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Steuerrecht
23.05.2013
Steuerrecht
EuGH: Mehrwertsteuer bzgl. Transport- und Speditionsdienstleistungen

EuGH, Urteil vom 16.5.2013 - C-169/12, TNT Express Worldwide

Tenor

Art. 66 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/117/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Mehrwertsteueranspruch für Transport‑ und Speditionsdienstleistungen zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der gesamten Zahlung oder einer Teilzahlung, spätestens jedoch am 30. Tag ab dem Tag der Erbringung dieser Dienstleistungen entsteht, selbst wenn die Rechnung vorher ausgestellt wurde und einen späteren Zahlungstermin vorsieht.

Aus den Gründen

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 66 Buchst. a bis c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/117/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 (ABl. L 14, S. 7) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der TNT Express Worldwide (Poland) sp. z o.o. (im Folgenden: TNT) und dem Minister Finansów (Finanzminister) über die Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem der Mehrwertsteueranspruch entsteht.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der 24. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Begriffe ‚Steuertatbestand‘ und ‚Steueranspruch‘ sollten harmonisiert werden, damit die Anwendung und die späteren Änderungen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems in allen Mitgliedstaaten zum gleichen Zeitpunkt wirksam werden."

4

Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird."

5

Art. 64 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1) Geben Lieferungen von Gegenständen, die nicht die Vermietung eines Gegenstands oder den Ratenverkauf eines Gegenstands im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b betreffen, und Dienstleistungen zu aufeinander folgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass, gelten sie jeweils als mit Ablauf des Zeitraums bewirkt, auf den sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen.

(2) ...

In bestimmten, nicht von Unterabsatz 1 erfassten Fällen können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass kontinuierliche Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die sich über einen bestimmten Zeitraum erstrecken, mindestens jährlich als bewirkt gelten."

6

Art. 65 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Werden Anzahlungen geleistet, bevor die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht ist, entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag."

7

Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Abweichend von den Artikeln 63, 64 und 65 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen zu einem der folgenden Zeitpunkte entsteht:

a) spätestens bei der Ausstellung der Rechnung;

b) spätestens bei der Vereinnahmung des Preises;

c) im Falle der Nichtausstellung oder verspäteten Ausstellung der Rechnung binnen einer bestimmten Frist nach dem Eintreten des Steuertatbestands.

..."

8

Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht."

9

Durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. L 189, S. 1) wurde in die Richtlinie 2006/112 ein Art. 167a eingefügt, den die Mitgliedstaaten bis spätestens 31. Dezember 2012 umzusetzen hatten und der Folgendes bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können im Rahmen einer fakultativen Regelung vorsehen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug eines Steuerpflichtigen, bei dem ausschließlich ein Steueranspruch gemäß Artikel 66 Buchstabe b eintritt, erst dann ausgeübt werden darf, wenn der entsprechende Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Mehrwertsteuer auf die dem Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen erhalten hat.

Mitgliedstaaten, die die in Absatz 1 genannte fakultative Regelung anwenden, legen für Steuerpflichtige, die innerhalb ihres Gebiets von dieser Regelung Gebrauch machen, einen Grenzwert fest, der sich auf den gemäß Artikel 288 berechneten Jahresumsatz des Steuerpflichtigen stützt. Dieser Grenzwert darf 500 000 [Euro] oder den Gegenwert in Landeswährung nicht übersteigen. Die Mitgliedstaaten können nach Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses einen Grenzwert anwenden, der bis zu 2 000 000 [Euro] oder den Gegenwert in Landeswährung beträgt. Bei Mitgliedstaaten, die am 31. Dezember 2012 einen Grenzwert anwenden, der mehr als 500 000 [Euro] oder den Gegenwert in Landeswährung beträgt, ist eine solche Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses jedoch nicht erforderlich.

Die Mitgliedstaaten unterrichten den Mehrwertsteuerausschuss von allen auf der Grundlage von Absatz 1 erlassenen nationalen Maßnahmen."

