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Steuerrecht
25.10.2018
Steuerrecht
BFH: Nichtigkeit von Schätzungen

BFH, Beschluss vom 6.8.2018X B 22/18

ECLI:DE:BFH:2018:B.060818.XB22.18.0

Volltext des Beschlusses://BB-ONLINE BBL2018-2596-1

unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

NV: Die bloße Absicht der Finanzbehörde, den Steuerpflichtigen durch das Schätzungsergebnis zu sanktionieren („Strafschätzung“), löst für sich genommen noch keine Nichtigkeit der hierauf beruhenden Steuerfestsetzung nach § 125 Abs. 1 AO aus. Hinzu kommen muss, dass die Schätzung bei objektiver Betrachtung den durch die Umstände des Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmen verlässt, d.h. objektiv fehlerhaft ist.

AO § 125 Abs. 1, § 162 Abs. 1; FGO § 76 Abs. 1 S. 1, § 81 Abs. 1 S. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 3, § 155; ZPO § 295

Sachverhalt

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre 2013 und 2014 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt werden. Die Klägerin führt seit dem Jahr 2003 einen Gewerbebetrieb, für den in den Jahren 2006 bis 2011 durchgehend Verluste anfielen.

Für das Jahr 2012 gaben die Kläger keine Einkommensteuererklärung ab. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb im Schätzungswege einen Betrag von 0 EUR. Der Schätzungsbescheid blieb unangefochten.

Auch für die Streitjahre 2013 und 2014 kamen die Kläger ihrer Pflicht zur Abgabe von Einkommensteuererklärungen zunächst nicht nach. Das FA schätzte Einkünfte aus Gewerbebetrieb von 15.000 EUR (2013) bzw. 30.000 EUR (2014). Bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit des Klägers berücksichtigte das FA den Arbeitnehmer-Pauschbetrag. Auch jene Schätzungsbescheide fochten die Kläger nicht an. Erst nach Eintritt der Bestandskraft reichten sie Steuererklärungen ein, in denen sie Verluste aus Gewerbebetrieb von 5.232 EUR (2013) bzw. 16.320 EUR (2014) auswiesen. Eine Änderung der Steuerfestsetzungen lehnte das FA unter Hinweis auf deren Bestandskraft (und fehlender verfahrensrechtlicher Änderungsmöglichkeiten) ab.

Im Januar 2017 beantragten die Kläger die Feststellung der Nichtigkeit der den Steuerfestsetzungen für die Jahre 2013 und 2014 zugrunde liegenden Bescheide (§ 125 der Abgabenordnung --AO--). Es handele sich --so die Begründung-- um willkürliche, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweichende „Strafschätzungen“; Schätzungserwägungen seien nicht erkennbar.

Das FA lehnte den Antrag ab; Einspruchs- und Klageverfahren blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) sah die Voraussetzungen für eine Nichtigkeit als nicht gegeben an. Die Schätzungen des FA lägen innerhalb des durch die Umstände des Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmens. Die in Ansatz gebrachten Gewinne seien bei einer betriebsspezifischen Betrachtung denkbar. Fehle es bereits an der Rechtswidrigkeit der Schätzungen, könnten diese erst recht nicht nichtig sein. Bewege sich das Schätzungsergebnis --wie im Streitfall-- innerhalb des Schätzungsrahmens, führe auch eine etwaige subjektive Willkür des Veranlagungssachbearbeiters nicht zur Nichtigkeit der auf den Schätzungen beruhenden Steuerbescheide. Es sei daher unerheblich, ob die zuständige Sachbearbeiterin die Steuerveranlagungen --wie von den Klägern unter Beweisantritt behauptet-- als „Strafschätzung“ habe verstehen wollen.

Die Kläger begehren die Zulassung der Revision wegen Divergenz. Zudem rügen sie die unterlassene Beweisaufnahme als Verfahrensfehler.

Das FA tritt der Beschwerde entgegen.

Aus den Gründen

 

8          II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet.

9          Die von den Klägern angeführten Revisionszulassungsgründe i.S. von § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sind nicht gegeben.

 

10        1. Eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung wegen Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) ist nicht erforderlich.

 

11        a) Die Revisionszulassung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO setzt voraus, dass das FG bei gleichem oder vergleichbarem Sachverhalt in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage eine andere Auffassung vertritt als der BFH, das Bundesverfassungsgericht, der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, ein anderes oberstes Bundesgericht oder ein anderes FG. Das FG muss seiner Entscheidung einen tragenden abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt haben, der mit den ebenfalls tragenden Rechtsausführungen in der Divergenzentscheidung des anderen Gerichts nicht übereinstimmt. Zur schlüssigen Darlegung einer Divergenzrüge nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gehört u.a. eine hinreichend genaue Bezeichnung der vermeintlichen Divergenzentscheidung sowie die Gegenüberstellung tragender, abstrakter Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen andererseits, um eine Abweichung deutlich erkennbar zu machen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. Mai 2012 X B 57/11, BFH/NV 2012, 1307, m.w.N., Rz 2, 3, sowie vom 5. März 2018 X B 44/17, BFH/NV 2018, 637, Rz 17 ff.).

