FG Münster: Kleinere Mängel in der Kassenführung
FG Münster, Urteil vom 9.3.2021 – 1 K 3085/17 E, G, U, NZB eingelegt (Az. BFH V B 26/21)
ECLI:DE:FGMS:2021:0309.1K3085.17E.G.U.00
Volltext des Urteils://BB-ONLINE BBL2021-1058-1
Nicht Amtliche Leitsätze
1. Eine Buchführung ist dann formell ordnungswidrig, wenn sie wesentliche Mängel aufweist oder die Gesamtheit aller unwesentlichen Mängel diesen Schluss fordert, maßgebend sind dabei die Umstände des Einzelfalles.
2. Formelle Buchführungsmängel berechtigen nur dann zur Schätzung, soweit sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln, wobei die Feststellung ob unwesentliche oder wesentliche Buchführungsmängel vorliegen den Regeln der freien Beweiswürdigungen unterfallen.
3. Eine Buchführung kann trotz einzelner Mängel aufgrund der Gesamtwertung als formell ordnungsgemäß erscheinen, wobei der sachlichen Gewichtung der Mängel ausschlaggebende Bedeutung zukommt.
4. Der Richtsatzverprobung als äußerer Betriebsvergleich kommt nur eine vergleichsweise geringe Beweiskraft zu. Selbst das Unterschreiten des untersten Rohgewinnrichtsatzes der Richtsatzsammlung ist regelmäßig nicht geeignet, die Vermutung für die sachliche Richtigkeit formell ordnungsmäßiger Aufzeichnungen zu widerlegen.
5. Eine durchgeführte Ausbeutekalkulation muss branchenüblich und plausibel sein. Hebelwirkungen durch eine unmögliche Zuordnung der verwendeten Lebensmittel zu einzelnen Gerichten und durch die Zubereitung der Speisen zerstören die Plausibilität der Ausbeutekalkulation.
6. Den Verprobungsmethoden Vermögenszuwachsrechnung und Geldverkehrsrechnung kommt die höchste Beweiskraft zu.
AO § 162 Abs. 1 S.1, Abs. 2 S. 1 f., § 158, §§ 140 bis 148, § 110 Abs.1 S. 1 und S. 2; EStG § 4 Abs. 3; UStG § 22, 20; UStDV § 63 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 und 3; FGO § 136 Abs. 1 S. 1, § 100 Abs. 1 S.1; § 151 Abs. 3, § 155; ZPO § 708 Nr. 10, § 711
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit von Hinzuschätzungen aufgrund einer Außenprüfung bei einem griechischen Imbiss für die Jahre 2012 bis 2014.
Die Klägerin ist verheiratet und wird mit ihrem Ehemann gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Sie betreibt einen griechischen Imbiss. Den Gewinn ermittelt sie gemäß § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch Einnahmenüberschussrechnung. Zur Erfassung der Bareinnahmen verwendete sie in den Streitjahren eine elektronische Registrierkasse und bewahrte die täglichen Bonrollen auf. Der Ehemann war bei ihr angestellt und erzielte in den Streitjahren einen Arbeitslohn von jährlich 6.000 € brutto. Daneben erzielten die Eheleute negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung.
Der Beklagte erließ im Januar 2015 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung einen Einkommensteuerbescheid, Gewerbesteuermessbescheid und Umsatzsteuerbescheid für 2012. Hierzu schätzte er die Besteuerungsgrundlagen (u. a. Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb i. H. v. 52.000 €; Lieferungen und Leistungen zu 19 % i. H. v. 45.000 €, Lieferungen und Leistungen zu 7 % i. H. v. 105.000 €), da die Klägerin und ihr Ehemann keine Steuererklärung abgegeben hatten.
Im März 2015 reichten die Klägerin und ihr Ehemann für 2012 ihre Einkommensteuererklärung und die Klägerin ihre Gewerbesteuererklärung und Umsatzsteuererklärung ein (u. a. Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb i. H. v. 28.857 €; Lieferungen und sonstige Leistungen zu 19 % i. H. v. 36.268 €, Lieferungen und sonstige Leistungen zu 7 % i. H. v. 96.418 €). Der Beklagte erörterte telefonisch Abweichungen mit dem Steuerberater und Prozessbevollmächtigten der Klägerin und erließ im Juni 2015 einen geänderten Einkommensteuerbescheid, einen geänderten Gewerbesteuermessbescheid und einen geänderten Umsatzsteuerbescheid (u. a. Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb i. H. v. 29.352 €; Lieferungen und sonstige Leistungen zu 19 % i. H. v. 36.268 €, Lieferungen und sonstige Leistungen zu 7 % i. H. v. 96.418 €). Er hob den Vorbehalt der Nachprüfung hinsichtlich der Festsetzung der Einkommensteuer und des Gewerbesteuermessbetrags auf.
Im Juli 2015 reichten die Klägerin und ihr Ehemann für 2013 ihre Einkommensteuererklärung und die Klägerin ihre Gewerbesteuererklärung und Umsatzsteuererklärung ein (u. a. Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb i. H. v. 29.553 €; Lieferungen und sonstige Leistungen zu 19 % i. H. v. 33.513 €, Lieferungen und sonstige Leistungen zu 7 % i. H. v. 103.825 €). Der Beklagte versandte im Juli 2015 für Zwecke der Umsatzsteuer eine Abrechnung an die Klägerin.
Im Oktober 2015 reichten die Klägerin und ihr Ehemann für 2014 ihre Einkommensteuererklärung und die Klägerin ihre Gewerbesteuerklärung und Umsatzsteuererklärung ein (u. a. Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb i. H. v. 29.607 €; Lieferungen und sonstige Leistungen zu 19 % i. H. v. 19.285 €, Lieferungen und sonstige Leistungen zu 7 % i. H. v. 136.816 €). Der Beklagte stimmte der eingegangen Umsatzsteuererklärung im Oktober 2015 zu und erließ im Januar 2016 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erklärungsgemäße Einkommensteuerbescheide und Gewerbesteuermessbescheide für 2013 und 2014.