Polnisches Recht

10

Art. 19 Abs. 1, 4 und 13 Nr. 2 des Gesetzes über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen (ustawa o podatku od towarów i usług) vom 11. März 2004 (Dz. U. Nr. 54, Pos. 535, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:

„1. Die Steuerschuld entsteht zum Zeitpunkt der Übergabe des Gegenstands oder der Erbringung der Dienstleistung, vorbehaltlich der Abs. 2 bis 21 sowie von Art. 14 Abs. 6, Art. 20 und Art. 21 Abs. 1.

...

4. Wenn die Lieferung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung durch Rechnung bestätigt werden muss, entsteht die Steuerschuld zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung, spätestens jedoch am siebten Tag ab dem Tag der Übergabe des Gegenstands oder der Erbringung der Dienstleistung.

...

13. Die Steuerschuld entsteht zum Zeitpunkt

...

2) der Vereinnahmung der gesamten Zahlung oder einer Teilzahlung, spätestens jedoch am 30. Tag ab dem Tag der Erbringung folgender Dienstleistungen:

a) Beförderung von Personen und Gütern mit der Eisenbahn, einem Kraftfahrzeugpark, Seeschiffen, Transportmitteln für die Binnen‑ und die Küstenschifffahrt, Fähren, Flugzeugen und Hubschraubern,

b) Spedition und Umladen,

c) Dienstleistungen in See‑ und Handelshäfen,

d) Bauleistungen und Baumontageleistungen".

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erbringt TNT, eine beschränkt haftende Gesellschaft mit Sitz in Warschau (Polen), Kurier‑, Post‑, Transport‑ und Speditionsdienstleistungen.

12

TNT stellt ihren Kunden einmal in der Woche Mehrwertsteuerrechnungen aus. Für bestimmte Kunden, die zahlreiche Dienstleistungen erwerben, werden die Rechnungen mit vereinbarter Häufigkeit ausgestellt. Die Rechnungen umfassen alle für den jeweiligen Kunden während eines bestimmten Steuerzeitraums erbrachten Leistungen. Die Zahlungsfrist für den Rechnungsbetrag beläuft sich für gewöhnlich auf 7, 14 oder 21 Tage, gerechnet ab dem Tag der Ausstellung der Rechnung. TNT berücksichtigt den aus der jeweiligen Rechnung resultierenden Umsatz in dem Steuerzeitraum, in dem die Rechnung ausgestellt worden ist.

13

Folglich teilt TNT zum Zweck der Feststellung des Zeitpunkts, zu dem die Steuerschuld entsteht, die von der Rechnung umfassten Dienstleistungen nicht in Kurier-/Postdienstleistungen und Transport‑/Speditionsdienstleistungen auf. Da die Rechnungen spätestens in den letzten Tagen eines Steuerzeitraums ausgestellt werden, wird die Steuer auf die in dem betreffenden Monat erbrachten Dienstleistungen in den Registern und der Mehrwertsteuererklärung für den Monat der Erbringung der Dienstleistungen erfasst.

14

Vor diesem Hintergrund beantragte TNT beim Minister Finansów eine Einzelfallauslegung des Steuerrechts im Hinblick auf die auf dem Gebiet der Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen geltenden steuerrechtlichen Bestimmungen und insbesondere auf die Frage, ob die Gesellschaft nach Art. 19 Abs. 13 Nr. 2 des Mehrwertsteuergesetzes berechtigt sei, den Umsatz in dem Steuerzeitraum zu berücksichtigen, in dem die Rechnung ausgestellt worden sei, auch wenn sie in diesem Zeitraum noch keine Zahlung vereinnahmt habe und noch nicht 30 Tage seit der Erbringung der fraglichen Dienstleistung vergangen seien, oder, falls diese Frage verneint werde, ob sie berechtigt sei, gemäß Art. 19 Abs. 4 des Mehrwertsteuergesetzes und unter Nichtbeachtung der Erfordernisse des Art. 19 Abs. 13 Nr. 2 des Mehrwertsteuergesetzes, der gegen Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstoße, als Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld den Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung anzusehen.

