EuGH-Schlussanträge: MwSt – Verdacht der Steuerhinterziehung
GA Wahl, Schlussanträge vom 22.3.2018 – C-648/16, Fortunata Silvia Fontana gegen Agenzia delle Entrate – Direzione provinciale di Reggio Calabria
ECLI:EU:C:2018:213
Volltext:BB-ONLINE BBL2018-1045-2
Schlussanträge
Der GA schlägt dem Gerichtshof vor, die von der Commissione tributaria provinciale di Reggio Calabria (Finanzgericht der Provinz Reggio Calabria, Italien) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:
Die der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität stehen nationalen Rechtsvorschriften, die es den Behörden erlauben, die von einem Steuerpflichtigen, der vermutlich Mehrwertsteuer zu niedrig erklärt hat, geschuldete Steuer im Wege einer induktiven Methode festzusetzen, die auf Sektorenanalysen basiert, mit denen die wahrscheinlichen Einkünfte bestimmter Kategorien von Steuerpflichtigen geschätzt werden, nicht entgegen, vorausgesetzt, dass solche Rechtsvorschriften in Übereinstimmung mit den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgelegt werden.
Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu entscheiden, ob die konkrete Anwendung dieser Rechtsvorschriften im Einzelfall diese Grundsätze verletzt.
Aus den Gründen
1. Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) und die leitenden Grundsätze des Mehrwertsteuersystems nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die es den Behörden erlauben, die von einem Steuerpflichtigen, der vermutlich Mehrwertsteuer zu niedrig erklärt hat, geschuldete Steuer im Wege einer induktiven Methode festzusetzen, die auf Sektorenanalysen basiert, mit denen die wahrscheinlichen Erträge bestimmter Kategorien von Steuerpflichtigen geschätzt werden?
2. Dies ist im Kern die Frage, die im vorliegenden Verfahren gestellt und durch die Commissione tributaria provincial di Reggio Calabria (Finanzgericht der Provinz Reggio Calabria, Italien) zur Vorabentscheidung vorgelegt wird.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
3. Der 59. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Es ist in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen angebracht, dass die Mitgliedstaaten von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen ergreifen oder weiter anwenden können, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder bestimmte Formen der Steuerhinterziehung oder -umgehung zu verhüten.“
4. Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Bei der Lieferung von Gegenständen oder Dienstleistungen, die nicht unter die Art. 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
5. Art. 242 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und ihre Kontrolle durch die Steuerverwaltung ermöglichen.“
6. Art. 244 derselben Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige sorgt für die Aufbewahrung von Kopien aller Rechnungen, die er selbst, der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder ein Dritter in seinem Namen und für seine Rechnung ausgestellt hat, sowie aller Rechnungen, die er erhalten hat.“
7. Art. 250 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.“
8. Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
…“
B. Nationales Recht
9. Art. 39 des Decreto del Presidente della Repubblica vom 29. September 1973 Nr. 600(3) (Präsidialdekret Nr. 600/1973) bestimmt:
„Im Fall von Unternehmenseinkünften natürlicher Personen nimmt die [Steuer-]Behörde die Anpassung vor,
…
(d) wenn die Unvollständigkeit, Unrichtigkeit oder Ungenauigkeit der in der Erklärung oder ihren Anhängen gemachten Angaben auf der Prüfung der buchhalterischen Ergebnisse oder auf anderen Ermittlungen im Sinne von Art. 33 oder auf der Prüfung der Vollständigkeit, Richtigkeit und Wahrheit der buchhalterischen Ergebnisse auf der Grundlage von auf das Unternehmen bezogenen Rechnungen und anderen Dokumenten sowie von durch die [Steuer-]Behörde gemäß Art. 32 gesammelten Daten und Informationen beruht. Auf das Vorhandensein nicht angegebener Tätigkeiten oder das Nichtvorhandensein angegebener Verbindlichkeiten kann auch auf der Grundlage einfacher Vermutungen rückgeschlossen werden, sofern diese ernsthaft, klar und kohärent sind.
…“
10. Art. 54 des Decreto del Presidente della Repubblica vom 26. Oktober 1972 Nr. 633(4) (Präsidialdekret Nr. 633/1972) bestimmt im Wesentlichen, dass die Feststellung der Richtigkeit von Mehrwertsteuererklärungen im Wege einer formalen Überprüfung der durch das Unternehmen eingereichten Erklärung erreicht werden kann oder, genauer, auf der Grundlage der der Steuerverwaltung zur Verfügung stehenden Informationen und Daten oder auf der Grundlage der Informationen und Daten, die die Verwaltung kraft ihrer Ermittlungsbefugnisse erlangt hat.