Im April 2016 ordnete der Beklagte eine steuerliche Außenprüfung hinsichtlich der Einkommensteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer für 2012 bis 2014 bei der Klägerin an. Im Rahmen der Betriebsprüfung führte der Prüfer eine Bargeldverkehrsrechnung durch und gelangte zu folgenden Fehlbeträgen:
2012 |
2013 |
2014 |
|
Summe der monatlichen Fehlbeträge |
- 5.548,68 € |
- 887,65 € |
- 1.818,45 € |
Zusätzlich stellte er eine „vorläufige Geldverkehrsrechnung“ auf. Hierbei gelangte der Prüfer für sämtliche Jahre zu dem Ergebnis, dass die verwendeten Mittel die verfügbaren Mittel überstiegen (Unterdeckung) Die Unterdeckungen beliefen sich auf:
2012 |
2013 |
2014 |
|
Verfügbare Mittel |
55.608,06 € |
58.726,75 € |
54.695,99 € |
Mittelverwendung |
62.370,81 € |
59.508,25 € |
56.702,65 € |
Unterdeckung |
- 6.762,75 € |
- 781,50 € |
- 2.006,66 € |
In dem abschließenden Bericht über die Betriebsprüfung ging der Prüfer nicht auf die von ihm durchgeführten (Bar-)Geldverkehrsrechnungen ein. Er führte jedoch die folgenden Einzelfeststellungen unter „Gewinnermittlung/Aufzeichnungen“ auf:
2012
Am 29.02.2012 habe die Klägerin Pfandgeld i. H. v. 11,94 € vereinnahmt und neue Getränke für den Betrieb gekauft. Der Einkauf inkl. der Pfandkosten, nicht jedoch die Pfandgelderstattung vom 29.02.2012 sei im Kassenbericht erfasst. Die Erstattung des Pfandgeldbetrags finde auch keinen Niederschlag in der Gewinnermittlung.
Der Kassenendbestand vom 13.05.2012 sei korrigiert worden. Diese Korrektur sei bis zum 31.05.2012 in jedem Kassenbericht fortgeführt worden. Der Abgleich zwischen Kassen-Ist und Kassen-Soll könne somit nicht täglich erfolgt sein, da die Differenz dann früher aufgefallen wäre.
Der Auszahlungsbetrag nach Automatenleerung vom 07.07.2012 sei erst am 11.07.2012 erfasst worden.
Eine Geldtransitzahlung vom 09.07.2012 über 400 € sei erst im Kassenbericht vom 10.07.2012 in Abzug gebracht worden. Der ausgewiesene Anfangsbestand des 10.07.2012 könne nicht stimmen.
2013
Am 17.09.2013 habe die Klägerin Pfandgeld i. H. v. 11,94 € vereinnahmt und neue Getränke für den Betrieb gekauft. Der Einkauf sei als Ausgabe im Kassenbericht des 17.09.2013 erfasst worden, die Pfandgeldzahlung sei jedoch im Kassenbericht weder erfasst noch gebucht worden. Der gezählte Kassenbestand könne somit nicht mit dem errechneten Kassenbestand übereinstimmen, Einnahmen seien nicht verbucht worden.
Die Barumsätze des 13.12.2013 seien nicht vollständig in den vorliegenden Bons dieses Tages enthalten. Ein Umsatz i. H. v. 10,70 € fehle.
2014
Im Kassenbericht des 07.04.2014 seien Einkäufe bei K und Getränke U als Ausgabe erfasst worden. Die Einkäufe seien aber erst am 08.04.2014 erfolgt. Der ausgewiesene Kassenbestand sei falsch.
Ein Bratwursteinkauf bei der Firma N sei am 08.04.2014 im Kassenbericht erfasst, jedoch erst am 09.04.2014 bezahlt worden. Der ausgewiesene Kassenbestand könne nicht stimmen.
Bei der Ermittlung des Kassenbestands vom 14.04.2014 liege ein Rechenfehler vor. Beim Abgleich hätte der Fehler auffallen müssen.
Der Einkauf einer Küchenmaschine vom 09.05.2014 sei als Barausgabe im Kassenbericht erfasst worden, die Bezahlung sei aber unbar per Paypal erfolgt. Somit stimme der gezählte Kassenbestand nicht mit dem errechneten Kassenbestand überein.
Einnahmen aus der Automatenabrechnung vom 05.08.2014 seien erst am 07.08.2014 im Kassenbericht berücksichtigt worden. Der ausgewiesene Kassenbestand vom 05.08.2014 und 06.08.2014 könne nicht mit dem gezählten Kassenbestand übereinstimmen.
Der Kassenendbestand lt. Kassenbericht vom 31.10.2014 sei korrigiert worden. Diese Korrektur des Kassenendbestands sei am 01.11.2014 erfolgt. Der Abgleich sei somit nicht täglich erfolgt, da die Differenz dann früher aufgefallen wäre.
Die Barumsätze des 02.02.2014 und des 13.02.2014 seien nicht vollständig in den Bons dieser Tage enthalten. Am 02.02.2014 fehlten Lieferungen im Wert von 20,95 € und 13 €. Am 13.02.2014 fehlten 14,30 € und 10,90 €. Die Beträge seien auch nicht als Erlöse erfasst worden. Ob weitere Bestellungen im Textfeld aufgeführt gewesen wären, könne nicht belegt werden, da die Bestellbuchungen des Lesegerätes dem Auslieferungsfahrer mitgegeben worden seien.
Aus diesen aufgeführten Gründen entsprächen die vorgelegten Aufzeichnungen nicht den Erfordernissen der §§ 140 ff. der Abgabenordnung (AO). Der Anscheinsbeweis der Richtigkeit der vorgelegten Unterlagen (§ 158 AO) sei widerlegt. Es bestehe eine Schätzungsbefugnis gemäß § 162 AO.