15

In einem Bescheid vom 14. Dezember 2009 vertrat der Minister Finansów die Auffassung, dass der Standpunkt von TNT unbegründet sei. Im Fall der von TNT erbrachten Kurier‑ und Postdienstleistungen entstehe die Steuerschuld nach den allgemeinen Grundsätzen, die in Art. 19 Abs. 1 und 4 des Mehrwertsteuergesetzes festgelegt seien. Für die übrigen Dienstleistungen (Transport‑ und Speditionsdienstleistungen) sei der Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld gemäß den Regelungen des Art. 19 Abs. 13 Nr. 2 des Mehrwertsteuergesetzes zu bestimmen. Für diese Dienstleistungen sei die Steuer in der Abrechnung für den Monat auszuweisen, in dem die Steuerschuld entstanden sei, und nicht in dem Monat, in dem die Rechnung ausgestellt worden sei, mit der die Erbringung der Dienstleistung belegt werde.

16

TNT erhob daraufhin Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau). Zur Begründung ihrer Klage machte sie geltend, sie sei berechtigt, für alle erbrachten Dienstleistungen, seien es Kurier‑/Postdienstleistungen oder Transport‑/Speditionsdienstleistungen, den Umsatz für Mehrwertsteuerzwecke in dem Steuerzeitraum zu berücksichtigen, in dem sie die Rechnung ausgestellt habe, mit der die jeweilige Dienstleistung belegt werde, auch wenn sie in diesem Zeitraum noch keine Zahlung vereinnahmt habe und noch nicht 30 Tage seit der Erbringung der Dienstleistung vergangen seien.

17

Mit seinem Urteil vom 30. September 2010 wies der Wojewódzki Sąd Administracyjny die Klage von TNT ab; daraufhin legte TNT Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Hauptverwaltungsgericht) ein.

18

Mit ihrer Kassationsbeschwerde wirft TNT dem Wojewódzki Sąd Administracyjny vor, er habe Art. 19 Abs. 13 Nr. 2 Buchst. a und b des Mehrwertsteuergesetzes fehlerhaft ausgelegt, da er die Art. 63 bis 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht berücksichtigt habe. Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimme, dass die Steuerpflicht aufgrund eines bestimmten Tatbestands, spätestens aber bei der Vereinnahmung des Preises entstehe. Die entsprechenden nationalen Vorschriften bestimmten hingegen fälschlicherweise, dass die Steuerschuld durch die Vereinnahmung des Preises entstehe, spätestens aber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (dem 30. Tag) ab dem Tag der Erbringung der Dienstleistung.

19

Bei der Prüfung der Kassationsbeschwerde äußerte das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie und war der Auffassung, dass die Berechtigung der von TNT geltend gemachten Gründe im Hinblick auf die Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu beurteilen sei.

20

Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die Regelung nach Art. 66 Buchst. a bis c der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass, wenn ein Steuerpflichtiger eine Rechnung ausstellt, die eine Dienstleistung belegt, die von der in diesem Artikel vorgesehenen Befugnis des Mitgliedstaats erfasst wird (Abweichung von den Art. 63 bis 65 der Mehrwertsteuerrichtlinie), gestützt auf Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegt werden kann, dass der Steueranspruch (die Steuerschuld) am Tag der Zahlung, spätestens jedoch am 30. Tag ab dem Tag der Erbringung der Dienstleistung entsteht?

2. Ist die Regelung nach Art. 66 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass sie den polnischen nationalen Bestimmungen in Art. 19 Abs. 13 Nr. 2 Buchst. a und b des Mehrwertsteuergesetzes entgegensteht, wonach der Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld (der Tatbestand, mit dessen Eintreten für einige Umsätze der Steueranspruch entsteht) für Transport‑ und Speditionsdienstleistungen auch dann der Zeitpunkt der Vereinnahmung der gesamten Zahlung oder einer Teilzahlung, spätestens jedoch der 30. Tag ab dem Tag der Erbringung dieser Dienstleistungen ist, wenn dem Erwerber innerhalb von sieben Tagen ab der Erbringung der Dienstleistung eine Rechnung ausgestellt und ausgehändigt worden ist, die einen späteren Zahlungstermin vorsieht, der Erwerber der Dienstleistung aber unabhängig davon, ob er gezahlt hat oder nicht, zum Vorsteuerabzug in dem Zeitraum berechtigt ist, in dem er die Rechnung erhalten hat?