11. Art. 62bis des Decreto-legge vom 30. August 1993 Nr. 331(5) (Gesetzesdekret Nr. 331/93) lautet:
„Die Abteilungen der Einnahmensektion des Finanzministeriums erstellen nach Anhörung der Berufs- und Spartenvereinigungen … entsprechende Sektorenanalysen für die einzelnen Wirtschaftssektoren, um die Veranlagung effizienter zu gestalten und eine klarere Festlegung der Bestimmungsfaktoren nach Art. 11 des Gesetzesdekrets [vom] 2. März 1989, Nr. 69, … zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wählen diese Abteilungen signifikante Stichproben von Steuerpflichtigen der jeweiligen Sektoren aus, die sie Kontrollen zur Bestimmung charakteristischer Merkmale für die ausgeübte Tätigkeit unterwerfen. Die Sektorenanalysen werden mit Dekreten des Finanzministers gebilligt …; sie können angepasst werden und gelten für Veranlagungen ab dem Besteuerungsjahr 1995.“
12. Art. 62sexies Abs. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 331/93 lautet:
„Die Veranlagungen nach Art. 39 Abs. 1 Buchstabe d [des Präsidialdekrets Nr. 600/1973] und Art. 54 [des Präsidialdekrets Nr. 633/1972] können auch auf das Vorliegen von gravierenden Divergenzen zwischen den angegebenen Erträgen, Vergütungen und Entgelten und jenen Werten, die sich berechtigterweise aus den Merkmalen und Ausübungsbedingungen der spezifischen Tätigkeit oder aus im Sinne des Art. 62bis dieses Dekrets durchgeführten Sektorenanalysen ableiten lassen, gestützt werden.“
13. Art. 10 der Legge vom 8. Mai 1998 Nr. 146(6) (Gesetz Nr. 146/1998) bestimmt:
„1. Die Veranlagungen auf der Grundlage der Sektorenanalysen … gelten für Steuerpflichtige nach dem in diesem Artikel festgelegten Verfahren, wenn erklärte Erträge oder Vergütungen niedriger sind als die Erträge oder Vergütungen, die auf der Grundlage solcher Studien bestimmt werden können.
…
3bis. In den in Absatz 1 genannten Fällen ersucht [die Steuerbehörde] den Steuerpflichtigen, gemäß Art. 5 des Gesetzesdekrets Nr. 218 vom 19. Juni 1997 vorstellig zu werden, bevor sie den Steuerbescheid erlässt.
3ter. Wird die Unzulänglichkeit der Erträge auf der Grundlage der Sektorenanalysen bestimmt, können die Gründe, die es rechtfertigen, die Unzulänglichkeit der Erträge in Anwendung dieser Studien für unangemessen zu erklären, bescheinigt werden. Die Gründe für Divergenzen zwischen der Erklärung und den durch die oben genannten Studien ermittelten wirtschaftlichen Indikatoren können ebenfalls bescheinigt werden. Eine solche Bescheinigung wird auf Antrag der Steuerpflichtigen ausgestellt …
…
5. Für Zwecke [der Mehrwertsteuer] wird auf die höheren Erträge oder Vergütungen, die auf der Grundlage der besagten Sektorenanalysen unter Berücksichtigung vorhandener steuerfreier Umsätze oder von Umsätzen, die besonderen Regelungen unterliegen, ermittelt werden, der Durchschnittssatz angewandt, der sich aus dem Verhältnis zwischen der Steuer auf steuerpflichtige Umsätze und dem erklärten Umsatz, ohne Steuer auf Lieferungen abschreibungsfähiger Gegenstände, ergibt.
…
7. Durch Erlass des Finanzministers wird unter Berücksichtigung der von Wirtschaftsorganisationen und Berufsverbänden erstatteten Berichte eine Sachverständigenkommission gebildet, die durch den Minister ernannt wird. Vor der Genehmigung und Veröffentlichung jeder Sektorenanalyse gibt diese Kommission eine Stellungnahme ab über die Eignung dieser Studien, die Realität, auf die sie sich beziehen, abzubilden. …
…“
II. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage
14. Frau Fortunata Silvia Fontana erhielt für das Jahr 2010 einen Nacherhebungsbescheid, der u. a. ihre Mehrwertsteuer umfasste.
15. Die Agenzia delle Entrate (Finanzverwaltung, Italien) ersuchte sie mit Schreiben vom 14. Mai 2014, vorstellig zu werden, was zur Eröffnung eines kontradiktorischen Verfahrens führte, in dessen Verlauf Frau Fontana Gründe darlegte und Dokumente vorlegte, um die Feststellungen zu widerlegen, wonach vermutet wurde, dass ihre Erträge höher seien als die erklärten. Die Steuerbehörde hielt das Vorbringen und die vorgelegten Dokumente jedoch nicht für überzeugend und schickte Frau Fontana am 24. Dezember 2014 einen Steuerbescheid für das Jahr 2010, u. a. über nicht entrichtete Mehrwertsteuer.
16. Das Steuerveranlagungsverfahren folgte aus der Anwendung der Sektorenanalyse in der Kategorie Wirtschaftsprüfer und Steuerberater auf Frau Fontana.
17. Die Klägerin erhob Klage vor der Commissione tributaria provincial di Reggio Calabria (Finanzgericht der Provinz Reggio Calabria), in der sie sich u. a. gegen die Höhe der durch die Steuerbehörde geltend gemachten Mehrwertsteuerschuld wandte. Insbesondere machte sie geltend, dass die Steuerbehörde auf ihre Situation zu Unrecht die Sektorenanalyse über freie Wirtschaftsprüfer und Steuerberater anstelle der Studie über Arbeitsberater, was sie als ihre Haupttätigkeit ansieht, angewandt habe. Darüber hinaus trägt sie vor, dass die Höhe der durch die Steuerbehörde geltend gemachten Mehrwertsteuer lediglich auf der Grundlage einer Sektorenanalyse bestimmt worden sei, die nicht die wirtschaftlichen Tätigkeiten berücksichtige, die sie tatsächlich ausgeführt habe.