Zur Überprüfung der Höhe der Betriebseinnahmen führte der Betriebsprüfer jährliche Ausbeutekalkulationen der wesentlichen Betriebsgrundlagen durch. Hierfür ermittelte er den jährlichen Einkauf und teilte diesen in unterschiedliche Warengruppen auf (u. a. Schweinerippenfleisch, Pita(-Brote), Pommes Frites, Bratwürste). Auf Basis dieser Zahlen errechnete der Prüfer eine jährliche Fleischausbeute. Beispielsweise ermittelte er die jährliche Fleischausbeute für die Warengruppe „Schweinerippe Gyros“ wie folgt:
2012 |
2013 |
2014 |
||
Einkauf |
Kg |
5200 |
7260 |
7640 |
Bratverlust, Schwund |
30 % |
1560 |
2178 |
2292 |
Wareneinsatz |
Kg |
3640 |
5082 |
5348 |
Verkaufte Pita-Portionen (Einkauf von Pita-Broten) |
2860 |
3180 |
3460 |
|
Bruttoerlös (Pita) |
3,60 € |
10.296 € |
11.448 € |
12.456 € |
Fleischverbrauch für 1 Pita-Portion |
Kg |
0,18 |
0,18 |
0,18 |
Gesamter Fleischverbrauch für Pita-Portionen |
Kg |
515 |
572 |
623 |
Verbleibendes Fleisch für Gyros |
Kg |
3125 |
4510 |
4725 |
Fleischverbrauch für 1 Gyros-Portion |
Kg |
0,3 |
0,3 |
0,38 |
Verkaufte Gyros-Portionen |
10417 |
15032 |
12435 |
|
Bruttoerlös (Gyros) |
5,50 € |
57.295 € |
82.676 € |
68.391 € |
Bruttoerlös (Gesamt) |
67.591 € |
94.124 € |
80.847 € |
Für die nicht in die Fleischausbeute-Kalkulation einbezogenen Waren nahm der Prüfer u. a. eine Kalkulation mit einem Rohgewinnaufschlagsatz von 150 % (Getränke) bzw. 200 % (Speisen) vor und bezog dieses Ergebnis in die Gesamtberechnung ein. Danach ergaben sich die folgenden Differenzen zwischen der Höhe der kalkulierten Betriebseinnahmen und den erklärten Betriebseinnahmen (Hinzuschätzungen):
2012 |
2013 |
2014 |
|
Hinzuschätzungen lt. BP |
50.572,06 € |
55.481,81 € |
42.947,14 € |
Bemessungsgrundlage 7 % |
37.032,81 € |
42.253,11 € |
37.909,18 € |
USt 7 % mehr lt. BP |
2.592,30 € |
2.957,72 € |
2.653,64 € |
Bemessungsgrundlage 19 % |
13.539,25 € |
13.228,70 € |
5.037,96 € |
USt 19 % mehr lt. BP |
2.572,46 € |
2.513,45 € |
957,21 € |
Betriebseinnahmen mehr lt. BP |
55.736,81 € |
60.952,98 € |
46.557,99 € |
Im Übrigen stellte der Betriebsprüfer die folgenden Rohgewinnaufschlagsätze fest:
2012 |
2013 |
2014 |
|
Richtsätze |
133 - 213 - 376 |
133 - 213 - 376 |
144 - 223 - 376 |
Vor BP |
156,18% |
137,87% |
159,74% |
Nach BP |
257,25% |
208,75% |
250,54% |
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Prüfungsbericht vom 27.09.2016 nebst Anlagen Bezug genommen.
Im Dezember 2016 erließ der Beklagte für 2012 bis 2014 geänderte Einkommensteuerbescheide, Gewerbesteuermessbescheide und Umsatzsteuerbescheide, denen die Ergebnisse der bei der Klägerin durchgeführten Außenprüfung zugrunde lagen. Die Einkommensteuerbescheide und Umsatzsteuerbescheide gingen bei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 15.12.2016 ein.
Nach der damaligen Büroorganisation des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wurde die im Steuerbereich eingehende Post – und somit auch die am 15.12.2016 eingegangenen Bescheide – zunächst im Sekretariat bearbeitet. Die zuständige Bearbeiterin legte dem Prozessbevollmächtigten entweder die Bescheide selbst oder Kopien der Bescheide vor. Wegen seiner hohen Arbeitsbelastung sah er sich die Bescheide nicht im Einzelnen an. Er nahm sie lediglich zur Kenntnis und gab sie mit dem Auftrag, gegen alle Bescheide Einspruch einzulegen, an das Sekretariat des Rechtsanwaltsbereichs weiter. Zur Ausführung dieses Arbeitsauftrags wurde sodann eine Rechtsanwaltsakte angelegt, die dem Prozessbevollmächtigten fortan zur Bearbeitung vorgelegt wurde. In diese Rechtsanwaltsakte wurden lediglich Kopien von Steuerbescheiden genommen. Der Umsatzsteuerbescheid für 2012 gelangte jedenfalls nicht zur Rechtsanwaltsakte.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin legte Einsprüche ein. In dem Betreff des Einspruchsschreibens vom 04.01.2017, das am selben Tag beim Beklagten einging, sind die Einkommensteuerbescheide für 2012 bis 2014 und die Umsatzsteuerbescheide für 2013 bis 2014 genannt. Nach dem Wortlaut des Schreibens erhebt der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegen diese (genannten) Bescheide Einspruch. Der Beklagte forderte zur Begründung der Einsprüche (wegen der genannten Bescheide) auf. Mit weiterem Schreiben vom 17.01.2017, das noch innerhalb der Einspruchsfrist einging, erfolgte eine Begründung der Einsprüche, die sich gegen die Feststellungen des Betriebsprüfers wendet. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 04.01. und 17.01.2017 Bezug genommen. Außerdem legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Einsprüche gegen die Gewerbesteuermessbescheide für 2012 bis 2014 ein.
Nach Ablauf der Einspruchsfrist teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Beklagten mit, dass er eine Mahnung hinsichtlich der Umsatzsteuer für 2012 erhalten habe. Ein geänderter Umsatzsteuerbescheid für 2012 liege ihm aber bisher nicht vor. Er habe seiner Mitarbeiterin die am 15.12.2016 eingegangenen Steuerbescheide mit dem Auftrag übergeben, ein Einspruchsschreiben gegen diese Bescheide zu verfassen. Dies sei Anfang Januar 2017 erfolgt. Auch nach nochmaliger Überprüfung befinde sich in den bei ihm geführten Akten kein Umsatzsteuerbescheid für 2012. Wie sich aus der innerhalb der Einspruchsfrist beim Beklagten eingegangenen Einspruchsbegründung vom 17.1.2017 ergebe, bestünden auch Einwendungen gegen die Hinzuschätzungen für das Jahr 2012 und somit auch gegen die umsatzsteuerlichen Auswirkungen. Er bat den Beklagten, dieses Schreiben (Einspruchsbegründung) gegebenenfalls als Einspruch gegen einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2012 zu betrachten.
Der Beklagte teilte dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass er aufgrund von Recherchen in der Großdruckerei des Rechenzentrums … davon ausgehe, dass der Umsatzsteuerbescheid für 2012 ordnungsgemäß bekannt gegeben worden sei. Der Beklagte übersandte eine Kopie des Umsatzsteuerbescheids für 2012. Diese ging dem Prozessbevollmächtigten am 24.02.2017 zu.
