaktionen bestanden hätte (Urteile Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 98, sowie Newey, C‑653/11, EU:C:2013:409, Rn. 50).
53 Daraus ergibt sich, dass der Ort einer Dienstleistung berichtigt werden muss, wenn er in einem anderem Mitgliedstaat bestimmt wurde als dem, der ohne eine missbräuchliche Praxis bestimmt worden wäre, und dass die Mehrwertsteuer in dem Staat zu entrichten ist, in dem sie hätte entrichtet werden müssen, und zwar auch dann, wenn sie in dem anderen Staat gezahlt worden ist.
54 Folglich ist auf die sechste Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass im Fall der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis, die dazu geführt hat, dass als Ort einer Dienstleistung ein anderer Mitgliedstaat bestimmt wurde als der, der ohne diese missbräuchliche Praxis bestimmt worden wäre, die Tatsache, dass die Mehrwertsteuer in dem anderen Staat gemäß dessen Rechtsvorschriften entrichtet wurde, einer Nacherhebung der Mehrwertsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem diese Dienstleistung tatsächlich erbracht wurde, nicht entgegensteht.
Zu den Fragen 16 und 17
55 Mit seiner 16. Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 904/2010 dahin auszulegen ist, dass die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats, die prüft, ob für Leistungen, für die in anderen Mitgliedstaaten bereits Mehrwertsteuer entrichtet worden ist, Mehrwertsteuer verlangt werden kann, verpflichtet ist, an die Steuerbehörden dieser anderen Mitgliedstaaten ein Ersuchen um Zusammenarbeit zu richten.
56 Hierzu ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 904/2010, die nach ihrem Art. 1 die Modalitäten regelt, nach denen die zuständigen nationalen Behörden untereinander und mit der Europäischen Kommission zusammenarbeiten, und zu diesem Zweck Regeln und Verfahren festlegt, nicht ausführt, unter welchen Voraussetzungen die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats verpflichtet sein könnte, an die Steuerbehörde eines anderen Mitgliedstaats ein Ersuchen um verwaltungsbehördliche Zusammenarbeit zu richten.
57 Allerdings kann sich ein solches Ersuchen angesichts dessen, dass die Mitgliedstaaten nach dem siebten Erwägungsgrund dieser Verordnung zu kooperieren haben, um die richtige Festsetzung der Mehrwertsteuer sicherzustellen, als zweckmäßig oder sogar als notwendig herausstellen.
58 Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats weiß oder vernünftigerweise wissen muss, dass die Steuerbehörde eines anderen Mitgliedstaats über Informationen verfügt, die nützlich oder sogar unverzichtbar sind, um festzustellen, ob in dem erstgenannten Mitgliedstaat Mehrwertsteuer verlangt werden kann.
59 Somit ist auf die 16. Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 904/2010 dahin auszulegen ist, dass die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats, die prüft, ob für Leistungen, für die in anderen Mitgliedstaaten bereits Mehrwertsteuer entrichtet worden ist, Mehrwertsteuer verlangt werden kann, dann verpflichtet ist, an die Steuerbehörden dieser anderen Mitgliedstaaten ein Auskunftsersuchen zu richten, wenn ein solches Ersuchen nützlich oder sogar unverzichtbar ist, um festzustellen, dass in dem erstgenannten Mitgliedstaat Mehrwertsteuer verlangt werden kann.
60 Angesichts der Antwort auf die 16. Frage ist die 17. Frage nicht zu beantworten.
Zu den Fragen 10 bis 15
61 Mit seinen Fragen 10 bis 15, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es dem nicht entgegensteht, dass die Steuerbehörde bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV sowie Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie zum Nachweis des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ohne Wissen des Steuerpflichtigen z. B. durch eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und eine Beschlagnahme von E-Mails erlangt wurden.
62 Aus der Begründung der Vorlageentscheidung und der Formulierung der Vorlagefragen geht hervor, dass das vorlegende Gericht zunächst wissen möchte, ob die Steuerbehörde angesichts des Spielraums, der den Mitgliedstaaten belassen wird, um die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und Steuerhinterziehung und ‑umgehung zu bekämpfen, im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens solche Beweise sammeln und verwenden darf, obwohl sie ursprünglich für die Strafverfolgung durch Mittel erhoben wurden, die für das Strafverfahren charakteristisch sind, das den Personen zudem Garantien bietet, die sie im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht haben. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob eine solche Möglichkeit besteht und welche Grenzen und Pflichten sich insoweit aus Art. 8 EMRK und den Art. 7, 8 und 52 der Charta gegebenenfalls ergeben.
