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Steuerrecht
08.05.2025
Steuerrecht
EuGH: Nationale Regelung, die die gesamtschuldnerische Haftung des ehemaligen Vorsitzenden des Verwaltungsrats des Steuerpflichtigen vorsieht

 – Befreiung von der gesamtschuldnerischen Haftung – Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Polnisches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 30.4.2025 – C-278/24; P. K. gegen Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu

ECLI:EU:C:2025:299

Volltext BB-Online BBL2025-1109-1

Tenor

Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom 6. November 2018 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 325 AEUV, dem Eigentumsrecht sowie den Grundsätzen der Gleichbehandlung, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der

–  das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit einer Mehrwertsteuerschuld gesamtschuldnerisch mit dieser Gesellschaft für die während seiner Amtszeit entstandenen Steuerrückstände haftet,

– diese Haftung auf die Steuerrückstände beschränkt ist, hinsichtlich deren die Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschaft ganz oder teilweise erfolglos geblieben ist,

– die Befreiung von dieser Haftung u. a. davon abhängt, dass das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats nachweist, dass rechtzeitig ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft eingereicht wurde oder die Nichteinreichung des Antrags nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist, sofern sich das Mitglied oder ehemalige Mitglied zum Nachweis des Nichtvorliegens eines solchen Verschuldens wirksam darauf berufen kann, dass es bei der Führung der Geschäfte der betreffenden Gesellschaft die gebotene Sorgfalt hat walten lassen, wobei zu berücksichtigen ist, dass das Mitglied oder ehemalige Mitglied insoweit nicht lediglich geltend machen kann, dass der einzige Gläubiger der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Feststellung ihrer dauerhaften Zahlungsunfähigkeit der Fiskus war.

 

Aus den Gründen

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 193, 205 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom 6. November 2018 (ABl. 2018, L 282, S. 5, berichtigt in ABl. 2018, L 329, S. 53) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) in Verbindung mit Art. 2 EUV, Art. 325 AEUV, den Art. 17, 20, 21, 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen P. K. und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu (Direktor der Finanzverwaltungskammer Wrocław, Polen) über die Begründung der gesamtschuldnerischen Haftung von P. K. für die Mehrwertsteuerschuld einer Gesellschaft, deren Verwaltungsrat er geleitet hatte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3        Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“

4        Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“

5        In Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

Polnisches Recht

Abgabenordnung

6        Art. 107 der Ustawa – Ordynacja podatkowa (Gesetz über die Abgabenordnung) vom 29. August 1997 in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung (Dz. U. 2023, Pos. 2383) (im Folgenden: Abgabenordnung) bestimmt:

„§ 1.      In den Fällen, die in diesem Kapitel vorgesehen sind, und in dem darin vorgesehenen Umfang haften auch Dritte mit ihrem gesamten Vermögen gesamtschuldnerisch mit dem Steuerpflichtigen für dessen Steuerrückstände.

§ 2.      Soweit nichts anderes bestimmt ist, haften Dritte auch für

2)      Verzugszinsen für Steuerrückstände;

…“

7        Art. 108 § 1 der Abgabenordnung sieht vor:

„Die Steuerverwaltung entscheidet im Wege eines Bescheids über die steuerliche Haftung eines Dritten.“

8        Art. 116 der Abgabenordnung bestimmt:

„§ 1.      Die Mitglieder des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Gründung, einer vereinfachten Aktiengesellschaft oder einer vereinfachten Aktiengesellschaft in Gründung haften gesamtschuldnerisch mit ihrem gesamten Vermögen für die Steuerrückstände dieser Gesellschaften, wenn sich die Zwangsvollstreckung in das Gesellschaftsvermögen als ganz oder teilweise fruchtlos erwiesen hat und das betreffende Mitglied des Verwaltungsrats

1)      nicht nachgewiesen hat, dass

a)      ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens rechtzeitig gestellt wurde oder ein Beschluss über die Eröffnung eines Umstrukturierungsverfahrens … oder die Genehmigung des Vergleichs im Rahmen eines Vergleichsplans … gleichzeitig ergangen ist oder

b)      das Fehlen eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist;

2)      die Vermögensgegenstände der Gesellschaft, deren Verwertung es ermöglichen würde, die Steuerrückstände der Gesellschaft weitgehend zu decken, nicht angegeben hat.

§ 2.      Die Haftung der Mitglieder des Verwaltungsrats erstreckt sich auf Steuerrückstände für während der Ausübung ihres Amtes fällig gewordene Schulden und auf Rückstände …, die während der Ausübung dieses Amtes entstanden sind.

§ 4.      Die §§ 1 bis 3 gelten auch für ehemalige Mitglieder des Verwaltungsrats und ehemalige Vertreter oder Gesellschafter der in Gründung befindlichen Gesellschaft.

…“

Insolvenzgesetz

9        Art. 1 der ustawa – Prawo upadłościowe (Gesetz über das Insolvenzrecht) vom 28. Februar 2003 in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (Dz. U. 2024, Pos. 794) (im Folgenden: Insolvenzgesetz) sieht vor:

„1.      Das Gesetz regelt

1.      die Grundsätze der kollektiven Vollstreckung von Forderungen zahlungsunfähiger Schuldnerunternehmen.

…“

10      Art. 11 des Insolvenzgesetzes bestimmt:

„1.      Der Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht mehr in der Lage ist, seine finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen.

1a.      Es wird vermutet, dass der Schuldner nicht mehr in der Lage ist, seine finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen, wenn die Verspätung bei der Erfüllung der finanziellen Verpflichtungen drei Monate überschreitet.

…“

11      In Art. 20 des Insolvenzgesetzes heißt es:

„1.      Ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann vom Schuldner oder von einem seiner Gläubiger gestellt werden.