12        Eine Divergenzentscheidung liegt dagegen nicht schon dann vor, wenn ein Gericht von den Rechtsgrundsätzen der BFH-Rechtsprechung ausgeht und lediglich eine unzutreffende Anwendung der Grundsätze auf den Einzelfall gerügt wird. Es wird dann lediglich ein materiell-rechtlicher, nicht zur Revisionszulassung führender Fehler gerügt (vgl. statt vieler BFH-Beschluss vom 7. Februar 2017 V B 48/16, BFH/NV 2017, 629, Rz 11, m.w.N.).

 

13        b) Nach diesen Grundsätzen vermochten die Kläger eine Divergenz zu den von ihnen zitierten BFH-Entscheidungen nicht zu begründen.

 

14        aa) Tragend für die FG-Entscheidung war zum einen der Rechtssatz, dass eine Schätzung, deren Ergebnis sich (noch) innerhalb des durch die Umstände des Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmens bewegt, rechtmäßig ist. Dieser Rechtssatz lässt keine Abweichung zu der von den Klägern insoweit benannten Senatsentscheidung vom 15. Juli 2014 X R 42/12 (BFH/NV 2015, 145, Rz 21) erkennen; vielmehr ging der Senat dort vom nämlichen Grundsatz aus.

 

15        bb) Soweit das FG zum anderen seine Entscheidung auf den Rechtssatz gestützt hat, bei noch im Rahmen liegenden --d.h. noch nicht einmal rechtswidrigen-- Schätzungsergebnissen könne die hierauf beruhende Steuerfestsetzung weder aufgrund objektiver Willkür (S. 11 des Urteils) noch bei einer „falschen subjektiven Zielrichtung“ des Veranlagungssachbearbeiters (S. 12) nichtig sein, weicht es ebenfalls nicht von Rechtssätzen der BFH-Rechtsprechung ab.

 

16        (1) Der Senat hat in seiner Entscheidung in BFH/NV 2015, 145 --anders als die Kläger meinen-- nicht den abstrakten Rechtssatz aufgestellt, dass jede (vorliegend im Übrigen streitige) subjektive Willkürmaßnahme die Nichtigkeit der Steuerfestsetzung zur Folge hat.

 

17        (2) Vielmehr ergibt sich aus Rz 21 und 23 der Entscheidung eine letztlich dreigestufte Abfolge: Während eine Schätzung, die sich sogar am oberen Rand des einzelfallabhängigen Schätzungsrahmens orientiert, noch als rechtmäßig gilt, führt eine solche, die jenen Rahmen nach oben (oder unten) verlässt, zur Rechtswidrigkeit und Anfechtbarkeit. Selbst grobe Abweichungen vom Schätzungsrahmen haben regelmäßig nur die Rechtswidrigkeit, nicht aber die Nichtigkeit zur Folge. Gründet sich die insoweit fehlerhafte Schätzung --dritte Stufe-- allerdings darauf, dass sich die Finanzbehörde entgegen dem Regelungsauftrag in § 162 Abs. 1 AO nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt, kann ein zur Nichtigkeit führender besonders schwerer Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO vorliegen (sog. subjektive Willkürmaßnahme). Selbiges gilt, wenn ein ebenfalls als fehlerhaft zu disqualifizierendes Schätzungsergebnis trotz vorhandener Sachverhaltsaufklärungsmöglichkeiten krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, sog. objektive Willkürmaßnahme (vgl. Senatsurteile in BFH/NV 2015, 145, sowie vom 15. Mai 2002 X R 34/99, juris, unter II.3. und 4.).

 

18        (3) Den Rechtssatz, allein die Absicht der Finanzbehörde, den Steuerpflichtigen durch das Schätzungsergebnis zu sanktionieren, löse bereits die Nichtigkeit gemäß § 125 AO aus, kann der vorgenannten BFH-Rechtsprechung somit nicht entnommen werden. Hierauf weist auch das FA in seiner Beschwerdeerwiderung zu Recht hin.

 

19        cc) Soweit die Kläger eine Divergenz zu den BFH-Entscheidungen vom 20. Dezember 2000 I R 50/00 (BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381 [BB 2001, 1020]) sowie vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82 (BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226 [BB 1985, 719]) anführen (vgl. S. 7 bis 9 der Beschwerdebegründung), legen sie keine hinsichtlich der abstrakten Rechtssätze bestehenden Abweichungen dar. Sie tragen insoweit lediglich vor, es sei dem FA im Streitfall zumutbar und möglich gewesen, diverse Erkenntnismittel für eine sachgerechte Schätzung zu beschaffen und zu verwerten. Folge des Verstoßes hiergegen sei --anders als das FG annehme-- die objektive Willkür der Schätzungen und damit die Nichtigkeit der Steuerfestsetzungen. Insoweit rügen die Kläger lediglich die Nichtanwendung von BFH-Rechtsprechungsgrundsätzen, legen aber nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gebotenen Weise eine für die Revisionszulassung erforderliche Divergenz dar.