63 Für den Fall, dass eine solche Möglichkeit anerkannt werden sollte, möchte das vorlegende Gericht sodann wissen, ob die Steuerbehörde zwecks Gewährleistung der Achtung der Verteidigungsrechte nach Art. 48 der Charta und des in deren Art. 41 verankerten Grundsatzes der guten Verwaltung verpflichtet ist, die so gesammelten Beweise dem Steuerpflichtigen zugänglich zu machen und diesen anzuhören.
64 Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 der Charta bedeutet, dass das Gericht, das mit einer Klage gegen den Steuernacherhebungsbescheid der Steuerbehörde befasst ist, die Rechtmäßigkeit der Erlangung der Beweise im Rahmen des Strafverfahrens nachprüfen kann, wenn der Steuerpflichtige in diesem Verfahren davon keine Kenntnis haben konnte und nicht die Möglichkeit hatte, ihre Rechtmäßigkeit bei einem anderen Gericht anzufechten. Außerdem möchte das vorlegende Gericht angesichts einer nationalen Regelung, nach der ein Verfahrensfehler nur dann die Aufhebung der davon betroffenen angefochtenen Entscheidung nach sich zieht, wenn diese Entscheidung ohne den Verfahrensfehler anders hätte ausfallen können und die rechtliche Situation des Klägers davon betroffen ist, wissen, ob das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf im Fall des Verstoßes gegen die Charta verlangt, dass diese Entscheidung unabhängig von den Auswirkungen dieses Verstoßes aufgehoben wird.
65 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Ermittlung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen einer missbräuchlichen Praxis erfüllt sind, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts zu erfolgen hat. Diese Regeln dürfen jedoch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 76).
66 Zweitens ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteil Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Drittens ist eine Mehrwertsteuernacherhebung infolge der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis wie der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen als Durchführung von Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25 bis 27).
68 Demnach steht das Unionsrecht dem, dass die Steuerbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens zur Feststellung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens erlangt wurden, nicht entgegen, sofern die durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte beachtet werden.
69 Hinsichtlich der Tragweite und der Auslegung der durch die Charta garantierten Rechte bestimmt ihr Art. 52 Abs. 1, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
70 Was im vorliegenden Fall als Erstes die Erlangung der Beweise im Rahmen des Strafverfahrens betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betrifft, Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechten entsprechen, und dass somit Art. 7 der Charta gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen ist wie Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteile McB., C‑400/10 PPU, EU:C:2010:582, Rn. 53, und Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 70).
71 Da die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs einen Eingriff in die Ausübung des durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts darstellt (vgl. u. a. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 6. September 1978, Klass u. a./Deutschland, Serie A, Bd. 28, Nr. 41, vom 2. August 1984, Malone/Vereinigtes Königreich, Serie A, Bd. 82, Nr. 64, vom 24. April 1990, Kruslin/Frankreich und Huvig/Frankreich, Serie A, Bd. 176‑A und 176‑B, Nr. 26 und Nr. 25, sowie die Entscheidung Weber und Saravia/Deutschland, Beschwerde Nr. 54934/00, EGMR 2006-XI, Nr. 79), ist sie somit auch als Einschränkung der Ausübung des in Art. 7 der Charta verankerten Rechts anzusehen.
72 Gleiches gilt für eine Beschlagnahme von E-Mails, die im Zuge von Durchsuchungen von beruflich genutzten Räumen bzw. Geschäftsräumen einer natürlichen Person oder von Räumen einer Handelsgesellschaft vorgenommen wird; auch sie stellt einen Eingriff in die Ausübung des durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts dar (vgl. u. a. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Dezember 1992, Niemietz/Deutschland, Serie A, Bd. 251‑B, Nrn. 29-31, Société Colas Est u. a/Frankreich, Beschwerde Nr. 37971/97, EGMR 2002‑III, Nrn. 40-41, sowie vom 2. April 2015, Vinci Construction und GTM Génie Civil et Services/Frankreich, Beschwerden Nrn. 63629/10 und 60567/10, Nr. 63).
73 Solche Einschränkungen dürfen daher nur dann vorgenommen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen.
74 In Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat der Gerichtshof bereits für Recht erkannt, dass nach diesem Grundsatz die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten erlassen dürfen, nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung der Ziele, eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, erforderlich ist (Urteil R., C‑285/09, EU:C:2010:742, Rn. 45).
75 Da im Ausgangsrechtsstreit die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und die Beschlagnahme von E-Mails im Rahmen eines Strafverfahrens erfolgten, sind ihr Ziel und ihre Notwendigkeit im Hinblick auf das Strafverfahren zu beurteilen.
76 Da entsprechend dem Hinweis in Rn. 35 des vorliegenden Urteils die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 71), ist hierzu anzumerken, dass die im Rahmen eines Strafverfahrens durchgeführten Untersuchungsmaßnahmen, mit denen u. a. Verstöße in diesem Bereich geahndet werden sollen, ein Ziel verfolgen, das einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht.