Zu den Vorlagefragen

21

Mit seinen beiden Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Mehrwertsteueranspruch für Transport‑ und Speditionsdienstleistungen zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der gesamten Zahlung oder einer Teilzahlung, spätestens jedoch am 30. Tag ab dem Tag der Erbringung dieser Dienstleistungen entsteht, selbst wenn die Rechnung vorher ausgestellt wurde und einen späteren Zahlungstermin vorsieht.

22

Zunächst ist festzustellen, dass aus der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorgeht, dass der Mehrwertsteueranspruch grundsätzlich zu dem Zeitpunkt entsteht, zu dem der Steuertatbestand eintritt. Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie spiegelt dieses Grundprinzip wider, indem er vorsieht, dass der Steuertatbestand und der Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.

23

Nach Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten jedoch vorsehen, dass der Mehrwertsteueranspruch nach dem Eintreten des Steuertatbestands zu einem der drei folgenden Zeitpunkte entsteht, nämlich spätestens bei der Ausstellung der Rechnung, spätestens bei der Vereinnahmung des Preises oder, im Fall der Nichtausstellung oder verspäteten Ausstellung der Rechnung, binnen einer bestimmten Frist nach dem Eintreten des Steuertatbestands.

24

Da Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Abweichung von der in ihrem Art. 63 vorgesehen Regelung darstellt, ist er eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 7. März 2013, Efir, C‑19/12, Randnr. 31).

25

Zwar legt der Umstand, dass der Gesetzgeber die zulässigen Abweichungen erheblich ausgedehnt hat, die Schlussfolgerung nahe, dass er den Mitgliedstaaten einen erheblichen Spielraum einräumen wollte (vgl. Urteil vom 26. Oktober 1995, Italittica, C‑144/94, Slg. 1995, I‑3653, Randnr. 15), doch berechtigt dies nicht zu der Annahme, dass ein Mitgliedstaat über ein Ermessen verfügt, um für das Entstehen des Steueranspruchs einen anderen Zeitpunkt als einen der in Art. 66 Buchst. a bis c der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen zu bestimmen.

26

Erstens sieht jedoch Art. 19 Abs. 13 Nr. 2 des Mehrwertsteuergesetzes für bestimmte Umsätze - hier Transport‑ und Speditionsdienstleistungen - vor, dass die Steuerschuld zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der gesamten Zahlung oder einer Teilzahlung, spätestens jedoch am 30. Tag ab dem Tag der Erbringung der fraglichen Dienstleistung entsteht.

27

Zweitens können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen „spätestens bei der Vereinnahmung des Preises" entsteht. Diese Vorschrift legt die Fristen oder den spätesten Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf die Mehrwertsteuer für bestimmte Umsätze fest, für die ein Mitgliedstaat beschlossen hat, sie entsprechend zu regeln. Dieser Zeitpunkt entspricht der Vereinnahmung des Preises.

28

Der Gerichtshof hat Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) (jetzt Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie) dahin ausgelegt, dass ein Mitgliedstaat, wenn er die im ersten Gedankenstrich dieser Vorschrift (jetzt Art. 66 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie) vorgesehene Abweichungsbefugnis ausübt, also den Steueranspruch spätestens bei der Ausstellung der Rechnung oder des an deren Stelle tretenden Dokuments eintreten lässt, nach dem dritten Gedankenstrich der Vorschrift (jetzt Art. 66 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie) vorsehen kann, dass der Steueranspruch „im Falle der Nichtausstellung oder verspäteten Ausstellung der Rechnung oder des an deren Stelle tretenden Dokuments binnen einer bestimmten Frist nach dem Zeitpunkt des Eintretens des Steuertatbestands" entsteht (vgl. Urteil Italittica, Randnr. 22).