…“

12      In Art. 21 des Insolvenzgesetzes heißt es:

„1.      Der Schuldner ist verpflichtet, spätestens 30 Tage nach Auftreten der Gründe für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beim Gericht einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzureichen.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13      P. K. war von Januar 2014 bis September 2017 Vorsitzender des Verwaltungsrats der Gesellschaft E. sp. z o.o.

14      Da diese Gesellschaft die für den Zeitraum von Mai bis August 2017 geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge nicht entrichtet hatte, wurden diese Beträge zu Steuerrückständen.

15      Der Naczelnik Dolnośląskiego Urzędu Skarbowego we Wrocławiu (Leiter des Finanzamts Niederschlesien in Wrocław, Polen) (im Folgenden: NDUS) stellte in Bezug auf die Gesellschaft E. einen vollstreckbaren Titel aus und ergriff bestimmte Vollstreckungsmaßnahmen. In Anbetracht der Feststellung, dass sich mit den Aktiva dieser Gesellschaft nicht die gesamten Steuerrückstände tilgen ließen, stellte der NDUS das Vollstreckungsverfahren ein.

16      Der NDUS leitete auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 sowie Art. 108 Abs. 1 der Abgabenordnung in Verbindung mit ihrem Art. 116 ein Verfahren zur Feststellung der gesamtschuldnerischen Haftung von P. K. für die Steuerrückstände der Gesellschaft E. ein.

17      Mit Bescheid vom 15. Juni 2022 erklärte der NDUS in Bezug auf diese Rückstände P. K. für gesamtschuldnerisch haftbar.

18      P. K. focht den in der vorstehenden Randnummer genannten Bescheid beim Direktor der Finanzverwaltungskammer Wrocław an, der mit Entscheidung vom 18. Oktober 2022 den Bescheid bestätigte.

19      P. K. beantragte beim Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław, Polen), dem vorlegenden Gericht, die Entscheidung vom 18. Oktober 2022 für nichtig zu erklären.

20      Hierzu rügte P. K. einen Verstoß gegen Art. 11, Art. 20 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 des Insolvenzgesetzes sowie gegen Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung.

21      P. K. machte zum einen u. a. geltend, dass es in dem Zeitraum, in dem er sein Amt als Vorsitzender des Verwaltungsrats der Gesellschaft E. ausgeübt habe, keinen rechtlichen oder tatsächlichen Grund gegeben habe, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen dieser Gesellschaft zu stellen, der für die Anwendbarkeit von Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung erforderlich sei. Die Einreichung eines solchen Antrags sei daher verfrüht und ungerechtfertigt gewesen. Die polnische Steuerverwaltung habe seine Haftung für die Steuerschulden der Gesellschaft E. nur mit einer allgemeinen Vermutung begründet, dass er grundsätzlich für diese Schuld hafte, da die Steuerschuld dieser Gesellschaft in dem genannten Zeitraum entstanden sei. Der Umstand, dass eine Schuld zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehe, bedeute jedoch für sich genommen nicht, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zum selben Zeitpunkt eingetreten sei.

22      Zum anderen machte P. K. geltend, dass nach den einschlägigen Bestimmungen des Insolvenzgesetzes in ihrer Auslegung in der nationalen Rechtsprechung und Literatur ein Insolvenzverfahren nur dann eröffnet werden könne, wenn der betreffende Schuldner seine Verbindlichkeiten gegenüber mindestens zwei Gläubigern nicht erfülle. Wenn es nur einen Gläubiger gebe, sei ein Antrag auf Eröffnung dieses Verfahrens zwar formal möglich, entfalte aber keine Rechtswirkung.

23      Das vorlegende Gericht führt aus, dass in der polnischen Rechtsordnung die Frage der gesamtschuldnerischen Haftung eines Dritten wie eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft durch Art. 116 der Abgabenordnung geregelt sei.

24      Ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft hafte gesamtschuldnerisch für deren Steuerschulden, wenn zum einen die Steuerverwaltung nachweise, dass bestimmte positive Voraussetzungen erfüllt seien, und zum anderen dieses Mitglied oder ehemalige Mitglied nicht nachweise, dass es von dieser Haftung befreit werden könne.

25      Im Einzelnen habe die Begründung der gesamtschuldnerischen Haftung eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft die folgenden positiven Voraussetzungen (im Folgenden: positive Voraussetzungen):

–        Die betreffende Gesellschaft hat eine Steuerschuld, die sich u. a. aus einem Steuerbescheid ergibt, der im Hinblick auf diese Haftung eine Vorentscheidung darstellt.

–        Diese Schuld ist in dem Zeitraum entstanden, in dem das Mitglied oder ehemalige Mitglied in der Gesellschaft eine Leitungsfunktion ausgeübt hat.

–        Die Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschaft ist erfolglos geblieben.

26      Ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft könne nur dann von der gesamtschuldnerischen Haftung befreit werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt seien:

–        Das Mitglied oder ehemalige Mitglied weist nach, dass es rechtzeitig einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt hat oder dass gleichzeitig ein Beschluss über die Eröffnung eines Umstrukturierungsverfahrens oder die Genehmigung eines Vergleichs im Rahmen eines Vergleichsplans ergangen ist, oder

–        das Mitglied oder ehemalige Mitglied weist nach, dass die Nichteinreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist, oder

–        das Mitglied oder ehemalige Mitglied gibt die Vermögensgegenstände der Gesellschaft an, deren Verwertung es ermöglichen würde, die Steuerrückstände der Gesellschaft weitgehend zu decken.