18. Da dieses Gericht Zweifel hinsichtlich der zutreffenden Auslegung des Unionsrechts hegte, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist die in den Art. 62sexies Abs. 3 und 62bis des Gesetzesdekrets 331/93, (umgewandelt mit dem Gesetz vom) 29. Oktober 1993, Nr. 427, festgelegte nationale italienische Regelung im Hinblick auf die Einhaltung der Abzugsbestimmungen und der Verpflichtung, den Kunden die Mehrwertsteuer in Rechnung zu stellen, sowie allgemein in Bezug auf die Grundsätze der Neutralität und der Abwälzung der Besteuerung mit den Art. 113 und 114 AEUV sowie der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar, soweit sie es erlaubt, einen induktiv festgestellten Gesamtumsatz der Mehrwertsteuer zu unterwerfen?
19. Die italienische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Darüber hinaus haben sie in der Sitzung vom 18. Januar 2018 mündlich verhandelt.
III. Würdigung
20. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und die leitenden Grundsätze des Mehrwertsteuersystems dahin gehend auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie denjenigen, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, entgegenstehen, die es den Behörden erlauben, die von einem Steuerpflichtigen, der vermutlich Mehrwertsteuer zu niedrig erklärt hat, geschuldete Steuer im Wege einer induktiven Methode festzusetzen, die auf Sektorenanalysen basiert, mit denen die wahrscheinlichen Einkünfte einer bestimmten Kategorie von Steuerpflichtigen geschätzt werden.
21. Soweit ich weiß, hat der Gerichtshof bislang noch nie die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften, die denjenigen gleichen, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, mit den dem Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Bestimmungen und Grundsätzen geprüft. Obwohl diese Rechtsvorschriften eine Reihe von Besonderheiten aufweisen, erläutert das vorlegende Gericht bedauerlicherweise nicht ausführlich, warum sie mit den Regelungen und Grundsätzen des Mehrwertsteuersystems unvereinbar sein sollen.
22. Aus dem Vorlagebeschluss scheint jedenfalls hervorzugehen, dass sich die Zweifel des vorlegenden Gerichts hauptsächlich auf einen möglichen Verstoß gegen die der Mehrwertsteuerrichtlinie zugrunde liegenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität beziehen. Insbesondere überlegt das vorlegende Gericht, ob ein System, durch das die von einem Steuerpflichtigen zu entrichtende Mehrwertsteuer nicht auf der Grundlage der durch ihn bewirkten individuellen Umsätze festgestellt, sondern aufgrund seines errechneten Gesamtumsatzes berechnet wird, sich nicht nachteilig auf die Fähigkeit des Steuerpflichtigen auswirkt, einerseits entrichtete Vorsteuer abzuziehen und andererseits entrichtete Mehrwertsteuer auf seine Dienstleistungsempfänger „überzuwälzen“. Insbesondere betont das vorlegende Gericht, dass der Steuerpflichtige mit der gesamten von den Steuerbehörden als geschuldet erachteten Steuer belastet bleibt, einschließlich des Teils der Steuer, den er seinen Dienstleistungsempfängern hätte in Rechnung stellen müssen.
23. Vor diesem Hintergrund und angesichts der zuvor erwähnten Kürze des Vorlagebeschlusses sowie der nicht besonders detaillierten Ausführungen der italienischen Regierung werde ich meine Würdigung auf diese Besonderheiten konzentrieren und andere Elemente, die dem Gerichtshof nicht ausdrücklich zur Kenntnis gebracht und demzufolge auch nicht von den Parteien erörtert worden sind, außer Betracht lassen.
24. Bevor ich diese Fragen untersuche, halte ich es jedoch für sinnvoll, kurz die Funktionsweise der nationalen Rechtsvorschriften darzulegen, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind.
A. Die Sektorenanalysen
25. Soweit ich es verstehe, werden die Sektorenanalysen, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, durch das italienische Finanzministerium nach Anhörung der Berufs- und Spartenvereinigungen vorbereitet und genehmigt.
26. Diese Studien stützen sich auf wirtschaftliche Analysen sowie auf statistische und mathematische Techniken und werden genutzt, um die wahrscheinlichen Erträge bestimmter Kategorien von Steuerpflichtigen zu schätzen. Dies wird erreicht, indem das potenzielle Vermögen dieser Kategorien von Steuerpflichtigen, Erträge zu erzielen, unter Berücksichtigung der internen und externen Faktoren, die dieses Leistungsvermögen beeinflussen können (wie z. B. der Zeitplan der Tätigkeit, die Marktlage etc.), ermittelt wird. Genauer gesagt werden die Sektorenanalysen vorbereitet, indem für jede Kategorie das Verhältnis zwischen Buchführung und strukturellen Variablen, sowohl innerbetrieblicher (Produktionsprozess, Vertriebsgebiet etc.) als auch außerbetrieblicher Art (Entwicklung der Nachfrage, Preisniveau, Wettbewerb), beobachtet werden. Sektorenanalysen berücksichtigen zudem die Charakteristika des räumlichen Gebiets, in dem der Steuerpflichtige tätig ist.