Der Prozessbevollmächtigte legte nochmals Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid für 2012 ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sofern es richtig sei, dass der Umsatzsteuerbescheid für 2012 mit den anderen Bescheiden für 2012 bis 2014 bekannt gegeben worden sei, sei die fehlende Aufnahme des Umsatzsteuerbescheids für 2012 in den Betreff des Einspruchsschreibens auf einen Fehler in der Sachbearbeitung zurückzuführen.
Den Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid für 2012 verwarf der Beklagte als unzulässig. Zur Begründung wiederholte er sein bisheriges Vorbringen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lehnte er ab. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe die Einspruchsfrist schuldhaft versäumt. Ihm sei bekannt gewesen, dass auch die Umsatzsteuer für 2012 Gegenstand der durchgeführten Betriebsprüfung war und deshalb ein geänderter Umsatzsteuerbescheid für 2012 ergehen würde. Bei Unterzeichnung seines ursprünglichen Einspruchsschreibens hätte er sich vergewissern müssen, welche Bescheide nach der Betriebsprüfung ergangen waren. Außerdem habe ihm spätestens aufgrund der Aufforderung des Beklagten zur Begründung der Einsprüche auffallen müssen, dass er keinen Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid für 2012 eingelegt hatte.
Die übrigen Einsprüche wies der Beklagte als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er an, dass die Handhabung der Kasse im Betrieb der Klägerin formell nicht den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung entspreche. Im Rahmen der Betriebsprüfung seien die im Betriebsprüfungsbericht dargestellten erheblichen formellen und materiellen Mängel der Kassenführung festgestellt worden. Auch die Höhe der hinzugeschätzten Gewinne und Umsätze sei nicht zu beanstanden. Die Ausbeutekalkulation sei eine zulässige Schätzungsmethode. Der Prüfer sei von dem im Betrieb festgestellten Wareneinsatz und den erzielten Preisen für die angebotenen Speisen ausgegangen. Hierbei habe er einen Abschlag vom Wareneinsatz von Fleisch i. H. v. 30 % für Bratverluste und Schwund berücksichtigt. Auf dieser Grundlage habe der Prüfer die nach dem ermittelten Wareneinsatz und der Aufschlagsätze im Betrieb der Klägerin erzielbaren Umsätze errechnet. Zur Abgeltung von Unsicherheiten habe der Prüfer jeweils einen Sicherheitsabschlag von 20 % auf die Differenzen zwischen den erzielbaren und den erklärten Umsätzen berücksichtigt.
Die Klägerin hat gegen diese Einspruchsentscheidungen Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, dass Änderungen lediglich in dem Umfang gerechtfertigt seien, soweit im Rahmen der Betriebsprüfung tatsächlich (gewinnwirksame) Fehler festgestellt worden seien (2012: Nichtzuführung einer Pfandgeldeinnahme in die Kasse i. H. v. 11,94 €; 2013: Nichtzuführung einer Pfandgeldeinnahme i. H. v. 11,94 € und eines Außer-Haus-Verkaufsumsatzes i. H. v. 10,70 € in die Kasse, also insgesamt 22,64 €; 2014: Nichtzuführung von vier Außer-Haus-Verkaufsumsätzen i. H. v. 20,95 €, 13,00 €, 14,30 € und 10,92 €, also insgesamt 59,15 €). Diese Fehler berechtigten den Beklagten nicht, die Richtigkeit der Buchführung der Klägerin in Gänze infrage zu stellen.
Den Ausbeutekalkulationen des Beklagten könne aus einer Vielzahl von Gründen nicht gefolgt werden. Bei der Warengruppe „Schweinerippe Gyros“ sei ein Bratverlust von 40 % zu berücksichtigen. Die angesetzten Gewichtsportionen seien zu gering. Eine Portion Gyros sei mit 430 bis 450 Gramm anzusetzen. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Pommes Frites tiefgefroren angeliefert werden und nach dem Frittiervorgang erheblich leichter seien (um 1/8). Mithin sei die Kalkulation hinsichtlich der Pommes Frites nicht zutreffend.
Bezüglich des Umsatzsteuerbescheids für 2012 trägt der Prozessbevollmächtigte der Klägerin kurz vor der mündlichen Verhandlung vor, dass er das Original des am 15.12.2016 eingegangenen Umsatzsteuerbescheids für 2012 mittlerweile gefunden habe. Er wiederholt seinen bisherigen dahingehenden Vortrag, dass von seinem Willen zur Einspruchseinlegung auch der Umsatzsteuerbescheid 2012 umfasst gewesen sei. Dies ergebe sich nicht zuletzt aus der sämtliche Feststellungen der Betriebsprüfung betreffenden Einspruchsbegründung. Jedenfalls sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Klägerin beantragt,
die Bescheide für 2012 bis 2014 über Einkommensteuer und Umsatzsteuer vom 14.12.2016 sowie über die Gewerbesteuermessbeträge vom 15.12.2016, jeweils in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 05.09.2017, nach Maßgabe der Klagebegründung zu ändern,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Klageerwiderung trägt der Beklagte vor, dass die Betriebsprüfung nicht nur Aufzeichnungsmängel in Gestalt nicht erfasster Pfandgelderstattungen festgestellt habe. Im Zuge der Betriebsprüfung habe sich vielmehr ergeben, dass die Klägerin wiederholt Geschäftsvorfälle nicht zeitnah aufgezeichnet habe. Außerdem seien ausgewiesene Kassenbestände nicht korrekt gewesen und der Abgleich zwischen Kassen-Ist und Kassen-Soll könne nicht täglich erfolgt sein. Formelle Buchführungsmängel würden zur Schätzung berechtigen, wenn sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln. Soweit vorwiegend Bargeschäfte getätigt würden, könnten Mängel der Kassenführung der gesamten Buchführung die Ordnungsmäßigkeit nehmen.
Schließlich seien die Hinzuschätzungen auch der Höhe nach angemessen. Der Bratverlust i. H. v. 30 % sei aufgrund der Berufserfahrung der Klägerin und der Art und Weise der Gyroszubereitung gerechtfertigt. Die unterstellten Portionsgrößen und Portionsgewichte entsprächen den Erfahrungswerten bei der Prüfung griechischer Imbissbetriebe.