27      Der Ausdruck „rechtzeitig“ in Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a der Abgabenordnung bezeichne den Zeitpunkt, zu dem der Geschäftsführer der Gesellschaft bei angemessener Sorgfalt habe wissen können, dass die Gesellschaft zahlungsunfähig geworden sei, die Begleichung ihrer Schulden dauerhaft eingestellt habe und ihre Aktiva nicht ausreichten, um sie zu tilgen.

28      Des Weiteren führt das vorlegende Gericht im Wesentlichen aus, dass das Verschulden bei der Nichteinreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens absichtlich oder unabsichtlich sein könne. Ein Verschulden liege nicht vor, wenn das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats der Gesellschaft unter Anwendung der gebotenen Sorgfalt bei der Führung ihrer Geschäfte diese Einreichung aus Gründen unterlassen habe, die von seinem Willen unabhängig seien.

29      In Anbetracht ihrer Merkmale könne die polnische Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, die eine Steuerschuld habe, mit dem Unionsrecht unvereinbar sein.

30      Nach den Erkenntnissen, die sich u. a. aus dem Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788), ergäben, trage eine Regelung der automatischen gesamtschuldnerischen Haftung eines Dritten für die Steuerverbindlichkeiten einer Gesellschaft zwar dazu bei, die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer im Sinne von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie – unter Berücksichtigung von Art. 325 Abs. 1 AEUV – sicherzustellen. Allerdings habe die Ausübung des Ermessens, das Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Mittel für die Erreichung der mit diesem Artikel verfolgten Ziele einräume, unter Wahrung des Unionsrechts zu erfolgen, insbesondere seiner allgemeinen Grundsätze, einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

31      Insoweit ergebe sich aus dem genannten Urteil, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen seien, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstünden, die bei Vorliegen bestimmter Umstände für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person eine Regelung der automatischen gesamtschuldnerischen Haftung vorsehe. Aus dem genannten Urteil ergebe sich jedoch auch, dass nationale Maßnahmen, kraft denen eine andere Person als der Steuerpflichtige für die Zahlung der Mehrwertsteuer haftbar werde, ohne dass sie die Möglichkeit habe, zu beweisen, dass zwischen ihr und den Handlungen des Steuerpflichtigen kein Zusammenhang bestehe, nicht zulässig seien.

32      Im vorliegenden Fall verlange die in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehene Regelung keine Beurteilung des Verhaltens des Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, das gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden solle, um festzustellen, ob das Verhalten dadurch gekennzeichnet sei, dass es bei der Führung der Geschäfte dieser Gesellschaft zu Bösgläubigkeit oder einem Sorgfaltsmangel gekommen sei. Nur bei einer der Voraussetzungen für die Befreiung von dieser Haftung liege ein Verschulden vor, nämlich dann, wenn nicht rechtzeitig ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingereicht worden sei.

33      Daher sei das genannte Mitglied oder ehemalige Mitglied selbst dann nicht von seiner Haftung befreit, wenn es dartue, dass es mit der erforderlichen Sorgfalt gehandelt habe, sofern es nicht nachweise, dass es die Voraussetzungen für die Befreiung erfülle.

34      Insoweit zweifelt das vorlegende Gericht daran, ob Art. 116 der Abgabenordnung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das in Art. 17 der Charta und in Art. 1 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verbürgte Eigentumsrecht beachtet.

35      Ferner müsse ein Eingriff in das Eigentumsrecht, damit er mit dem genannten Art. 1 vereinbar sei, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rücksicht auf ein „angemessenes Gleichgewicht“ zwischen den Erfordernissen des öffentlichen Interesses und denjenigen des Schutzes der Grundrechte des Einzelnen nehmen (EGMR, 5. Januar 2000, Beyeler/Italien, CE:ECHR:2000:0105JUD003320296, § 107, sowie EGMR, 6. Juli 2014, Ališić u. a./Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien, Slowenien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, CE:ECHR:2014:0716JUD006064208, § 108).

36      Das vorlegende Gericht verweist zweitens auf die polnische Praxis und Rechtsprechung, wonach ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft verpflichtet sei, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen dieser Gesellschaft zu stellen, um von seiner gesamtschuldnerischen Haftung befreit werden zu können. Nach den Art. 10 und 11 des Insolvenzgesetzes sei ein solcher Antrag einzureichen, wenn die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners vorlägen, d. h., wenn der Schuldner nicht mehr in der Lage sei, seine finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen, und davon sei auszugehen, wenn die Verspätung bei der Erfüllung dieser Verpflichtungen drei Monate überschreite. Nach der nationalen Rechtsprechung habe der Schuldner jedoch nur zu beurteilen, ob er in der Lage sei, seine Schulden zu begleichen, während die Beurteilung der Voraussetzungen für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur von einem für Insolvenzsachen zuständigen Gericht vorgenommen werden könne.

37      Das vorlegende Gericht betont daher, dass nach der polnischen Praxis und Rechtsprechung der Umstand, dass eine Schuld gegenüber einem einzigen Gläubiger nicht beglichen werde, das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft nicht davon befreie, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzureichen. Wenn es allerdings nur einen einzigen Gläubiger gebe, werde dieser Antrag vom Insolvenzgericht jedoch zwingend abgewiesen, und damit würde ihm jede praktische Wirksamkeit genommen.

38      Daher könne die Befreiungsvoraussetzung, die auf der Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens beruhe, nicht dem Mitglied oder ehemaligen Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft zugutekommen, deren einziger Gläubiger der Fiskus sei. Das führe dazu, dass gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, aus dem sich der Vertrauensschutz ableite, gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und gegen den Grundsatz der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit verstoßen werde. Dem Mitglied oder ehemaligen Mitglied werde auch das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf genommen, da die polnischen Gerichte sein Vorbringen, dass es nicht möglich sei, wirksam einen Antrag einzureichen, gänzlich außer Acht lassen würden.