27. Sektorenanalysen können von den Steuerpflichtigen als Bezugspunkt genutzt werden, wenn diese ihre Erklärungen bei der Steuerbehörde einreichen, werden aber auch von der Steuerbehörde für Kontrollen genutzt. Die Sektorenanalyse, die auf einen bestimmten Sachverhalt anwendbar ist, ist diejenige, die für die „vorherrschende Tätigkeit“ des Steuerpflichtigen maßgeblich ist: die Tätigkeit, die dem Steuerpflichtigen im maßgeblichen Zeitraum die höchsten Erträge eingebracht hat.
B. Der allgemeine Rahmen
28. Nachdem ich die wesentlichen Charakteristika der in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften dargelegt habe, halte ich es für sinnvoll, kurz die maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesen Vorschriften in Erinnerung zu rufen. Tatsächlich hat der Gerichtshof in einer Reihe von Fällen bereits für Klarstellung hinsichtlich verschiedener Aspekte des Mehrwertsteuerrechts, die für das gegenwärtige Verfahren von Bedeutung sind, gesorgt.
1. Die Rolle der Steuerpflichtigen und die Steuerbemessungsgrundlage
29. Erstens ist zu betonen, dass das Grundprinzip des Mehrwertsteuersystems darin besteht, dass nur der Endverbraucher belastet werden soll. Folglich kann die Steuerbemessungsgrundlage, die als Grundlage für die von den Steuerbehörden zu erhebende Mehrwertsteuer dient, nicht die Gegenleistung übersteigen, die der Endverbraucher erbracht hat und auf deren Grundlage die letztlich von ihm getragene Mehrwertsteuer berechnet worden ist. Die Steuerpflichtigen selbst werden nämlich durch die Mehrwertsteuer nicht belastet. Sie sind, wenn sie auf den vor dem Stadium der endgültigen Besteuerung liegenden Produktions- und Verfahrensstufen tätig sind, nur verpflichtet, auf jeder dieser Stufen die Steuer für Rechnung der Steuerbehörden einzuziehen und sodann an diese abzuführen(7).
30. In Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es, dass die Steuerbemessungsgrundlage bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen alles umfasst, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger erhält oder erhalten soll(8). Diese Gegenleistung stellt den subjektiven, nämlich tatsächlich erhaltenen Wert und nicht einen nach objektiven Kriterien geschätzten Wert dar(9). Erhöben die Steuerbehörden einen Betrag, der die vom Endverbraucher tatsächlich gezahlte Steuer übersteigt, wäre der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer gegenüber den Steuerpflichtigen nicht gewahrt(10).
31. Um die vollständige Neutralität des Systems gegenüber den Steuerpflichtigen zu gewährleisten, sieht die Mehrwertsteuerrichtlinie eine Abzugsregelung vor, durch die der Steuerpflichtige von jeder Belastung durch nicht geschuldete Mehrwertsteuer freigestellt werden soll. Ein Grundelement des Mehrwertsteuersystems ist daher, dass die Mehrwertsteuer bei allen Umsätzen nur abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet wird, der die verschiedenen Kostenelemente der Gegenstände und Dienstleistungen unmittelbar belastet hat(11).
2. Die Pflichten der Steuerpflichtigen
32. Zweitens hat jeder Steuerpflichtige gemäß Art. 242 der Mehrwertsteuerrichtlinie Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass die Mehrwertsteuer erhoben und ihre Erhebung durch die Steuerbehörden kontrolliert werden kann. Art. 244 dieser Richtlinie verlangt zudem, dass die Steuerpflichtigen die Aufbewahrung aller Rechnungen, die sie ausgestellt und erhalten haben, sicherstellen. Darüber hinaus müssen die Steuerpflichtigen gemäß Art. 250 Abs. 1 derselben Richtlinie eine Mehrwertsteuererklärung abgeben, die alle für die Festsetzung der dem Staat geschuldeten Steuer erforderlichen Angaben enthält.
33. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass aus den Art. 2, 250 Abs. 1 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie aus Art. 4 Abs. 3 EUV hervorgeht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen. Eine betrügerische Verhaltensweise eines Steuerpflichtigen, wie die Verschleierung von Lieferungen und Einnahmen, darf der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht entgegenstehen. Die Behörden der Mitgliedstaaten müssen in diesem Fall tätig werden, um die Situation wiederherzustellen, die ohne die Steuerhinterziehung bestanden hätte(12).
34. Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 273 dieser Richtlinie außer den von ihm festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, und dass er diesen daher in Bezug auf die Mittel zur Erreichung der oben genannten Ziele einen Ermessensspielraum einräumt. Die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen dürfen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, dürfen jedoch nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen (Verhältnismäßigkeit) und die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen(13).
