EuGH: Möglichkeit, einen schriftlichen Vertrag einer Rechnung gleichzustellen
EuGH, Urteil vom 29.9.2022 – C-235/21; Raiffeisen Leasing, trgovina in leasing d. o. o. gegen Republika Slovenija, ECLI:EU:C:2022:739
Volltext BB-Online BB-ONLINE BBL2022-2323-1
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
ein Finanzierungsleasingvertrag, nach dessen Abschluss die Parteien keine Rechnung ausgestellt haben, als Rechnung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, wenn dieser Vertrag alle Angaben enthält, die erforderlich sind, damit die Steuerverwaltung feststellen kann, ob die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug im konkreten Fall erfüllt sind, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Raiffeisen leasing, trgovina in leasing d. o. o. (im Folgenden: Raiffeisen Leasing) und der Republika Slovenija (Republik Slowenien), vertreten durch das Ministrstvo za finance (Finanzministerium, Slowenien), über die Entrichtung der Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Titel IV („Steuerbarer Umsatz“) der Richtlinie 2006/112 umfasst Kapitel 1 („Lieferung von Gegenständen“).
4 Der in diesem Kapitel 1 enthaltene Art. 14 sieht vor:
„(1) Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
(2) Neben dem in Absatz 1 genannten Umsatz gelten folgende Umsätze als Lieferung von Gegenständen:
…
b) die Übergabe eines Gegenstands auf Grund eines Vertrags, der die Vermietung eines Gegenstands während eines bestimmten Zeitraums oder den Ratenverkauf eines Gegenstands vorsieht, der regelmäßig die Klausel enthält, dass das Eigentum spätestens mit Zahlung der letzten fälligen Rate erworben wird;
…“
5 Titel XI („Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“) der Richtlinie 2006/112 umfasst Kapitel 1 („Zahlungspflicht“), dessen Abschnitt 1 die Überschrift „Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“ trägt.
6 Art. 203 in diesem Abschnitt der Richtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“
7 Zu Kapitel 3 („Erteilung von Rechnungen“) des genannten Titels XI der Richtlinie 2006/112 gehören Abschnitt 2 („Definition der Rechnung“) mit den Art. 218 und 219, Abschnitt 3 („Ausstellung der Rechnung“) mit den Art. 220 bis 225 und Abschnitt 4 („Rechnungsangaben“) mit den Art. 226 bis 231.
8 Art. 218 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie erkennen die Mitgliedstaaten als Rechnung alle auf Papier oder elektronisch vorliegenden Dokumente oder Mitteilungen an, die den Anforderungen dieses Kapitels genügen.“
9 Art. 219 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Einer Rechnung gleichgestellt ist jedes Dokument und jede Mitteilung, das/die die ursprüngliche Rechnung ändert und spezifisch und eindeutig auf diese bezogen ist.“
10 Art. 220 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder trägt dafür Sorge, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:
1. er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person.
…“
11 In Art. 226 der Richtlinie 2006/112 heißt es:
„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:
…
9. den anzuwendenden Mehrwertsteuersatz;
10. den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag, außer bei Anwendung einer Sonderregelung, bei der nach dieser Richtlinie eine solche Angabe ausgeschlossen wird;
…“
12 Art. 227 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können von Steuerpflichtigen, die in ihrem Gebiet ansässig sind und dort Lieferungen von Gegenständen bewirken oder Dienstleistungen erbringen, verlangen, in anderen als den in Artikel 226 Nummer 4 genannten Fällen die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers im Sinne des Artikels 214 anzugeben.“
13 Art. 229 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Die Mitgliedstaaten verlangen nicht, dass die Rechnungen unterzeichnet sind.“
Slowenisches Recht
14 Art. 67 des Zakon o davku na dodano vrednost – ZDDV-1 (Mehrwertsteuergesetz) (Uradni list RS, Nr. 117/06 vom 16. November 2006) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung lautet:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss ein Steuerpflichtiger folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Art. 63 Abs. 1 Buchst. a des vorliegenden Gesetzes in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss der Steuerpflichtige eine gemäß den Art. 80.a bis 84.a des vorliegenden Gesetzes ausgestellte Rechnung besitzen;