77 Hinsichtlich der Prüfung der Notwendigkeit der Untersuchungsmaßnahmen ist festzustellen, dass die Steuerbehörde in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass die Beschlagnahme der E-Mails ohne richterliche Genehmigung erfolgt sei. Hierzu ist anzumerken, dass bei Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung der Schutz des Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der Staatsgewalt in die durch Art. 7 der Charta garantierten Rechte für eine solche Beschlagnahme einen engen rechtlichen Rahmen und eine strikte Begrenzung verlangt (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Dezember 1997, Camenzind/Schweiz, Sammlung der Urteile und Entscheidungen 1997‑VIII, Nr. 45). Dementsprechend kann diese Beschlagnahme nur dann mit Art. 7 der Charta vereinbar sein, wenn die nationalen Rechtsvorschriften und die nationale Praxis angemessene und wirksame Garantien gegen Missbrauch und Willkür bieten (vgl. u. a. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25. Februar 1993, Funke/Frankreich, Serie A, Bd. 256‑A, Nrn. 56-57, vom 25. Februar 1993, Miailhe/Frankreich [Nr. 1], Serie A, Bd. 256‑C, Nrn. 37-38, sowie Société Colas Est u. a./Frankreich, Nrn. 48-49).
78 Im Rahmen dieser Prüfung hat das vorlegende Gericht zu untersuchen, ob das Fehlen einer vorherigen richterlichen Anordnung bis zu einem gewissen Grad dadurch ausgeglichen wurde, dass die von der Beschlagnahme betroffene Person die Möglichkeit hatte, im Nachhinein einen Antrag auf gerichtliche Nachprüfung sowohl der Rechtmäßigkeit als auch der Notwendigkeit der Beschlagnahme zu stellen, wobei eine solche Nachprüfung unter den besonderen Umständen der jeweiligen Rechtssache wirksam sein muss (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Smirnov/Russland, Beschwerde Nr. 71362/01, EGMR 2007‑VII, Nr. 45).
79 Was als Zweites die Sammlung und die Verwendung der Beweise durch die Steuerbehörde betrifft, ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall nicht zu prüfen ist, ob die Weiterleitung der Beweise durch die für die strafrechtliche Ermittlung zuständige Stelle und die zum Zweck ihrer Verwendung vorgenommene Sammlung der Beweise durch die das Verwaltungsverfahren führende Stelle einen Eingriff in das durch Art. 8 der Charta garantierte Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten darstellen, denn WML ist keine natürliche Person und kann sich daher nicht auf diesen Schutz berufen, da ihr Name keine natürliche Person bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 52 und 53).
80 Dagegen ist angesichts von Art. 7 der Charta die Verwendung der im Rahmen eines nicht abgeschlossenen Strafverfahrens durch eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und eine Beschlagnahme von E-Mails erlangten Beweise durch die Steuerbehörde als solche als eine Beschränkung der Ausübung des durch diesen Artikel garantierten Rechts anzusehen. Es muss daher ermittelt werden, ob diese Verwendung auch den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genügt.
81 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Anforderung, dass jede Einschränkung der Ausübung dieses Rechts gesetzlich vorgesehen sein muss, bedeutet, dass die gesetzliche Grundlage für die Verwendung der in der vorangegangenen Randnummer erwähnten Beweise durch die Steuerbehörde hinreichend klar und genau sein muss und dass sie dadurch, dass sie selbst den Umfang der Einschränkung der Ausübung des durch Art. 7 der Charta garantierten Rechts festlegt, einen gewissen Schutz gegen etwaige willkürliche Eingriffe der Steuerbehörde bietet (vgl. u. a. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 2. August 1984, Malone/Vereinigtes Königreich, Serie A, Bd. 82, Nr. 67, sowie vom 12. Januar 2010, Gillan und Quinton/Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 4158/05, EGMR 2010, Nr. 77).
82 Wie der Generalanwalt in Nr. 133 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist bei der Prüfung der Notwendigkeit einer solchen Verwendung im Ausgangsverfahren zu beurteilen, ob sie im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig ist, wobei zu ermitteln ist, ob sämtliche nötigen Informationen nicht auch durch Untersuchungsmaßnahmen hätten erlangt werden können, die weniger stark in das durch Art. 7 der Charta garantierte Recht eingreifen als die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und die Beschlagnahme von E-Mails, wie eine einfache Kontrolle der Geschäftsräume von WML und ein nach der Verordnung Nr. 904/2010 an die portugiesischen Behörden gerichtetes Ersuchen um Informationen oder um behördliche Ermittlungen.