39      Drittens werfe die Befreiungsvoraussetzung, die auf der Pflicht zur Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens beruhe, Fragen in Bezug darauf auf, ob der in den Art. 20 und 21 der Charta verankerte Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz eingehalten werde. Dem Mitglied oder ehemaligen Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, deren einziger Gläubiger der Fiskus sei, sei es nicht möglich, wirksam einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzureichen, da dieser Antrag vom Insolvenzgericht zwingend allein deswegen abgewiesen werde, weil es keine Mehrzahl von Gläubigern gebe. Dagegen würden die Anträge auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, die das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit mehreren Gläubigern einreiche, vom Insolvenzgericht in der Sache geprüft.

40      Unter diesen Umständen hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie, u. a. ihr Art. 193, ihr Art. 205 und ihr Art. 273 in Verbindung mit Art. 325 AEUV, und Art. 17 der Charta sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die eine Regelung der automatischen gesamtschuldnerischen Haftung eines Mitglieds des Verwaltungsrats einer juristischen Person für die Mehrwertsteuerschulden der betreffenden juristischen Person ohne vorherige Prüfung vorsehen, ob dieses Verwaltungsratsmitglied bösgläubig gehandelt hat oder ihm bei seinen Handlungen ein verschuldeter Fehler bzw. Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann?

2.      Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie, u. a. ihr Art. 193, ihr Art. 205 und ihr Art. 273 in Verbindung mit Art. 325 AEUV, der Grundsatz der Rechtssicherheit, der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der aus Art. 41 der Charta hergeleitete Grundsatz des Rechts auf eine gute Verwaltung in Verbindung mit Art. 2 EUV (Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte) sowie Art. 47 der Charta (wirksamer Rechtsbehelf, Recht auf ein Gericht) dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Praxis entgegenstehen, die für eine Befreiung von der gesamtschuldnerischen Haftung für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person, die nur einen Gläubiger hat, von einem Verwaltungsratsmitglied verlangt, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzureichen, der nach den Vorschriften und der Praxis des innerstaatlichen Insolvenzrechts gegenstandslos ist, und die damit den Wesensgehalt des Eigentumsrechts (Art. 17 der Charta) verletzt?

3.      Sind Art. 193, Art. 205 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 325 AEUV sowie der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz und der Grundsatz der Nichtdiskriminierung (Art. 20 der Charta und Art. 21 der Charta) dahin auszulegen, dass sie den (in Nr. 1 angeführten) innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die eine Ungleichbehandlung der Mitglieder des Verwaltungsrats juristischer Personen von der Art zulassen, dass ein Mitglied des Verwaltungsrats einer juristischen Person, die mehr als einen Gläubiger hat, sich von der Haftung für die Schulden der Gesellschaft durch die Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens befreien kann, wohingegen ein Mitglied des Verwaltungsrats einer juristischen Person mit nur einem Gläubiger einen solchen Antrag nicht wirksam einreichen kann, so dass ihm die Möglichkeit, sich von der gesamtschuldnerischen Haftung für die Mehrwertsteuerschulden der juristischen Person zu befreien, und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 der Charta) genommen werden?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

41      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 26. Oktober 2021, PL Holdings, C‑109/20, EU:C:2021:875, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Wie sich aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, betreffen die Vorlagefragen die Auslegung der Art. 193, 205 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 EUV, Art. 325 AEUV, den Art. 17, 20, 21, 41 und 47 der Charta sowie den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.

43      Als Erstes ist hinsichtlich der Mehrwertsteuerrichtlinie zum einen darauf hinzuweisen, dass ihre Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 entsprechend dem Gegenstand von Titel XI Kapitel 1 Abschnitt 1 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) der Richtlinie, zu dem diese Vorschriften gehören, den Mehrwertsteuerschuldner bestimmen. Art. 193 der Richtlinie sieht zwar als Grundregel vor, dass die Mehrwertsteuer der Steuerpflichtige schuldet, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, präzisiert jedoch auch, dass in den Fällen der Art. 194 bis 199b und 202 der Richtlinie andere Personen die Steuer schulden (können) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Zum anderen können die Mitgliedstaaten nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie in den in den Art. 193 bis 200 sowie 202 bis 204 der Richtlinie genannten Fällen bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Mehrwertsteuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.

45      Aus dem Kontext der Art. 193 bis 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt sich somit, dass deren Art. 205 Teil einer Reihe von Vorschriften ist, die dazu dienen, in verschiedenen Situationen den Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Daher ermöglicht es Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten grundsätzlich, im Hinblick auf eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer Maßnahmen zu erlassen, nach denen eine andere Person als die, die nach den Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie normalerweise die Mehrwertsteuer schuldet, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen weder hervor, dass P. K. im Sinne von Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Steuerpflichtige ist, der die Mehrwertsteuer schuldet, oder eine andere Person ist, die die Mehrwertsteuer schuldet, noch, dass die in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehene Regelung der automatischen gesamtschuldnerischen Haftung den Zweck hat, einen oder mehrere bestimmte steuerbare Umsätze im Sinne von Art. 193 der Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 205 zu bestimmen. Nach dieser Regelung können die Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder des Verwaltungsrats einer Gesellschaft nämlich unter bestimmten Voraussetzungen als gesamtschuldnerisch haftbar für die Gesamtheit oder einen Teil der Mehrwertsteuerschulden dieser Gesellschaft angesehen werden, ohne dass diese Schulden mit einem oder mehreren bestimmten steuerbaren Umsätzen verknüpft wären.

48      Folglich sind unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits die Art. 193 und 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht einschlägig.