Kurz vor der mündlichen Verhandlung weist der Beklagte darauf hin, dass die Klägerin neben dem Verkauf an der Ladentheke an mehrere Lieferdienste angeschlossen gewesen sei. Diesbezüglich lägen jedoch nur die Abrechnungen der Lieferdienste und nicht die Bestellbelege (2013: ca. 700 und 2014: ca. 1.000). Es sei nicht feststellbar, in welcher Höhe aus diesem Umstand Mehrumsätze aufgedeckt werden könnten.
In der Sache haben am 07.12.2020 ein Erörterungstermin vor dem Berichterstatter und am 09.03.2021 eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden. In dem Erörterungstermin wies der Beklagte darauf hin, dass er die Anzahl der jährlich durch die Klägerin zu verbuchenden Geschäftsvorfälle auf 25.000 bis 30.000 schätze. Die Differenzen, die sich aus der Bargeldverkehrsrechnung und der „vorläufigen Geldverkehrsrechnung“ ergeben hätten, seien als gering anzusehen und wären daher im Rahmen der Betriebsprüfung nicht weiter verfolgt worden. Im Übrigen sei ein Rohgewinnaufschlagsatz von 200 als branchenüblich anzusehen.
Aus den Gründen
Die Klage hat hinsichtlich der Einkommensteuerbescheide und Gewerbesteuermessbescheide für 2012 bis 2014 und der Umsatzsteuerbescheide für 2013 und 2014 Erfolg. Hinsichtlich des Umsatzsteuerbescheids für 2012 ist sie erfolglos.
Die Bescheide für 2012 bis 2014 über Einkommensteuer vom 14.12.2016 und über die Gewerbesteuermessbeträge vom 15.12.2016 sowie für 2013 und 2014 über Umsatzsteuer vom 14.12.2016, jeweils in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.09.2017, sind insoweit rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, als die Hinzuschätzungen über 11,94 € für 2012, über 22,64 € für 2013 und über 59,15 € für 2014 hinausgehen (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Für Hinzuschätzungen, die über die festgestellten gewinnwirksamen Aufzeichnungsmängel hinausgehen, besteht keine Schätzungsbefugnis. Der Bescheid für 2012 über Umsatzsteuer vom 14.12.2016 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.09.2017 ist mangels fristgerechten Einspruchs bestandskräftig geworden.
Eine Schätzungsbefugnis besteht nicht
I. Entgegen der Auffassung des Beklagten besteht keine über die gewinnwirksame Korrektur der Beanstandungen hinausgehende Schätzungsbefugnis.
Soweit die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann, hat sie sie zu schätzen (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO). Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen, die der Steuerpflichtige nach den Steuergesetzen zu führen hat, der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden (vgl. § 162 Abs. 2 Satz 1 f. AO). Gemäß § 158 AO sind die Buchführung und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen, der Besteuerung zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass ist, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden.
Nach den Gesetzesmaterialien ist § 158 AO dahingehend zu verstehen, dass formell ordnungsmäßig geführte Bücher bzw. Aufzeichnungen die Vermutung ihrer sachlichen Richtigkeit für sich haben, solange keine Umstände vorliegen, die diese Vermutung erschüttern. Die Finanzbehörde soll sich, um die Vermutung zu entkräften, z. B. des inneren und äußeren Betriebsvergleiches bedienen. Komme sie dabei zu der Überzeugung, dass das in der Buchführung ausgewiesene Ergebnis unmöglich den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen könne, soll sie grundsätzlich berechtigt sein, die Buchführung zu verwerfen und die Besteuerungsgrundlagen im Wege der Schätzung zu ermitteln. Auch Verstöße gegen formelle Buchführungsbestimmungen sollen die Beweiskraft der Buchführung beeinträchtigen können, wenn sich daraus Zweifel an ihrer sachlichen Richtigkeit ergeben. Werde die Vermutung des § 158 AO entkräftet, so soll dies nicht zu einer Verwerfung des gesamten Buchführungsergebnisses führen. Dies komme durch die Verwendung des Wortes „soweit“ zum Ausdruck (BT-Drucks. VI/1982, 146 zu § 139 des RegE zur AO, jetzt § 158 AO).
Die Aufzeichnungen sind nicht formell ordnungswidrig
1. Die Aufzeichnungen der Klägerin sind nach dem Gesamtbild aller Umstände des Einzelfalls nicht formell ordnungswidrig. Lediglich soweit die gewinnwirksamen Beanstandungen des Betriebsprüfers reichen, ist das Ergebnis der Kassenführung nicht zu übernehmen.
Für buchführungspflichtige Steuerpflichtige gilt, dass eine Buchführung (erst) dann formell ordnungswidrig ist, wenn sie wesentliche Mängel aufweist oder die Gesamtheit aller unwesentlichen Mängel diesen Schluss fordert (BFH-Beschluss vom 02.12.2008 X B 69/08 Rn. 4, juris). Maßgebend ist das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall. Ob ggf. nur unwesentliche formelle Buchführungsmängel vorliegen, unterliegt den Regeln der freien Beweiswürdigung; formelle Mängel berechtigen nur dann zur Schätzung, soweit sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln (BFH-Urteil vom 14.12.2011 XI R 5/10, BFH/NV 2012, 1921 Rz. 22 m.w.N.). Demzufolge kann eine Buchführung trotz einzelner Mängel nach den §§ 140 bis 148 AO aufgrund der Gesamtwertung als formell ordnungsmäßig erscheinen. Insoweit kommt der sachlichen Gewichtung der Mängel ausschlaggebende Bedeutung zu (so auch der AEAO zu § 158). Jedenfalls dann, wenn vorwiegend Bargeschäfte getätigt werden, können Mängel der Kassenführung den gesamten Aufzeichnungen die Ordnungsmäßigkeit nehmen (BFH-Urteil vom 14.12.2011, XI R 5/10, BFH/NV 2012, 1921, Rz. 34).