 

20        dd) Gleiches gilt für den Einwand, das FG sei von den Grundsätzen der Senatsentscheidung vom 15. Mai 2002 X R 34/99 (juris) abgewichen. Soweit der Senat dort den Rechtssatz aufgestellt hat, eine Schätzung erweise sich erst dann als rechtswidrig, wenn sie den durch die Umstände des jeweiligen Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmen verlasse und sich die Behörde bei einer Verletzung der Erklärungspflicht an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren könne (dort unter II.3. der Gründe), folgt das FG jenen Grundsätzen exakt (vgl. S. 8 ff. des FG-Urteils). Lediglich die Anwendung jener Grundsätze auf den vorliegenden Einzelfall erweist sich nach Ansicht der Kläger als unzutreffend.

 

21        2. Auch die Verfahrensrüge nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO greift nicht durch.

 

22        a) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und dabei die erforderlichen Beweise (§ 81 Abs. 1 Satz 2 FGO) zu erheben. Ein diesbezüglicher Verfahrensmangel ist gegeben, wenn das FG einen entscheidungserheblichen Beweisantrag übergeht (vgl. Senatsbeschluss vom 1. Juni 2015 X B 6/15, BFH/NV 2015, 1265, Rz 12). Ein ordnungsgemäß gestellter Beweisantrag darf nur unberücksichtigt bleiben, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich, das Beweismittel unerreichbar bzw. unzulässig oder absolut untauglich ist oder wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 17. November 2009 VI B 11/09, BFH/NV 2010, 650, unter II.1.a, sowie Senatsbeschlüsse vom 28. September 2011 X B 69/11, BFH/NV 2012, 32, Rz 13; vom 8. Januar 2014 X B 68/13, BFH/NV 2014, 566, Rz 13, sowie vom 12. Februar 2018 X B 64/17, BFH/NV 2018, 538, Rz 11).

 

23        b) Im Streitfall braucht der Senat nicht darüber zu befinden, ob das FG nach den genannten Grundsätzen dem Beweisantrag der Kläger hätte nachkommen müssen. Jedenfalls wird insoweit nicht die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begründet.

 

24        aa) Zwar haben die Kläger ihr Recht zur Führung der Sachaufklärungsrüge --ausnahmsweise-- nicht dadurch gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung verloren, dass sie die Nichterhebung der am 15. September 2017 und 12. Januar 2018 schriftlich beantragten Einvernahme des Zeugen X in der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 2018 nicht vorsorglich gerügt haben (vgl. hierzu Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Rz 114, m.w.N. auf BFH-Rechtsprechung). Denn das FG hat auf S. 12 seines Urteils --kurz-- begründet, weshalb es von der Beweiserhebung abgesehen hat. In diesem Fall bedarf es keiner Rüge in der mündlichen Verhandlung; eine solche wäre vielmehr als überflüssige Förmelei anzusehen, da bereits aus dem Urteil selbst hervorgeht, dass dem FG die Existenz des angebotenen Beweismittels bewusst war (vgl. Senatsbeschluss vom 29. Juni 2011 X B 242/10, BFH/NV 2011, 1715, Rz 10 ff.; BFH-Beschluss vom 26. November 2008 IX B 122/08, BFH/NV 2009, 600, m.w.N.).

 

25        bb) Die von den Klägern beantragte Einvernahme des Zeugen X war für die Entscheidungsfindung des FG allerdings unerheblich, so dass die Entscheidung jedenfalls nicht auf dem gerügten Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO --läge er denn überhaupt vor-- beruhte (vgl. hierzu Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 115 FGO Rz 115). Selbst wenn der Zeugenbeweis die Erkenntnis hervorgebracht hätte, dass die zuständige Veranlagungssachbearbeiterin anlässlich eines Gesprächs mit der Klägerin und dem Zeugen am 20. Dezember 2016 an Amtsstelle die Schätzungen für die Streitjahre als „Strafschätzungen“ benannt habe, hätte dies die Entscheidung des FG nicht berührt. Denn das FG hat sich --wie dargelegt-- maßgeblich auf den Rechtsstandpunkt gestellt, dass auch der von den Klägern behauptete Willkürakt der Behörde nicht zur Nichtigkeit der Schätzungsbescheide zur Einkommensteuer 2013 und 2014 geführt hätte, da sich das Schätzungsergebnis noch innerhalb des einzelfallbezogen zu bestimmenden Schätzungsrahmens bewegt habe.

 

26        3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

 

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