…“
15 In Art. 76 dieses Gesetzes heißt es:
„(1) Entrichten muss die Mehrwertsteuer:
…
9. jede Person, die die Mehrwertsteuer in der Rechnung ausweist.“
16 Art. 81 Abs. 8 dieses Gesetzes bestimmt:
„Für die Zwecke dieses Gesetzes gelten als Rechnungen alle auf Papier oder elektronisch vorliegenden Dokumente, die den Anforderungen der Art. 80.a bis 84.a dieses Gesetzes genügen.“
17 Art. 82 dieses Gesetzes zählt die Angaben auf, die der Steuerpflichtige in der Rechnung aufführen muss, während Art. 83 dieses Gesetzes die Angaben aufzählt, die der Steuerpflichtige in der vereinfachten Rechnung machen muss.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 Die RED d. o. o. war Eigentümerin eines Grundstücks und eines Wohnhauses in Rožna dolina in der Stadtgemeinde Ljubljana (Slowenien). Diese Gesellschaft wollte an diesem Ort Neubauten errichten. Am 19. November 2007 schloss sie mit Raiffeisen Leasing einen Finanzierungsleasingvertrag (sale-and-lease back). Nach diesem Vertrag verpflichtete sich Raiffeisen Leasing, das Grundstück zu einem Preis zu kaufen, und RED verpflichtete sich, an Raiffeisen Leasing die monatlichen Leasingraten bis zur vollständigen Rückzahlung des Werts des Grundstücks und der zu errichtenden Gebäude zu zahlen, d. h. einen Betrag von 1 294 786,56 Euro (im Folgenden: Finanzierungsleasingvertrag). Der Mehrwertsteuerbetrag von 110 056,86 Euro war in diesem Vertrag ausgewiesen.
19 Raiffeisen Leasing stellte der RED keine Rechnung auf der Grundlage des Finanzierungsleasingvertrags aus, da die Mehrwertsteuer von ihr weder in Rechnung gestellt noch entrichtet worden war. RED machte auf der Grundlage des Finanzierungsleasingvertrags das Recht auf Vorsteuerabzug geltend und trug vor, dass es sich bei diesem Vertrag um eine Rechnung handle.
20 Am 22. November 2007 schlossen die Parteien des Finanzierungsleasingvertrags einen Kaufvertrag über das Grundstück (im Folgenden: Kaufvertrag), in dem ein Kaufpreis inklusive Mehrwertsteuer festgesetzt wurde. RED stellte für Raiffeisen Leasing eine Rechnung aus, in der die Mehrwertsteuer berücksichtigt wurde.
21 Im November 2007 machte Raiffeisen Leasing das Recht auf Vorsteuerabzug aus dem Kaufvertrag geltend.
22 Da RED ihre Verpflichtungen aus dem Finanzierungsleasingvertrag nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist erfüllt hatte, kündigten die Parteien diesen Vertrag am 21. Oktober 2011. Raiffeisen Leasing veräußerte das Grundstück daraufhin an einen Dritten zu einem Preis inklusive Mehrwertsteuer.
23 Am 25. Juli 2014 erging an RED ein Bescheid der slowenischen Steuerbehörde, mit dem ihr auf diesen Vertrag gestützter Antrag auf Vorsteuerabzug abgelehnt wurde. Mit diesem Bescheid der Steuerbehörde wurde die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt, und Raiffeisen Leasing erhielt daher das Recht, die geschuldete Mehrwertsteuer im Wege der Berichtigung herabzusetzen. Die Steuerbehörde stellte jedoch fest, dass diese Gesellschaft die für den Zeitraum vom 3. Januar 2008 bis zum 25. Juli 2014 geschuldete Mehrwertsteuer nicht entrichtet habe. Daher gab sie Raiffeisen Leasing auf, Zinsen auf die Steuerschuld in Höhe von 50 571,88 Euro zu zahlen.
24 Hinsichtlich des vom Kaufvertrag erfassten Umsatzes stellte die Steuerbehörde fest, dass er von der Mehrwertsteuer befreit sei.
25 Da die Parteien des Kaufvertrags jedoch keine Steuererklärung vorgelegt hätten, die eine optionale Besteuerung des in Rede stehenden Umsatzes ermöglichen würde, konnte das Recht auf Vorsteuerabzug nach Ansicht der Steuerbehörde unabhängig davon, ob eine Rechnung ausgestellt worden sei, in der die nicht geschuldete Mehrwertsteuer ausgewiesen worden sei, nicht geltend gemacht werden.
26 Folglich wurde Raiffeisen Leasing auferlegt, zusätzliche Mehrwertsteuer in Höhe von 44 200 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 11 841,97 Euro zu zahlen.