83 Außerdem ist betreffend die Achtung der Verteidigungsrechte und des Grundsatzes der guten Verwaltung anzumerken, dass die vom vorlegenden Gericht angeführten Art. 41 und 48 der Charta im Ausgangsverfahren nicht relevant sind. Zum einen ergibt sich nämlich aus dem Wortlaut von Art. 41 der Charta eindeutig, dass sich dieser nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet (Urteile YS u. a., C‑141/12 und C‑372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 67, sowie Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 44). Zum anderen schützt Art. 48 der Charta die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte, die einem „Angeklagten“ zu gewährleisten sind, und ist somit im Ausgangsverfahren nicht anwendbar.
84 Nichtsdestoweniger stellt die Achtung der Verteidigungsrechte einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen. Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Entscheidungen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen (Urteil Sabou, C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 Im vorliegenden Fall geht aus den schriftlichen Erklärungen von WML und den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung hervor, dass die Steuerbehörde WML Zugang zu den abgehörten Telefongesprächen und den E-Mails gewährt hat, die als Beweise verwendet wurden, um den Steuernacherhebungsbescheid zu untermauern, und dass WML vor dem Erlass dieses Bescheids rechtliches Gehör zu diesen Beweisen gewährt wurde, was jedoch das vorlegende Gericht zu überprüfen hat.
86 Was als Drittes das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf und die Folgen einer Verletzung der durch das Unionsrecht garantierten Rechte anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass nach diesem Artikel jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
87 Die Wirksamkeit der durch diesen Artikel garantierten gerichtlichen Nachprüfung erfordert es, dass das Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer das Unionsrecht durchführenden Entscheidung nachprüft, prüfen kann, ob die Beweise, auf die diese Entscheidung gestützt wird, nicht unter Verletzung der durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte erlangt wurden.
88 Dieses Erfordernis ist dann erfüllt, wenn das mit einer Klage gegen den Bescheid der Steuerbehörde über die Mehrwertsteuernacherhebung befasste Gericht befugt ist, nachzuprüfen, ob die aus einem parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahren stammenden Beweise, auf die der Bescheid gestützt wird, in diesem Strafverfahren im Einklang mit den durch das Unionsrecht garantierten Rechten erlangt wurden, oder sich zumindest aufgrund einer von einem Strafgericht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens bereits ausgeübten Nachprüfung vergewissern kann, dass die Beweise im Einklang mit dem Unionsrecht erlangt wurden.
89 Wenn dieses Erfordernis nicht erfüllt ist und folglich das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf nicht wirksam ist oder ein anderes durch das Unionsrecht garantiertes Recht verletzt wird, sind die im Rahmen des Strafverfahrens erlangten und im Steuerverwaltungsverfahren verwendeten Beweise zurückzuweisen und ist der angefochtene Bescheid, der sich auf diese Beweise gründet, aufzuheben, wenn er deswegen keine Grundlage hat.
90 Daher ist auf die Fragen 10 bis 15 zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es dem, dass die Steuerbehörde bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV sowie Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie zum Nachweis des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ohne Wissen des Steuerpflichtigen z. B. durch eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und eine Beschlagnahme von E-Mails erlangt wurden, nicht entgegensteht, sofern durch die Erlangung dieser Beweise im Rahmen des Strafverfahrens und ihre Verwendung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nicht die durch das Unionsrecht garantierten Rechte verletzt werden.
91 Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens hat das Gericht, das die Rechtmäßigkeit eines auf diese Beweise gestützten Bescheids über eine Mehrwertsteuernacherhebung prüft, nach Art. 7, Art. 47 und Art. 52 Abs. 1 der Charta zum einen zu überprüfen, ob es sich bei der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und der Beschlagnahme von E-Mails um gesetzlich vorgesehene und im Rahmen des Strafverfahrens erforderliche Untersuchungsmaßnahmen handelte, und zum anderen, ob die Verwendung der durch diese Maßnahmen erlangten Beweise durch die Steuerbehörde ebenfalls gesetzlich vorgesehen und erforderlich war. Außerdem hat es zu überprüfen, ob dem Steuerpflichtigen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens gemäß dem allgemeinen Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte Zugang und rechtliches Gehör zu diesen Beweisen gewährt wurde. Stellt es fest, dass dies nicht der Fall war oder dass bei der Erlangung dieser Beweise im Rahmen des Strafverfahrens oder deren Verwendung im Verwaltungsverfahren gegen Art. 7 der Charta verstoßen wurde, hat es diese Beweise zurückzuweisen und den betreffenden Bescheid aufzuheben, wenn er deswegen keine Grundlage hat. Diese Beweise sind auch dann zurückzuweisen, wenn das genannte Gericht nicht befugt ist, nachzuprüfen, ob sie im Rahmen des Strafverfahrens im Einklang mit dem Unionsrecht erlangt wurden, oder sich nicht zumindest aufgrund einer von einem Strafgericht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens bereits ausgeübten Nachprüfung vergewissern kann, dass sie im Einklang mit dem Unionsrecht erlangt wurden.
Kosten
92 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.