35. Die gleichen Grundsätze gelten im Hinblick auf die Sanktionen, die die Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen Verpflichtungen aus dem Mehrwertsteuerrecht verhängen dürfen. Da die Mehrwertsteuerrichtlinie kein System von Sanktionen bereitstellt, behalten die Mitgliedstaaten die Befugnis, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze zu beachten. Insbesondere dürfen diese Sanktionen nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen(14) und die Neutralität der Mehrwertsteuer unterlaufen(15).
C. Die in diesem Verfahren aufgeworfenen Fragen
36. Vor diesem Hintergrund werde ich die im vorliegenden Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen prüfen. Ich werde jedoch nur prüfen, ob nationale Rechtsvorschriften, die es den Steuerbehörden erlauben, die von einem Steuerpflichtigen, der vermutlich Mehrwertsteuer zu niedrig erklärt hat, geschuldete Steuer im Wege einer induktiven Methode, die auf Sektorenanalysen basiert, festzusetzen, per se gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität verstoßen.
37. Aufgrund der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist es nämlich Sache der nationalen Gerichte, unter Berücksichtigung der Hinweise des Gerichtshofs zu entscheiden, ob die konkrete Anwendung dieser Rechtsvorschriften im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens möglicherweise gegen diese Grundsätze verstößt(16).
1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
38. Hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit werde ich darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, dass ein System wie das in den streitigen nationalen Rechtsvorschriften festgelegte nicht über das hinausreicht, was erforderlich ist, um die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden.
39. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass die Steuerbehörden im Fall von Betrug oder Steuerhinterziehung die von einem Steuerpflichtigen eingereichten fehlerhaften Mehrwertsteuererklärungen außer Acht lassen und, wo erforderlich, von den Ergebnissen seiner Buchführung abweichen können – und dies wohl auch müssen. Die Steuerbehörden müssen die Höhe der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer auf der Grundlage der tatsächlich durch ihn ausgeführten Umsätze berechnen, auch wenn keine Rechnung ausgestellt wurde und in den Büchern keine Aufzeichnungen über diese Vorgänge festgestellt werden können.
40. Meiner Auffassung nach müssen die Steuerbehörden, um die Steuerhinterziehung, die sich aus der „Schattenwirtschaft“ ergibt, wirksam zu bekämpfen, wohl oft auf induktive Methoden zurückgreifen oder sich mit einer gewissen Anzahl von Annahmen behelfen, wenn sie die wirtschaftlichen Ergebnisse von Steuerpflichtigen schätzen, die im Verdacht stehen, Fehler oder Verstöße begangen zu haben. Insbesondere dann, wenn es keine schriftlichen Belege gibt, um die Realität zu rekonstruieren, erscheint es manchmal nahezu unvermeidlich, dass die Steuerbehörden Tatsachen für prima facie festgestellt erachten, die unter Berücksichtigung aller bedeutsamen Umstände als sehr wahrscheinlich erscheinen.
41. Es gibt meiner Meinung nach keinen Grund, weshalb die Steuerbehörden sich in diesem Zusammenhang nicht statistischer und wirtschaftlicher Daten bedienen sollten, um realistische Maßstäbe zu entwickeln und mögliche Anomalien festzustellen. Die Entscheidung, ein Instrument wie Sektorenanalysen zu nutzen, um Steuerpflichtige zu identifizieren, die möglicherweise Mehrwertsteuer zu niedrig erklärt haben, und um eventuell rückständige Beträge festzusetzen, scheint daher in den Spielraum zu fallen, den die Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten einräumt, um die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu verhindern.
42. Es ist jedoch beinahe überflüssig, hervorzuheben, dass die endgültigen Feststellungen, die die Steuerbehörde in Bezug auf Steuerrückstände trifft, die wirtschaftlichen Ergebnisse des Steuerpflichtigen wirklichkeitsgetreu abbilden müssen. Mit anderen Worten muss jede durch die Steuerbehörde vorgenommene Anpassung selbstverständlich als solche richtig sein. Damit dies der Fall sein kann, muss, wenn eine induktive Methode zur Schätzung des Umsatzes eines Steuerpflichtigen verwendet wird, diese Methode geeignet sein, zu wahrheitsgetreuen Ergebnissen zu führen. Genauer gesagt müssen Sektorenanalysen, wenn sie eingesetzt werden, um bestimmte Annahmen hieraus abzuleiten, genau, verlässlich und aktuell sein.
43. Tatsächlich können die Steuerbehörden, wie oben erwähnt, abgesehen von Strafen, die rechtmäßig für Betrug oder Steuerhinterziehung verhängt werden können, als nicht erklärte Mehrwertsteuer keinen höheren Betrag geltend machen als den, den ein Steuerpflichtiger von seinen Erwerbern erhalten hat (oder hätte erhalten sollen). Die Steuerbehörden können die Nacherhebung nicht entrichteter Mehrwertsteuer nicht mit der Verhängung von Strafen für den Verstoß gegen Mehrwertsteuervorschriften verschmelzen. Dies sind verschiedene Instrumente unterschiedlicher Art und mit unterschiedlichen Funktionen(17).