Im vorliegenden Fall besteht die Besonderheit, dass die Klägerin ihren Gewinn gemäß § 4 Abs. 3 EStG durch Einnahmenüberschussrechnung ermittelt. § 4 Abs. 3 EStG selbst enthält – mit Ausnahme des hier nicht einschlägigen § 4 Abs. 3 Satz 5 EStG – keine Regelungen über den formellen Mindestinhalt der Aufzeichnungen, die bei dieser Gewinnermittlungsart zu führen sind. Eine ordnungsgemäße Überschussrechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG setzt lediglich voraus, dass die Höhe der Betriebseinnahmen bzw. der Betriebsausgaben durch Belege nachgewiesen wird; eine förmliche Aufzeichnungspflicht besteht hingegen nicht (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 12.12.2017 VIII R 6/14, BFH/NV 2018, 606, Rz. 54, m.w.N.). Eine Aufzeichnungspflicht betrifft Steuerpflichtige mit einer Einnahmen-Überschussrechnung damit nur, soweit aus anderen Gründen zu Besteuerungszwecken Aufzeichnungen gefordert werden, etwa aufgrund weiterer Steuergesetze, wie z. B. nach § 22 des Umsatzsteuergesetzes (UStG; vgl. BFH-Beschluss vom 12.07.2017 X B 16/17, BFHE 257, 523 [BB 2017, 1813 Ls]; BFH-Urteil vom 12.02.2020 X R 8/18, BFH/NV 2020, 1045 [BB 2020, 2150]). Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 UStG ist jeder Unternehmer verpflichtet, zur Feststellung der Umsatzsteuer und der Grundlagen ihrer Berechnung Aufzeichnungen zu machen. Aus den Aufzeichnungen müssen die vereinbarten – bzw. in den Fällen des § 20 UStG die vereinnahmten – Entgelte für die vom Unternehmer ausgeführten Lieferungen und sonstigen Leistungen zu ersehen sein (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 und 5 UStG). Die Aufzeichnungen müssen so beschaffen sein, dass es einem sachverständigen Dritten innerhalb einer angemessenen Zeit möglich ist, einen Überblick über die Umsätze des Unternehmers und die abziehbaren Vorsteuern zu erhalten und die Grundlagen für die Steuerberechnung festzustellen (§ 63 Abs. 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung, UStDV). Dabei darf der Unternehmer das Entgelt und den Steuerbetrag in einer Summe – statt des (Netto‑)Entgelts allein – aufzeichnen (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UStDV). Am Schluss jedes Voranmeldungszeitraums hat der Unternehmer u. a. die Summe der Entgelte zu errechnen und aufzuzeichnen (§ 63 Abs. 3 Satz 3 UStDV). Außerdem sind gemäß § 146 Abs. 1 AO in der im Streitjahr noch geltenden Fassung (vor den Änderungen durch das Gesetz vom 22.12.2016, BGBl I 2016, 3152) die erforderlichen Aufzeichnungen vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen. Kasseneinnahmen und Kassenausgaben sollen täglich festgehalten werden. In diesem Zusammenhang hat der BFH entschieden, dass sich in Fällen der Gewinnermittlung durch Einnahmenüberschussrechnung auch aus den Vorschriften des § 22 UStG und des § 63 UStDV keine Pflicht zur Führung eines Kassenbuchs ergibt. Bei dieser Gewinnermittlungsart gibt es keine Bestandskonten und somit auch kein Kassenkonto. Vereinnahmtes Geld wird sofort Privatvermögen. Die Feststellung eines Kassenbestands, für den bei einer Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich ein Kassenbuch erforderlich ist, kommt nicht in Betracht (BFH-Beschluss vom 12.07.2017 X B 16/17, BFHE 257, 523, Rz. 56 ff. [BB 2017, 1813 Ls]).
Nach diesen Grundsätzen führen die von dem Betriebsprüfer festgestellten Mängel angesichts ihres geringen sachlichen Gewichts und ihrer geringen Häufigkeit nicht dazu, dass die Aufzeichnungen der Klägerin wesentliche Mängel aufweisen. Die von dem Betriebsprüfer beanstandeten Geschäftsvorfälle fallen weder im Vergleich zur Gesamtheit der im Betrieb der Klägerin anfallenden Geschäftsvorfälle, die der Beklagte selbst auf 25.000 bis 30.000 pro Jahr schätzt, noch angesichts ihrer Gewinnwirksamkeit ins Gewicht (2012: 11,94 €; 2013: 22,64 €; 2014: 59,15 €). Auch die aufgrund dieser Mängel möglicherweise nicht gegebene Kassensturzfähigkeit beschränkt sich auf einzelne, vorübergehende und kurze Zeiträume, die kein solches sachliches Gewicht aufweisen, dass die Aufzeichnungen als nicht mehr formell ordnungsmäßig zu betrachten sind. Schließlich kann die Klägerin zwar Bestellbelege von Lieferdiensten nicht vorlegen. Allerdings räumt der Beklagte selbst ein, dass nicht feststellbar sei, in welcher Höhe aus diesem Umstand Mehrumsätze aufgedeckt werden könnten. Die Abrechnungen zwischen dem jeweiligen Lieferdienst und der Klägerin liegen vor. Es ist nicht davon auszugehen, dass die von einem Dritten – dem Lieferdienst – abgerechneten (provisionspflichtigen) Bestellungen hinter den durch die Bestellbelege ausgewiesenen Umsätzen zurückbleiben.
Die sachliche Richtigkeit der Kassenaufzeichnungen liegt dem Grunde nach vor
2. Es besteht nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass, die sachliche Richtigkeit der Kassenaufzeichnungen über die festgestellten Mängel hinaus zu beanstanden. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens konnte der Senat nicht die Überzeugung gewinnen, dass die in den Gewinnermittlungen ausgewiesenen Ergebnisse unmöglich den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen können und demzufolge die Besteuerungsgrundlagen im Wege der Schätzung zu ermitteln wären.
Der äußere Betriebsvergleich liegt im Rahmen der Richtsatzsammlung
a) Die Verprobung der von der Klägerin ermittelten Ergebnisse durch einen äußeren Betriebsvergleich führt dazu, dass diese im Rahmen der Richtsammlung liegen. Zwar liegen die erklärten Rohgewinnaufschlagsätze im unteren Bereich der Richtsatzsammlung. Jedoch wird der unterste Rohgewinnaufschlagsatz in keinem der Streitjahre unterschritten. Im Übrigen verbleiben die Rohgewinnaufschlagsätze auf einem durchgehend niedrigen Niveau (156 (2012) – 137 (2013) – 159 (2014)). Größere Schwankungen oder Gewinneinbrüche, die gegen eine Plausibilität der klägerischen Ergebnisse sprechen, sind nicht erkennbar. Zudem hat die Richtsatzverprobung als äußerer Betriebsvergleich nur eine vergleichsweise geringe Beweiskraft. Selbst das Unterschreiten des untersten Rohgewinnrichtsatzes der Richtsatzsammlung ist regelmäßig nicht geeignet, die Vermutung für die sachliche Richtigkeit formell ordnungsmäßiger Aufzeichnungen zu widerlegen (BFH-Urteil vom 18.10.1983 VIII R 190/82, BFHE 139, 350 [BB 1984, 325 m. Anm. Woerner]).