49      Als Zweites ist zu den vom vorlegenden Gericht angeführten Grundsätzen und Grundrechten zunächst festzustellen, dass Art. 41 der Charta, der das Recht auf eine gute Verwaltung betrifft, im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht anwendbar ist, da er sich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union richtet (Urteil vom 17. Juli 2014, YS u. a., C‑141/12 und C‑372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 67). Zwar spiegelt das in dieser Vorschrift verankerte Recht auf eine gute Verwaltung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wider (Urteil vom 17. Juli 2014, YS u. a., C‑141/12 und C‑372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 68). Das Vorabentscheidungsersuchen enthält jedoch nichts, was den Gerichtshof dazu veranlassen könnte, sich zum Recht auf eine gute Verwaltung als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zu äußern.

50      Was sodann Art. 47 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht regelt, betrifft, kommt das vorlegende Gericht – wie sich aus Rn. 38 des vorliegenden Urteils ergibt – zu dem Befund, dass dem Mitglied oder ehemaligen Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, deren einziger Gläubiger der Fiskus sei, dieses Recht genommen werde, da das Vorbringen, dass es diesem Mitglied oder ehemaligen Mitglied nicht möglich sei, wirksam einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzureichen, gänzlich außer Acht gelassen werde.

51      Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass die genannte Erwägung in Wirklichkeit die Frage betrifft, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie – in Verbindung mit Art. 325 AEUV, dem in Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrecht, dem sich aus den Art. 20 und 21 der Charta ergebenden Grundsatz der Gleichbehandlung sowie mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit – der in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehenen Regelung entgegensteht, soweit sie ein solches Mitglied oder ehemaliges Mitglied nicht von der Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens befreit. Denn sollte der Schluss gezogen werden, dass diese Regelung, die eine solche Befreiung nicht vorsieht, diese Bestimmungen und Grundsätze einhält, verstieße es nicht gegen Art. 47 der Charta, dass das in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannte Vorbringen nicht berücksichtigt wird. Wenn die genannten Bestimmungen und Grundsätze hingegen der genannten Regelung entgegenstehen, ist die Regelung jedenfalls mit dem Unionsrecht unvereinbar, ohne dass es erforderlich wäre, Art. 47 der Charta heranzuziehen.

52      Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht zwar auch auf Art. 2 EUV Bezug nimmt, in dem die Werte aufgeführt sind, auf die sich die Union gründet, doch enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieses Gericht die Auslegung dieser Bestimmung unabhängig von den Grundrechten und Grundsätzen begehrt, die es in seiner Frage anführt. Desgleichen hat das vorlegende Gericht den Grundsatz des Vertrauensschutzes nur als Ausfluss des Grundsatzes der Rechtssicherheit angeführt, wie sich aus Rn. 38 des vorliegenden Urteils ergibt.

53      Als Drittes ist schließlich festzustellen, dass zwischen den drei Fragen des vorlegenden Gerichts ein enger Zusammenhang besteht.

54      Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 325 AEUV, dem Eigentumsrecht sowie den Grundsätzen der Gleichbehandlung, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es ermöglicht, die gesamtschuldnerische Haftung eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft für deren Mehrwertsteuerschuld zu begründen, wenn diese Regelung zum einen nicht verlangt, dass ein Verschulden des Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds festgestellt wird, und zum anderen als Voraussetzung für die Befreiung vorsieht, dass das Mitglied oder ehemalige Mitglied rechtzeitig einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen dieser Gesellschaft einreicht, und zwar auch dann, wenn der einzige Gläubiger dieser Gesellschaft der Fiskus ist und ein solcher Antrag aus diesem Grund entsprechend der nationalen Praxis und Rechtsprechung zurückzuweisen ist.

Zu den Fragen

55      Nach Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten über die in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflichten hinaus weitere Pflichten vorsehen, wenn sie diese für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden (Urteile vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C‑101/16, EU:C:2017:775, Rn 49, und vom 11. Januar 2024, Global Ink Trade, C‑537/22, EU:C:2024:6, Rn. 41).

56      Ferner haben die Mitgliedstaaten nach Art. 325 Abs. 1 AEUV Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen zu bekämpfen, die abschreckend und wirksam sind.

57      Unter anderem aus den oben genannten Bestimmungen geht hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und den Betrug zu bekämpfen (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Eine Regelung der automatischen gesamtschuldnerischen Haftung wie die durch Art. 116 der Abgabenordnung eingeführte trägt zur Einziehung von Mehrwertsteuerbeträgen bei, die von einer steuerpflichtigen juristischen Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt worden sind. Eine solche Regelung trägt im Einklang mit der Verpflichtung aus Art. 325 Abs. 1 AEUV also dazu bei, im Sinne von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 61).

59      Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außerhalb der von ihm festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können. Er räumt ihnen daher in Bezug auf die Mittel, mit denen die Ziele der Erhebung der gesamten Mehrwertsteuer und der Betrugsbekämpfung erreicht werden sollen, einen Beurteilungsspielraum ein. Allerdings sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 69 und 72).