44. Folglich müssen die Mitgliedstaaten dort, wo es zu den betreffenden steuerbaren Umsätzen keine genauen Daten gibt, verfahrensrechtliche Instrumente nutzen, die das Erfordernis, den Nachweis nicht erklärter Mehrwertsteuer zu erlauben und deren Berechnung zu erleichtern, damit in Einklang bringen, dass die Beträge, die als nicht entrichtet geltend gemacht werden, so weit wie möglich den nach Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie zulässigen Beträgen entsprechen müssen und nicht darüber hinausgehen dürfen(18). Dieser Standpunkt scheint durch den 59. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt zu werden, der ausdrücklich den Spielraum anerkennt, den Mitgliedstaaten innerhalb bestimmter Grenzen und unter bestimmten Voraussetzungen nutzen dürfen, um Maßnahmen zu ergreifen, die auf die Vereinfachung der Steuererhebung und die Verhinderung von Steuerhinterziehung oder -umgehung gerichtet sind.
45. Vor diesem Hintergrund scheint mir, dass nationale Rechtsvorschriften, die es den Steuerbehörden erlauben würden, den Umstand, dass Mehrwertsteuer nicht erklärt wurde, festzustellen und ihren Betrag lediglich (oder hauptsächlich) auf der Grundlage von Annahmen zu bestimmen, die aus den Unterschieden zwischen den vom Steuerpflichtigen erklärten Erträgen und denen, die auf der Grundlage von Sektorenanalysen geschätzt wurden, herrühren, nicht das richtige Mittelmaß zwischen diesen beiden Anforderungen träfen. Einerseits würde ein solches System zugegebenermaßen die Aufgabe der Steuerbehörde, Steuern zu erheben sowie Steuerhinterziehung und -umgehung zu verhindern, vereinfachen. Andererseits schiene dieses System jedoch kaum geeignet, um ein wahrheitsgetreues Bild der wirtschaftlichen Realität in jedem Einzelfall wiederzugeben. Es würde daher aller Wahrscheinlichkeit nach zu häufigen Fehlern führen, oftmals zum Nachteil der Steuerpflichtigen. Ein solches System ginge damit über das hinaus, was erforderlich ist, um die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung oder -umgehung zu verhindern.
46. Dies scheint jedoch angesichts der in den Prozessakten enthaltenen Elemente bei den nationalen Rechtsvorschriften, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, nicht der Fall zu sein. Ich sehe zwei Hauptgründe, weshalb diese Rechtsvorschriften unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nicht als problematisch erscheinen.
47. Erstens implizieren die streitigen nationalen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die italienischen Gerichte, dass die Sektorenanalysen nur Indizien für mögliche Unregelmäßigkeiten in den Erklärungen eines Steuerpflichtigen liefern. Daher führt eine signifikante Abweichung von den Ergebnissen dieser Studien nicht automatisch zu einer nachteiligen Entscheidung der Behörden. Sie kann lediglich zur Eröffnung eines kontradiktorischen Verfahrens führen, das zum Ziel hat, die tatsächliche wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen festzustellen. Folglich ist es die Überprüfung und „Korrektur“ dieser Ergebnisse unter Berücksichtigung der durch den Steuerpflichtigen vorgelegten Elemente, die es den Steuerbehörden erlaubt, zu bestimmen, ob im Einzelfall eine Steuerhinterziehung oder -umgehung vorgelegen hat, und die Höhe des geschuldeten Betrags zu beziffern. Wichtig ist, dass die Einbeziehung des betreffenden Steuerpflichtigen in das Verwaltungsverfahren – wofür ihm ein angemessener Zeitraum zur Vorbereitung seiner Verteidigung eingeräumt werden muss – nach der nationalen Rechtsprechung ein wesentliches Verfahrenserfordernis für die Rechtmäßigkeit der durch die Steuerbehörde vorgenommenen Festsetzung ist(19).
48. Zweitens führt die Divergenz zwischen den von einem Steuerpflichtigen erklärten wirtschaftlichen Daten und denen, die sich aus der Anwendung einer Sektorenanalyse ergeben können, nicht zu einer rechtlichen Vermutung. Tatsächlich kann die Anwendung einer Sektorenanalyse auf einen Einzelfall nur zu einer einfachen Vermutung („presunzione semplice“) im Sinne von Art. 2729 Abs. 1 des italienischen Zivilgesetzbuchs führen. Nach dieser Vorschrift bleibt die Prüfung solcher Vermutungen der „freien richterlichen Beweiswürdigung“ überlassen, wobei der Richter sie nur zulassen darf, wenn sie „ernsthaft, klar und kohärent“ sind.
49. Daher bewirkt die Anwendung der Sektorenanalyse auf einen Einzelfall keine wirkliche Verschiebung der Beweislast: Es ist immer noch die Steuerbehörde, die in rechtlich hinreichender Weise den Beweis für das Vorliegen eines angeblich durch den Steuerpflichtigen begangenen Verstoßes erbringen muss. Die Anwendung der Sektorenanalyse hat jedoch zur Folge, dass dem Steuerpflichtigen eine Darlegungslast auferlegt wird: Er muss Gründe darlegen und Belege vorlegen, die erklären können, weshalb seine Ergebnisse von denen, die von einem ähnlichen Unternehmen normalerweise hätten erwartet werden können, abweichen. Nach meinem Verständnis muss die Steuerbehörde solche Elemente berücksichtigen und, wenn sie sie nicht für überzeugend hält, in ihrer abschließenden Beurteilung die Gründe hierfür darlegen. Im Fall eines sich anschließenden gerichtlichen Verfahrens würdigt letzten Endes der Richter nach freiem Ermessen die dargelegten Tatsachen, ohne an Vermutungen gebunden zu sein.