27 Die Tatsache, dass das Grundstück später von Raiffeisen Leasing veräußert wurde, ist nach Ansicht der Steuerbehörde unerheblich, da auf diese Veräußerung Mehrwertsteuer erhoben worden sei.
28 Nachdem Raiffeisen Leasing die Verwaltungsrechtsbehelfe ausgeschöpft hatte, rief sie den Upravno sodišče (Verwaltungsgericht, Slowenien) an, der ihre Klage abwies. Daraufhin legte sie Revision beim vorlegenden Gericht, dem Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof, Slowenien), ein.
29 Dieses Gericht weist darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Verpflichtung zur Zahlung der Mehrwertsteuer infolge der Ausstellung einer Rechnung, in der die Mehrwertsteuer ausgewiesen sei, auch dann entstehen könne, wenn die Rechnung bestimmte Angaben nicht enthalte, die nach der Richtlinie 2006/112 zu machen seien, u. a. wenn der Ort der in Rechnung gestellten Dienstleistung nicht angegeben sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2009, Stadeco, C‑566/07, EU:C:2009:380, Rn. 26 und 27).
30 Allerdings könne sich ein Vertrag als Rechtsakt, der dem Schuldrecht unterliege, von einer Rechnung unterscheiden und nur die Rechtsgrundlage für den mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz bilden, während die Rechnung zum Zeitpunkt der Verwirklichung des Tatbestands, der die Verpflichtung zur Zahlung der Mehrwertsteuer begründe, ausgestellt werden müsse.
31 Daher möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Vertrag nur dann als Rechnung im Sinne von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 angesehen werden kann, wenn ihm objektiv der von den Parteien klar zum Ausdruck gebrachte Wille zu entnehmen ist, ihn einer Rechnung im Zusammenhang mit einem bestimmten Umsatz gleichzustellen, so dass ein solcher Vertrag beim Erwerber vernünftigerweise die Überzeugung entstehen lassen kann, dass er auf seiner Grundlage die Vorsteuer abziehen könne.
32 Vor diesem Hintergrund hat der Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann ein schriftlicher Vertrag nur dann als Rechnung im Sinne von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 gelten, wenn er alle in Titel XI Kapitel 3 („Erteilung von Rechnungen“) dieser Richtlinie vorgeschriebenen Angaben enthält?
Wenn die Frage zu verneinen ist,
2. welche Angaben bzw. Umstände untermauern in jedem Fall den Standpunkt, dass ein schriftlicher Vertrag (auch) eine Rechnung darstellt, die gemäß Art. 203 der Richtlinie 2006/112 die Pflicht zur Zahlung der Mehrwertsteuer begründet?
Konkreter:
3. Kann ein schriftlicher Vertrag, der von zwei Mehrwertsteuerpflichtigen über die Lieferung von Gegenständen bzw. über die Erbringung von Dienstleistungen abgeschlossen wird, als Rechnung im Sinne von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 gelten, wenn aus ihm objektiv der klar zum Ausdruck gebrachte Wille des Verkäufers bzw. des Anbieters von Dienstleistungen als Vertragspartei hervorgeht, dass es sich um eine Rechnung in Verbindung mit einem bestimmten Umsatz handelt, die in dem Käufer verständlicherweise die Vermutung wecken kann, dass er auf ihrer Grundlage die Vorsteuer abziehen kann?
Zu den Vorlagefragen
33 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 203 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass ein Finanzierungsleasingvertrag, nach dessen Abschluss die Parteien keine Rechnung ausgestellt haben, als Rechnung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann und, wenn ja, welche Angaben dieser Vertrag zwingend enthalten muss, damit er als eine solche Rechnung angesehen werden kann.
34 Außerdem möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es insoweit von Belang ist, zu prüfen, ob dieser Vertrag objektiv den Willen des Verkäufers oder Dienstleistungserbringers erkennen lässt, dass er – wie im Fall einer Rechnung – beim Käufer die Überzeugung entstehen lassen kann, dass er auf der Grundlage dieses Vertrags die Vorsteuer abziehen kann.