60      Demnach ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche des Fiskus möglichst wirksam zu schützen, sie dürfen aber nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 14. November 2024, Herdijk, C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Insoweit gehen nationale Maßnahmen, die ein System der verschuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haftung einführen, nach der Rechtsprechung über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen. Es ist daher als unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzusehen, die Haftung für die Mehrwertsteuer einer anderen Person als dem Steuerschuldner aufzuerlegen, ohne es dieser Person zu ermöglichen, sich der Haftung zu entziehen, indem sie den Nachweis erbringt, dass sie mit dem Gebaren des Steuerschuldners nichts zu tun hat. Es wäre nämlich offenkundig unverhältnismäßig, dieser Person uneingeschränkt den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat (Urteil vom 14. November 2024, Herdijk, C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Unter diesen Umständen muss die Ausübung der Befugnis der Mitgliedstaaten, zur Sicherung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer neben dem Steuerschuldner einen Gesamtschuldner zu bestimmen, im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit durch das tatsächliche und/oder rechtliche Verhältnis zwischen den beiden betroffenen Personen gerechtfertigt sein (Urteil vom 14. November 2024, Herdijk, C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Die Umstände, dass eine andere Person als der Steuerschuldner nach Treu und Glauben gehandelt und die Sorgfalt eines umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers aufgewendet hat, dass sie alle ihr zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und dass ihre Beteiligung an einem Missbrauch oder einem Betrug ausgeschlossen ist, sind Kriterien, die im Rahmen der Feststellung zu berücksichtigen sind, ob diese Person als Gesamtschuldner zu der geschuldeten Mehrwertsteuer herangezogen werden kann (Urteil vom 14. November 2024, Herdijk, C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht – wie sich aus den Rn. 24 bis 26 des vorliegenden Urteils ergibt – aus, dass im polnischen Recht Art. 116 der Abgabenordnung eine Regelung vorsieht, nach der ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft für die Steuerschuld dieser Gesellschaft haftbar gemacht werden kann. Hierzu muss die Steuerbehörde zum einen nachweisen, dass folgende positive Voraussetzungen erfüllt sind:

–        Die betreffende Gesellschaft hat eine Steuerschuld, die sich u. a. aus einem Steuerbescheid ergibt, der im Hinblick auf diese Haftung eine Vorentscheidung darstellt.

–        Diese Schuld ist in dem Zeitraum entstanden, in dem das Mitglied oder ehemalige Mitglied eine Leitungsfunktion ausübte.

–        Die Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschaft ist erfolglos geblieben.

65      Zum anderen kann das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats der betreffenden Gesellschaft nachweisen, dass es die Voraussetzungen für eine Befreiung von dieser Haftung erfüllt, nämlich,

–        dass rechtzeitig ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt worden ist oder gleichzeitig ein Beschluss über die Eröffnung eines Umstrukturierungsverfahrens oder die Genehmigung eines Vergleichs im Rahmen eines Vergleichsplans ergangen ist, oder

–        dass es nachweist, dass die Nichteinreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist, oder

–        dass es die Vermögensgegenstände der Gesellschaft angibt, deren Verwertung es ermöglichen würde, die Steuerrückstände der Gesellschaft weitgehend zu decken.

66      Es ist darauf hinzuweisen, dass allein das vorlegende Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist. Der Gerichtshof, der im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit dazu aufgerufen ist, dem vorlegenden Gericht sachdienliche Antworten zu geben, ist jedoch befugt, diesem Gericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die dem Gericht eine Entscheidung ermöglichen (Urteil vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 27 und 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Wie sich insoweit aus der Vorlageentscheidung ergibt, besteht eine der positiven Voraussetzungen zur Begründung der gesamtschuldnerischen Haftung eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft für deren Steuerschuld darin, dass eine solche Schuld in dem Zeitraum entstanden ist, in dem das Mitglied oder ehemalige Mitglied in der Gesellschaft eine Leitungsfunktion ausübte.

68      Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, sieht das polnische Recht folglich im Wesentlichen eine Vermutung vor, wonach ein Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft sowohl über eine unmittelbare Kenntnis der Tätigkeiten dieser Gesellschaft als auch über einen Einfluss auf diese verfügt oder verfügen müsste.

69      Eine solche Vermutung scheint jedoch als solche nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verstoßen. Sie begründet nämlich offenbar keine verschuldensunabhängige Haftung.

70      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Verschulden verschiedene Formen annehmen kann, zu denen u. a. ein Mangel an Wachsamkeit oder eine Nachlässigkeit bei der Kontrolle gehört. Der Umstand, dass eine Gesellschaft eine Steuerschuld nicht bezahlt hat, lässt außerdem darauf schließen, dass ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats dieser Gesellschaft bei der Führung ihrer Geschäfte gegen seine Sorgfaltspflicht verstoßen hat und dass die Nichtzahlung die Folge davon ist. Daher erscheint die gesamtschuldnerische Haftung dieses Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds nicht als Folge eines zufälligen Ereignisses, über das es keine Kontrolle hat, sondern als Folge seiner Handlungen oder Unterlassungen.

71      Jedoch muss eine Vermutung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in dem Sinne widerlegbar sein, dass es für das genannte Mitglied oder ehemalige Mitglied nicht praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig ist, diese Vermutung durch den Gegenbeweis zu widerlegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2024, Herdijk, C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 33 und 41, vgl. in diesem Sinne entsprechend auch Urteil vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 31).

72      Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die in Rn. 68 des vorliegenden Urteils genannte Vermutung von dem Mitglied oder ehemaligen Mitglied des Verwaltungsrats der betreffenden Gesellschaft widerlegt werden kann. Zu diesem Zweck kann es u. a. nachweisen, dass es eine der in Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung genannten Voraussetzungen für die Befreiung von der gesamtschuldnerischen Haftung erfüllt, nämlich,

–        dass rechtzeitig ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt wurde oder

–        dass die Nichteinreichung eines solchen Antrags nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist.

73      Aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass nach den Angaben des vorlegenden Gerichts der Ausdruck „rechtzeitig“ in Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a der Abgabenordnung den Zeitpunkt bezeichnet, zu dem das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats der betreffenden Gesellschaft bei angemessener Sorgfalt wissen konnte, dass die Gesellschaft zahlungsunfähig geworden ist und die Begleichung ihrer Schulden dauerhaft eingestellt hatte und dass ihre Aktiva nicht ausreichten, um sie zu tilgen.