Die Bargeldverkehrsrechnung und vorläufige Geldverkehrsrechnung führen nur zu geringen Abweichungen
b) Die von dem Betriebsprüfer durchgeführte Bargeldverkehrsrechnung und die „vorläufige Geldverkehrsrechnung“ führen – selbst nach Auffassung des Betriebsprüfers – lediglich zu geringen Abweichungen bzw. marginalen Differenzen, die für sich keine Verwerfung der Buchführung rechtfertigen, da sie im Rahmen üblicher Unschärfen liegen. Die festgestellten Differenzen wurden demzufolge selbst von der Betriebsprüfung nicht weiter verfolgt bzw. im Rahmen des weiteren Verlaufs der Betriebsprüfung nicht gewürdigt. Eine Widerlegung der Vermutung des § 158 AO kommt folglich – auch nach Auffassung des Beklagten – aufgrund dieser Verprobungsmethoden nicht in Betracht.
Die Ausbeutekalkulation erschüttert die sachliche Richtigkeit nicht
c) Schließlich kann die sachliche Richtigkeit der Kassenaufzeichnungen auch nicht anhand der vom Betriebsprüfer durchgeführten Ausbeutekalkulation beanstandet werden. Die vorliegende Ausbeutekalkulation reicht nicht aus, um die sachliche Richtigkeit einer an sich formell ordnungsgemäßen Kassenaufzeichnungen zu erschüttern. Für eine solche Auswirkung sind erhöhte Anforderungen an eine Ausbeutekalkulation zu stellen.
Zunächst führt die Ausbeutekalkulation zu Rohgewinnaufschlagsätzen, die selbst nach Auffassung des Betriebsprüfers nicht branchenüblich sind. Dieser teilte jedenfalls im Erörterungstermin mit, dass ein Rohgewinnaufschlagsatz i. H. v. 200 branchenüblich sei. Die aus der von ihm durchgeführten Ausbeutekalkulation resultierenden Rohgewinnaufschlagsätze liegen um bis zu 25 % über diesem branchenüblichen Rohgewinnaufschlagsatz. Dies spricht gegen die Plausibilität der Ausbeutekalkulation.
Weiter wirken sich allein in der Warengruppe „Schweinerippe Gyros“ geänderte Bratverluste und Portionsgrößen erheblich aus. Es sind erhebliche Hebelwirkungen festzustellen. Berücksichtigt man den von der Klägerin vorgetragenen Bratverlust i. H. v. 40 % – anstatt des vom Prüfer angesetzten Bratverlustes i. H. v. 30 % – und eine Portionsgröße von 450 Gramm bei den berücksichtigten Gyros-Portionen – anstatt der vom Prüfer angesetzten Portionsgröße i. H. v. 300 Gramm bzw. 380 Gramm (2014) – ergeben sich allein hieraus Kalkulationsdifferenzen i. H. v. 25.454 € für 2012, i. H. v. 36.432 € für 2013 und i. H. v. 19.976 € für 2014.
Ausbeutekalkulation - BP |
2012 |
2013 |
2014 |
|
Einkauf |
Kg |
5200 |
7260 |
7640 |
Bratverlust, Schwund |
30 % |
1560 |
2178 |
2292 |
Wareneinsatz |
Kg |
3640 |
5082 |
5348 |
Verkaufte Pita-Portionen (Einkauf von Pita-Broten) |
2860 |
3180 |
3460 |
|
Bruttoerlös (Pita) |
3,60 € |
10.296 € |
11.448 € |
12.456 € |
Fleischverbrauch für 1 Pita-Portion |
Kg |
0,18 |
0,18 |
0,18 |
Gesamter Fleischverbrauch für Pita-Portionen |
Kg |
515 |
572 |
623 |
Verbleibendes Fleisch für Gyros |
Kg |
3125 |
4510 |
4725 |
Fleischverbrauch für 1 Gyros-Portion |
Kg |
0,3 |
0,3 |
0,38 |
Verkaufte Gyros-Portionen |
10417 |
15032 |
12435 |
|
Bruttoerlös (Gyros) |
5,50 € |
57.295 € |
82.676 € |
68.391 € |
Bruttoerlös (Gesamt) |
67.591 € |
94.124 € |
80.847 € |
|
Modifizierte Ausbeutekalkulation |
2012 |
2013 |
2014 |
|
Einkauf |
Kg |
5200 |
7260 |
7640 |
Bratverlust, Schwund |
40 % |
2080 |
2904 |
3056 |
Wareneinsatz |
Kg |
3120 |
4356 |
4584 |
Verkaufte Pita-Portionen (Einkauf von Pita-Broten) |
2860 |
3180 |
3460 |
|
Bruttoerlös (Pita) |
3,60 € |
10.296 € |
11.448 € |
12.456 € |
Fleischverbrauch für 1 Pita-Portion |
Kg |
0,18 |
0,18 |
0,18 |
Gesamter Fleischverbrauch für Pita-Portionen |
Kg |
515 |
572 |
623 |
Verbleibendes Fleisch für Gyros |
Kg |
2605 |
3784 |
3961 |
Fleischverbrauch für 1 Gyros-Portion |
Kg |
0,45 |
0,45 |
0,45 |
Verkaufte Gyros-Portionen |
5789 |
8408 |
8803 |
|
Bruttoerlös (Gyros) |
5,50 € |
31.841 € |
46.244 € |
48.415 € |
Bruttoerlös (Gesamt) |
42.137 € |
57.692 € |
60.871 € |
|
Differenz |
25.454 € |
36.432 € |
19.976 € |
Eine zuverlässige Kalkulation der Ausbeute aus dem Gyros-Fleischeinkauf scheitert somit im vorliegenden Rechtsstreit bereits daran, dass der tatsächliche Fleischanteil an den Pita- und Gyros-Portionen nicht bekannt ist. Er ist von dem Beklagten auch nicht durch in repräsentativer Anzahl erfolgte Testkäufe belegt worden, sondern vielmehr aufgrund angeblicher Erfahrungswerte bei anderen Betrieben geschätzt worden. Die hieraus resultierenden Ungenauigkeiten der Ausbeutekalkulation und bei einer Verprobung durch den erkennenden Senat festgestellten Hebelwirkungen können nicht durch einen pauschalen Verweis des Beklagten auf erfolgte Sicherheitsabschläge in möglicherweise erheblicher Höhe gerechtfertigt werden.