35 Insoweit hat der Gerichtshof zum einen entschieden, dass die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer vom Aussteller dieser Rechnung geschuldet wird, auch wenn jeder tatsächlich steuerpflichtige Umsatz fehlt (Urteil vom 18. März 2021, P [Tankkarten], C‑48/20, EU:C:2021:215, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Art. 203 der Richtlinie 2006/112 soll einer Gefährdung des Steueraufkommens entgegenwirken, die sich aus dem Recht auf Vorsteuerabzug nach dieser Richtlinie ergeben kann (Urteil vom 18. März 2021, P [Tankkarten], C‑48/20, EU:C:2021:215, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Was Art. 226 der Richtlinie 2006/112 betrifft, sollen die Angaben, die eine Rechnung enthalten muss, es den Steuerverwaltungen ermöglichen, die Entrichtung der geschuldeten Steuer und gegebenenfalls das Bestehen des Vorsteuerabzugsrechts zu kontrollieren (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C‑516/14, EU:C:2016:690, Rn. 27).
38 Zum anderen verlangt das Grundprinzip der Mehrwertsteuerneutralität, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat. Folglich darf die Steuerverwaltung, wenn sie über die Angaben verfügt, die für die Feststellung des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen erforderlich sind, hinsichtlich des Rechts des Steuerpflichtigen auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen aufstellen, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C‑516/14, EU:C:2016:690, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass die Steuerverwaltung das Recht auf Vorsteuerabzug nicht allein deshalb verweigern kann, weil eine Rechnung nicht die in Art. 226 Nrn. 6 und 7 der Richtlinie 2006/112 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, wenn sie über sämtliche Angaben verfügt, um zu prüfen, ob die für dieses Recht geltenden materiellen Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C‑516/14, EU:C:2016:690, Rn. 43).
40 Zwar ist das Vorliegen und die ordnungsgemäße Ausstellung einer Rechnung nicht automatisch an das Recht auf Vorsteuerabzug gekoppelt, in dem Sinn, dass erstens dieses Recht grundsätzlich an die tatsächliche Bewirkung der in Rede stehenden Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen geknüpft ist und zweitens sich die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nicht auf eine Steuer erstreckt, die ausschließlich deshalb geschuldet wird, weil sie in einer Rechnung ausgewiesen ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Juli 2013, Menidzherski biznes reshenia, C‑572/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:456, Rn. 19 und 20).
41 Da jedoch, wie sich aus der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt und wie der Generalanwalt in den Nrn. 41 und 45 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, das Ziel von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 darin besteht, die Gefährdung des Steueraufkommens zu beseitigen, lässt sich diese Gefährdung vermeiden, wenn die Steuerverwaltung über die Angaben verfügt, die erforderlich sind, um festzustellen, ob die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, und zwar unabhängig davon, ob die Mehrwertsteuer in einem als „Rechnung“ bezeichneten Dokument oder in einem anderen Dokument, wie etwa einem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag, ausgewiesen wurde.
42 Um als Rechnung im Sinne von Art. 203 dieser Richtlinie anerkannt werden zu können, muss ein Dokument daher zum einen die Mehrwertsteuer ausweisen und zum anderen die Angaben im Sinne der Bestimmungen von Titel XI, Kapitel 3 Abschnitt 4 („Rechnungsangaben“) enthalten, die erforderlich sind, damit die Steuerverwaltung feststellen kann, ob die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug erfüllt sind.
43 Es ist insoweit nicht von Belang, zu prüfen, ob das fragliche Dokument, sofern es ein Vertrag ist, objektiv den Willen der Vertragsparteien erkennen lässt, dass es sich um eine Rechnung handelt, die bei einer der Vertragsparteien möglicherweise die Überzeugung entstehen lässt, dass sie auf der Grundlage dieses Vertrags die Vorsteuer abziehen könne.
44 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Kontext sämtlicher im Ausgangsverfahren in Rede stehender Umstände und insbesondere sämtlicher Bestimmungen des Finanzierungsleasingvertrags zu beurteilen, ob dieser Vertrag tatsächlich die Angaben enthält, die im konkreten Fall erforderlich sind, damit die Steuerverwaltung feststellen kann, ob die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug erfüllt sind.
45 Was den Umstand betrifft, dass im Ausgangsverfahren der Finanzierungsleasingvertrag zwar den Mehrwertsteuerbetrag, nicht aber den Mehrwertsteuersatz enthielt, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dieser Satz gleichwohl aus diesem Vertrag hätte abgeleitet werden können.
46 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 203 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass ein Finanzierungsleasingvertrag, nach dessen Abschluss die Parteien keine Rechnung ausgestellt haben, als Rechnung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, wenn dieser Vertrag alle Angaben enthält, die erforderlich sind, damit die Steuerverwaltung feststellen kann, ob die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug im konkreten Fall erfüllt sind, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Kosten
47 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt: …