29

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im selben Urteil weiter ausgeführt hat, dass „das nicht in Betracht [kommt], wenn ein Mitgliedstaat von der Abweichungsbefugnis des zweiten Gedankenstrichs [von Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 77/388, jetzt Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie] Gebrauch macht. Der Grund dafür liegt vermutlich in dem Umstand, dass nach Auffassung des [Unions]gesetzgebers das Interesse eines Wirtschaftsteilnehmers an der Vereinnahmung des Entgelts für die bewirkte Dienstleistung genügt, um eine schleunige Bezahlung der Leistung sicherzustellen" (vgl. in diesem Sinne Urteil Italittica, Randnr. 23).

30

Folglich hat der Gesetzgeber für einen Mitgliedstaat, der von der Möglichkeit des Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie Gebrauch macht, nicht die Befugnis vorgesehen, eine Frist für das Entstehen des Steueranspruchs zu bestimmen. Zudem können die Anwendung von Art. 66 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie und die darin vorgesehene Frist nur mit der Anwendung des Buchst. a dieses Artikels verbunden werden, weil die Frist davon abhängt, dass eine Rechnung nicht oder verspätet ausgestellt wird und nicht davon, dass die Vereinnahmung nicht oder verspätet erfolgt.

31

Weiter ist darauf hinzuweisen, dass nach dem 24. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie die Begriffe „Steuertatbestand" und „Steueranspruch" harmonisiert werden sollten, damit die Anwendung und die späteren Änderungen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems zum gleichen Zeitpunkt wirksam werden. Der Unionsgesetzgeber wollte den Zeitpunkt, zu dem die Steuerschuld in allen Mitgliedstaaten entsteht, so weit wie möglich harmonisieren, um eine einheitliche Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten.

32

Unter diesen Umständen ist die Situation, in der die Steuerpflicht spätestens 30 Tage nach Erbringung der Dienstleistung entsteht, soweit die Vereinnahmung des Preises nicht vorher erfolgte, nicht mit der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar, weil eine solche Formulierung zu einer Kombination des Wortlauts von Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie mit einer Frist für das Entstehen des Steueranspruchs führen würde.

33

Insoweit ist das vorlegende Gericht der Meinung, dass Zweifel darüber bestehen, ob die Mitgliedstaaten während des Zeitraums vor dem Erlass von Art. 167a der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2010/45 geänderten Fassung ein System einführen durften, bei dem die Verschiebung des Zeitpunkts, zu dem der Steueranspruch beim Lieferer entsteht, nicht der Verschiebung des Zeitpunkts entspricht, zu dem das Recht auf Vorsteuerabzug beim Erwerber entsteht, der ab Erhalt der Rechnung zum Abzug berechtigt war.

34

Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 167a mit dem Ziel eingefügt wurde, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, für Steuerpflichtige, die die Mehrwertsteuer im Rahmen einer fakultativen Kassenbuchführungsregelung abrechnen, die kleinen Unternehmen die Entrichtung der Steuer erleichtert, eine Ausnahme in Bezug auf den Zeitpunkt anzuwenden, zu dem das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt werden kann.

35

Hierzu ist festzustellen, dass Art. 167a, obwohl er sich unmittelbar auf Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie bezieht, die Bestimmung des Zeitpunkts betrifft, zu dem der Erwerber von seinem Recht auf Vorsteuerabzug Gebrauch machen kann. Die beim nationalen Gericht anhängige Rechtssache betrifft aber ausschließlich die Frage, wann der Steueranspruch beim Lieferer entsteht.

36

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Mehrwertsteueranspruch für Transport‑ und Speditionsdienstleistungen zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der gesamten Zahlung oder einer Teilzahlung, spätestens jedoch am 30. Tag ab dem Tag der Erbringung dieser Dienstleistungen entsteht, selbst wenn die Rechnung vorher ausgestellt wurde und einen späteren Zahlungstermin vorsieht.

Kosten

37

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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