74      Es ist jedoch zu beachten, dass die Entstehung einer Mehrwertsteuerschuld zu einem bestimmten Zeitpunkt als solche nicht die Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens rechtfertigt, auch wenn die finanzielle Lage der Schuldnergesellschaft insgesamt schlecht sein kann. So könnte das Erfordernis, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzureichen, später auftreten, wenn sich diese finanzielle Lage weiter verschlechtert. Zudem lässt sich nicht ausschließen, dass in der Zwischenzeit eine Person, die Mitglied des Verwaltungsrats dieser Gesellschaft war, aus dem Amt ausgeschieden ist. Solche Umstände führen jedoch nicht dazu, dass die in Rn. 68 des vorliegenden Urteils angeführte Vermutung unwiderlegbar wird. Dieser Person steht nämlich weiterhin der Nachweis frei, dass die nicht rechtzeitige Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht auf ihr Verschulden zurückzuführen ist, und zwar gerade aus dem Grund, dass die finanzielle Lage der betreffenden Gesellschaft die Einreichung eines solchen Antrags nicht erforderte, solange diese Person ihr Amt ausübte.

75      Insoweit muss das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, die eine Mehrwertsteuerschuld hat, die Möglichkeit haben, alle Umstände geltend machen zu können, die belegen können, dass die nicht rechtzeitige Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist. Die Möglichkeit eines solchen Nachweises darf nicht bloß in der Theorie bestehen, weil das Konzept der Zurechnung von der Verwaltung oder den nationalen Gerichten unrechtmäßigerweise weit ausgelegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2024, Herdijk, C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 36).

76      In der vorliegenden Rechtssache weist das vorlegende Gericht – wie sich aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils ergibt – darauf hin, dass das Verschulden absichtlich oder unabsichtlich sein kann.

77      Es stellt jedoch klar, dass ein Verschulden nicht vorliege, wenn das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats der betreffenden Gesellschaft nachweise, dass es trotz Anwendung der erforderlichen Sorgfalt bei der Führung ihrer Geschäfte die Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus Gründen unterlassen habe, die von seinem Willen unabhängig seien.

78      Daher ist nicht ersichtlich, dass die in Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung vorgesehene Befreiung bloß in der Theorie besteht.

79      Folglich steht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Regelung wie der in der genannten Bestimmung vorgesehenen nicht entgegen.

80      Hinsichtlich des Grundsatzes der Gleichbehandlung, auf den das vorlegende Gericht ebenfalls Bezug genommen hat, ist darauf hinzuweisen, dass dieser in den Art. 20 und 21 der Charta verankerte Grundsatz verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der betreffenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (Urteil vom 24. Februar 2022, Glavna direktsia „Pozharna bezopasnost i zashtita na naselenieto“, C‑262/20, EU:C:2022:117, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

81      Daher ist zu prüfen, ob der Umstand, dass eine Gesellschaft nur gegenüber einem einzigen Gläubiger Verbindlichkeiten hat, die ungleiche Anwendung der in Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung enthaltenen Voraussetzung für die Steuerbefreiung eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft rechtfertigen kann.

82      Insoweit führt das vorlegende Gericht aus, dass ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit mehr als einem Gläubiger die Möglichkeit habe, durch Einreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens von seiner gesamtschuldnerischen Haftung für die Schulden dieser Gesellschaft befreit zu werden. Dagegen habe ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit einem einzigen Gläubiger nicht die Möglichkeit, einen solchen Antrag „wirksam“ einzureichen. Daher könne im zweiten Fall dieses Mitglied oder ehemalige Mitglied schlechter gestellt sein, ohne dass diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt wäre.

83      In diesem Zusammenhang betont das vorlegende Gericht, dass nach der polnischen Praxis und Rechtsprechung der Umstand, dass eine Gesellschaft ihre Schuld gegenüber ihrem einzigen Gläubiger nicht begleiche, das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats dieser Gesellschaft nicht davon befreie, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzureichen.

84      Zur Befreiung eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft von seiner gesamtschuldnerischen Haftung sieht Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung u. a. vor, dass rechtzeitig ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen dieser Gesellschaft gestellt wird, ohne nach der Zahl der Gläubiger der betreffenden Gesellschaft zu unterscheiden.

85      Zwar weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit einem einzigen Gläubiger nicht die Möglichkeit habe, nach „wirksamer“ Einreichung eines solchen Antrags von seiner gesamtschuldnerischen Haftung befreit zu werden, insbesondere weil der Antrag von dem für Insolvenzsachen zuständigen Gericht zurückgewiesen werde. Aus Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung scheint jedoch hervorzugehen, dass die bloße Einreichung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nicht der Ausgang des durch Einreichung dieses Antrags eingeleiteten Verfahrens genügt, damit den Verpflichtungen des Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats der betreffenden Gesellschaft aus dieser Bestimmung Genüge getan ist, unabhängig von der Zahl der Gläubiger dieser Gesellschaft.

86      Daher ist nicht ersichtlich, dass die Anwendung von Art. 116 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung zu einer Ungleichbehandlung führt zwischen

–        zum einen den Mitgliedern oder ehemaligen Mitgliedern des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit einem einzigen Gläubiger und

–        zum anderen den Mitgliedern oder ehemaligen Mitgliedern des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit mehr als einem Gläubiger.

87      Des Weiteren scheint das vorlegende Gericht im Wesentlichen davon auszugehen, dass im Fall einer Gesellschaft, deren einziger Gläubiger der Fiskus ist, die Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung zwingend zu der Annahme führt, dass die Nichteinreichung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht auf ein Verschulden der Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder des Verwaltungsrats dieser Gesellschaft zurückzuführen ist, weil ein solcher Antrag in jedem Fall zurückgewiesen worden wäre.