50. Dies vorausgeschickt ist darauf hinzuweisen, dass nationale Regelungen, die die Erhebung nicht erklärter Mehrwertsteuer betreffen, als Durchführung der Regelungen der Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen sind und als solche in Übereinstimmung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ausgelegt und angewandt werden müssen(20).
51. Dieser Aspekt ist meiner Auffassung nach im vorliegenden Fall sehr wichtig. Tatsächlich erweitern Rechtsvorschriften wie jene, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, in nicht unerheblicher Weise die Befugnisse der Verwaltung gegenüber den Steuerpflichtigen. Die Verwaltung ist im Verhältnis zu bestimmten Steuerpflichtigen befugt, unter Rückgriff auf statistische und wirtschaftliche Daten, die diese Steuerpflichtigen nicht betreffen, primafacie bestimmte Vermutungen anzustellen. Meiner Auffassung nach ist, damit ein solches System verhältnismäßig ist, die strikte Übereinstimmung mit den Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) und 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“) der Charta erforderlich.
52. Dies bedeutet erstens, dass, bevor die Steuerbehörden eine für einen Steuerpflichtigen nachteilige Maßnahme ergreifen, dieser in eine Lage versetzt werden muss, aus der heraus er seine Sichtweise in Bezug auf die Informationen, auf die die Behörden ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigen, wirksam vorbringen kann. Dieser Person sollte genügend Zeit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung eingeräumt werden(21). Zweitens muss jede durch die Steuerbehörden vorgenommene Festsetzung vor einem Gericht anfechtbar sein, das alle Sach- und Rechtsfragen, die durch diese Person geltend gemacht werden, prüfen darf.
53. In dieser Hinsicht meine ich, dass ein Steuerpflichtiger, soweit die Anwendung der Sektorenanalyse betroffen ist, insbesondere in der Lage sein muss, die sachliche Richtigkeit der Studie(22) und/oder deren Relevanz für die Bewertung seines Einzelfalls (z. B. wegen in der Studie [nicht] in Betracht gezogener Elemente, die die vorgenommenen Schätzungen beeinflussen können) zu bestreiten.
54. Angesichts dessen ist der Maßstab, dem ein Steuerpflichtiger gerecht werden muss, um seiner Darlegungslast zu genügen und die einfache Vermutung, die sich aus der Anwendung der Studie ergibt, zu entkräften, offensichtlich eine Frage von entscheidender Bedeutung. Meiner Meinung nach muss sich dieser Maßstab nach den durch die Steuerbehörde gesammelten Elementen, die die Ergebnisse der Studie belegen, richten: Je zahlreicher und glaubhafter die Elemente sind, desto höher ist die Hürde, die der Steuerzahler überwinden muss, und umgekehrt.
55. In diesem Zusammenhang sollte jedoch nicht übersehen werden, dass alle Unternehmen nicht nur Risiken und Unsicherheiten ausgesetzt sind, sondern dass sie auch durch weitgehend zufällige Ereignisse beeinflusst werden können. Nicht jeder Geschäftsrückgang oder jedes negative Ergebnis eines Unternehmens kann ex ante leicht vorhergesagt und ex post logisch erklärt (geschweige denn im gerichtlichen Verfahren in rechtlich hinreichender Weise bewiesen) werden. Um eine Vermutung, die aus der Anwendung einer Sektorenanalyse herrührt, zu entkräften, kann der Steuerpflichtige daher gezwungen sein, negative Tatsachen (wie z. B. das Fehlen oder eine geringe Zahl steuerbarer Umsätze in einem bestimmten Zeitraum) zu beweisen, was unter bestimmten Umständen ein recht schwieriges Unterfangen sein kann. Das mit der Sache befasste nationale Gericht muss diesem Aspekt daher Rechnung tragen, wenn es die Gründe und Beweise bewertet, die der Steuerpflichtige zur Widerlegung einer Festsetzung dargelegt bzw. erbracht hat, die u. a. auf einer Studie beruht, die ihre Grundlage in statistischen und wirtschaftlichen Daten hat.
56. Ich bin somit der Auffassung, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen nicht per se gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, sofern sie in Einklang mit den Art. 47 und 48 der Charta angewandt werden.
2. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität
57. In Bezug auf die steuerliche Neutralität sehe ich keine Veranlassung, in nationalen Rechtsvorschriften wie denen, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, per se einen Verstoß gegen diesen Grundsatz zu sehen, und das hauptsächlich aus zwei Gründen.
58. Einerseits hindert einen Steuerzahler, der einer Steuerfestsetzung auf der Grundlage einer Sektorenanalyse unterliegt, nichts daran, den gesamten Vorsteuerabzug, für den er hinreichende Beweise erbringen kann, geltend zu machen. Mit anderen Worten sehe ich nicht ein, weshalb die Befugnis der Steuerbehörde, nicht erklärte Mehrwertsteuer u. a. mittels Vermutungen, die sich aus Sektorenanalysen ergeben, zu ermitteln und der Höhe nach festzustellen, Einfluss auf das Recht des Steuerpflichtigen haben sollte, den Vorsteuerabzug geltend zu machen.