88      Wenn man dieser Auffassung folgte, bestünde jedoch eine Ungleichbehandlung zwischen

–        zum einen den Mitgliedern oder ehemaligen Mitgliedern des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, die bei einer Verschlechterung ihrer finanziellen Lage, die zu ihrer Zahlungsunfähigkeit führen könnte, die Gläubiger – seien es private oder öffentliche – gleichermaßen und verhältnismäßig befriedigen würde, und

–        zum anderen den Mitgliedern oder ehemaligen Mitgliedern des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, die in einer solchen Situation alle Gläubiger mit Ausnahme des Fiskus befriedigen würde.

89      Diese Benachteiligung würde sich daraus ergeben, dass die Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder im ersten Fall nachweisen müssten, dass rechtzeitig ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingereicht wurde oder das Fehlen einer solchen Einreichung nicht auf ihr Verschulden zurückzuführen ist. Dagegen würde im zweiten Fall der Umstand, dass der Fiskus der einzige Gläubiger ist, ausreichen, damit die Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder von ihrer gesamtschuldnerischen Haftung befreit würden.

90      Die Einführung einer solchen Befreiungsvoraussetzung durch die Rechtsprechung könnte die Mitglieder des Verwaltungsrats einer Gesellschaft dazu veranlassen, dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft dann, wenn sich ihre finanzielle Lage so sehr verschlechtert, dass sie zahlungsunfähig zu werden droht, nur Schulden gegenüber einem einzigen Gläubiger hat, nämlich dem Fiskus. Dies könnte zu Umgehungen zulasten des Fiskus führen, indem eine Gesellschaft keine ausreichenden Mittel zur Begleichung ihrer Mehrwertsteuerschuld zurückbehalten, sondern ihre Mittel für andere Zwecke verwenden würde. Ein solches Ergebnis liefe aber eindeutig dem Ziel zuwider, eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen.

91      Daher lässt sich eine solche Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen.

92      Folglich wäre der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht gewahrt, wenn ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft, deren einziger Gläubiger der Fiskus ist, allein aus diesem Grund von seiner gesamtschuldnerischen Haftung für die Mehrwertsteuerschuld dieser Gesellschaft befreit wäre.

93      In Bezug auf den Grundsatz der Rechtssicherheit ist darauf hinzuweisen, dass er nach ständiger Rechtsprechung gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für die Rechtssubjekte vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

94      Die in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehene Regelung beruht auf positiven Voraussetzungen, die in Rn. 64 des vorliegenden Urteils aufgeführt sind, und umfasst eine mögliche Befreiung unter den in Rn. 65 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen.

95      Das vorlegende Gericht vertritt nicht die Auffassung, dass die genannten positiven Voraussetzungen und die genannte Befreiung so formuliert seien, dass ein Mitglied oder ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit einer Steuerschuld nicht vorhersehen könne, unter welchen Umständen seine gesamtschuldnerische Haftung begründet werden könne.

96      Somit steht die in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehene Regelung offenbar mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang.

97      Zum Eigentumsrecht ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 17 Abs. 1 der Charta jede Person das Recht hat, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.

98      Nach der Rechtsprechung gilt dieses Recht nicht uneingeschränkt, und seine Ausübung kann Beschränkungen unterworfen werden, die durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind (Urteil vom 10. September 2024, Neves 77 Solutions, C‑351/22, EU:C:2024:723, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).

99      Allerdings muss nach Art. 52 Abs. 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

100    Zunächst einmal ergibt sich aus Rn. 96 des vorliegenden Urteils, dass die in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehene Regelung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang steht.

101    Sodann steht – wie in Rn. 79 des vorliegenden Urteils ausgeführt – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der genannten Regelung nicht entgegen. Zudem ermöglicht es diese Regelung, einen „angemessenen Ausgleich“ zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den Erfordernissen der Wahrung der Grundrechte des Einzelnen herzustellen, die sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben, auf die das vorlegende Gericht verwiesen hat, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist.

102    Schließlich ist nicht ersichtlich, dass die in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehene Regelung den Wesensgehalt des Eigentumsrechts der Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit einer Mehrwertsteuerschuld beeinträchtigt. Denn nach der dritten positiven Voraussetzung dieser Regelung kann das persönliche Vermögen der Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder nur bis zur Höhe des Betrags der Schuld herangezogen werden, hinsichtlich dessen die zuvor gegenüber der betreffenden Gesellschaft durchgeführte Zwangsvollstreckung erfolglos geblieben ist.

103    Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 325 AEUV, dem Eigentumsrecht sowie den Grundsätzen der Gleichbehandlung, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der

–        das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit einer Mehrwertsteuerschuld gesamtschuldnerisch mit der Gesellschaft für die während seiner Amtszeit entstandenen Steuerrückstände haftet,

–        diese Haftung auf die Steuerrückstände beschränkt ist, hinsichtlich deren die Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschaft ganz oder teilweise erfolglos geblieben ist,

–        die Befreiung von dieser Haftung u. a. davon abhängt, dass das Mitglied oder ehemalige Mitglied des Verwaltungsrats nachweist, dass rechtzeitig ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft eingereicht wurde oder die Nichteinreichung des Antrags nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist,

sofern sich das Mitglied oder ehemalige Mitglied zum Nachweis des Nichtvorliegens eines solchen Verschuldens wirksam darauf berufen kann, dass es bei der Führung der Geschäfte der betreffenden Gesellschaft die gebotene Sorgfalt hat walten lassen, wobei zu berücksichtigen ist, dass das Mitglied oder ehemalige Mitglied insoweit nicht lediglich geltend machen kann, dass der einzige Gläubiger der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Feststellung ihrer dauerhaften Zahlungsunfähigkeit der Fiskus war.

Kosten

104    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

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