59. Jedenfalls ergibt sich aus den vorstehend genannten Grundsätzen, dass die Steuerbehörden sich ein wahrheitsgetreues Bild der wirtschaftlichen Situation der Steuerpflichtigen verschaffen müssen und dass sie – ungeachtet der Sanktionen, die möglicherweise verhängt werden – keinen höheren Betrag als den tatsächlich geschuldeten als nicht entrichtete Steuer geltend machen können.
60. Andererseits bin ich auch von dem im Vorlagebeschluss angeführten Argument der „Überwälzung“ nicht überzeugt. Im Fall der Steuerhinterziehung oder -umgehung stellt die durch die Steuerbehörde geltende gemachte rückständige Mehrwertsteuer den Teil der vom Steuerpflichtigen im Zusammenhang mit dem nicht versteuerten Umsatz tatsächlich erhaltenen Gegenleistung dar, der dem anwendbaren Mehrwertsteuersatz entspricht(23).
61. Jedenfalls kann sich ein Steuerpflichtiger, der für einen Betrug oder eine Steuerhinterziehung einzustehen hat, in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren nicht auf den Grundsatz der Neutralität berufen und seine Situation mit der eines Steuerpflichtigen vergleichen, der seine Verpflichtungen nach dem Unionsrecht und den nationalen Mehrwertsteuervorschriften ordnungsgemäß erfüllt hat. Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Maya Marinova entschieden hat, befinden sich die Steuerpflichtigen, die eine Steuerhinterziehung begangen haben, die insbesondere darin besteht, steuerbare Umsätze und damit zusammenhängende Einnahmen zu verheimlichen, nicht in einer Situation, die mit der Situation der Steuerpflichtigen zu vergleichen ist, die ihre Verpflichtungen zu Aufzeichnungen, zur Erklärung und zur Entrichtung der Mehrwertsteuer erfüllen. Unter diesen Umständen kann der Grundsatz der steuerlichen Neutralität von einem Steuerpflichtigen, der sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat und das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet hat, nicht mit Erfolg geltend gemacht werden(24).
62. Daher bin ich der Auffassung, dass ein System, wie es in den streitigen nationalen Rechtsvorschriften festgeschrieben ist, auch nicht per se gegen den Grundsatz der Neutralität verstößt.
IV. Ergebnis …
1 Originalsprache: Englisch.
2 Im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie (ABl. 2006, L 347, S. 1).
3 Gazzetta Ufficiale Nr. 268 vom 16. Oktober 1973.
4 Gazzetta Ufficiale Nr. 292 vom 11. November 1972.
5 Gazzetta Ufficiale Nr. 203 vom 30. August 1993.
6 Gazzetta Ufficiale Nr. 110 vom 14. Mai 1998.
7 Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, EU:C:1996:400, Rn. 19 und 22).
8 Vgl. Urteil vom 20. Dezember 2017, Boehringer Ingelheim Pharma (C-462/16, EU:C:2017:1006, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
9 Vgl. Urteil vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
10 In diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, EU:C:1996:400, Rn. 24 und 28).
11 Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, EU:C:1996:400, Rn. 23).
12 Urteil vom 5. Oktober 2016, Maya Marinova (C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
13 Ebd. (Rn. 43 und 44).
14 Urteil vom 19. Juli 2012, Rēdlihs (C-263/11, EU:C:2012:497, Rn. 44).
15 Urteil vom 20. Juni 2013, Rodopi-M 91 (C-259/12, EU:C:2013:414, Rn. 32).
16 Vgl. in dieser Hinsicht Urteile vom 28. Juli 2016, Astone (C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 36), und vom 5. Oktober 2016, Maya Marinova (C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 46).
17 Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Januar 2009, K-1 (C-502/07, EU:C:2009:11, Rn. 18 und 19), vom 19. Juli 2012, Rēdlihs (C-263/11, EU:C:2012:497, Rn. 49), und vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 52).
18 Vgl. entsprechend Urteile vom 10. Juli 2008, Koninklijke Ahold (C-484/06, EU:C:2008:394, Rn. 39), und vom 5. Oktober 2016, Maya Marinova (C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 48).
19 Vgl. insbesondere Corte di Cassazione, Sezioni Unite, Urteile Nrn. 26635, 26636, 26637 und 26638 vom 18. Dezember 2009 und Nr. 18184 vom 29. Juli 2013.
20 Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013,Åkerberg Fransson (C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27).
21 Vgl. in dieser Hinsicht Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics (C-129/13 und C-130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 30, 33 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Aus diesem Grund halte ich ein Höchstmaß an Transparenz im Hinblick auf die bei der Erstellung der Studie verfolgte Methodik sowie die dort verwendeten Elemente und Parameter für unverzichtbar.
23 Vgl. Art. 73, 78a und 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
24 Urteil vom 5. Oktober 2016,Maya Marinova (C-576/15, EU:C:2016:740, Rn. 49).