Hinzukommt, dass auch die der Kalkulation zugrunde gelegten Preise nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind. Ein Großteil der kalkulierten Waren (z. B. Gyros, Pommes) wird i. d. R. nicht isoliert verkauft, sondern im Rahmen von zusammengesetzten Gerichten (z. B. Grillteller). Dies berücksichtigt die Kalkulation nicht. Bei den Getränken hat der Betriebsprüfer lediglich Cola, Bier und Wasser kalkuliert, obwohl auch eine Vielzahl anderer Getränke auf der Speisekarte steht.
Schließlich handelt es sich der Kalkulation des Betriebsprüfers nicht um eine reine Ausbeutekalkulation. Soweit er Waren nicht kalkuliert hat, hat er einen Rohgewinnaufschlagsatz von 150 % (Getränke) bzw. 200 % (Speisen) angesetzt. Dies entspricht einer bloßen Richtsatzschätzung, die grundsätzlich nicht geeignet ist, eine ansonsten formell ordnungsgemäße Kassenführung zu verwerfen. Für das Jahr 2012 macht der Richtsatzanteil der Schätzung hinsichtlich der Speisen mehr als die Hälfte der Gesamtdifferenz (vor Sicherheitsabschlag) aus (Kalkulation: 29.785,19 €, Richtsatz: 37.644,22 €). In den Jahren 2013 (Kalkulation: 29.785,19 €, Richtsatz: 7.444,40 €) und 2014 (Kalkulation: 36.323,46 €, Richtsatz: 17.360,46 €) sind die Verhältnisse deutlich anders. Diese Unterschiede sind auffällig und begründen für den Senat Zweifel an der Plausibilität der Schätzungsergebnisse.
Schließlich sind die Ergebnisse der vom Betriebsprüfer durchgeführten Ausbeutekalkulation angesichts der ebenfalls durchgeführten Bargeldverkehrsrechnung und „vorläufigen Geldverkehrsrechnung“ nicht plausibel. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass den Verprobungsmethoden der Vermögenszuwachsrechnung und Geldverkehrsrechnung – sofern die hierfür erforderlichen Beträge vom Finanzamt zutreffend ermittelt werden – die höchste Beweiskraft zukommt (Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 163. Lieferung 10.2020, § 158 AO Rz. 22 m. w. N. zur Rechtsprechung des BFH). Die Differenzen zwischen den verschiedenen Verprobungsmethoden hat der Beklagte im Rahmen der Betriebsprüfung nicht gewürdigt. Die Kalkulation des Beklagten basiert allein auf der Verprobung, aus der die größten Differenzen zwischen den erklärten und kalkulierten Buchführungsergebnissen resultieren.
Im Ergebnis erweist sich die Ausbeutekalkulation des Betriebsprüfers als derart fehlerhaft, dass sie bereits einer Hinzuschätzung bei feststehender Schätzungsbefugnis nicht zugrunde gelegt werden könnte. Erst recht kann mit ihr daher keine Schätzungsbefugnis begründet werden.
Hinzuschätzungen sind nur in Höhe der gewinnwirksamen Beanstandungen vorzunehmen
3. Im Ergebnis sind Hinzuschätzungen nur in Höhe der gewinnwirksamen Beanstandungen des Betriebsprüfers vorzunehmen. Diese betragen für 2012 11,94 €, für 2013 22,64 € und für 2014 59,15 €. Im Übrigen sind die Hinzuschätzungen des Beklagten nicht gerechtfertigt.
Der eingelegte Einspruch ist verfristet, Wiedereinsetzung nicht zu gewähren
II. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat nicht fristgerecht Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid für 2012 vom 14.12.2016 eingelegt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht.
Der Umsatzsteuerbescheid 2012 wurde mit keinem Schreiben angegriffen
1. Das innerhalb der Einspruchsfrist beim Beklagten eingegangene Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 04.01.2017 betrifft nicht den Umsatzsteuerbescheid 2012. Ein Einspruch gegen diesen Umsatzsteuerbescheid wurde mit diesem Schreiben ausdrücklich nicht eingelegt.
Auch der noch innerhalb der Einspruchsfrist eingegangenen Einspruchsbegründung vom 17.01.2017 lässt sich nicht entnehmen, dass der Prozessbevollmächtigte seine bereits eingelegten Einsprüche um einen weiteren Einspruch – gegen den Umsatzsteuerbescheid für 2012 – erweitern wollte. Vielmehr nahm er lediglich auf die bereits eingelegten Einsprüche Bezug und begründete diese. Dass sich die Ausführungen in der Einspruchsbegründung auf den gesamten Prüfungszeitraum und sämtliche geprüften Steuerarten beziehen, führt nicht dazu, dass hiermit „konkludent“ gegen sämtliche aufgrund der Betriebsprüfung ergangenen Steuerbescheide eingelegt wird. Die Ausführungen zum Streitjahr 2012 konnten in diesem Zusammenhang nur so verstanden werden, dass hierdurch der gegen den Einkommensteuerbescheid 2012 eingelegte Einspruch begründet werden sollte.
Es liegt ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten vor
2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt voraus, dass jemand ohne sein Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO). Demzufolge kommt es darauf an, dass das Hindernis nicht auf einem Verschulden des Säumigen beruht.
Vorliegend ist von einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten auszugehen, das der Klägerin zuzurechnen ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO). Wie der Prozessbevollmächtigte in seinem kurz vor der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangenen Schriftsatz erklärt, ist es nicht rekonstruierbar, warum der Umsatzsteuerbescheid für 2012 sich nicht in der für die Einspruchseinlegung und Einspruchsbegründung benutzten Rechtsanwaltsakte, sondern nur in der – bei der Einspruchsbearbeitung nicht benutzten – Steuerakte befand.
Er hat selbst angegeben, bei der Einspruchseinlegung nicht darauf geachtet zu haben, welche Bescheide im Betreff angegeben sind. Ferner hat er sich auch im späteren Verlauf des Verfahrens nicht vergewissert, ob sich der Umsatzsteuerbescheid im Original nicht doch in der Steuerakte befindet.
Die Kostenentscheidung fußt auf § 136 Abs. 1 S. 1 GFO
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision war nicht zuzulassen
IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Insbesondere ist die Klägerin lediglich hinsichtlich des Umsatzsteuerbescheids für 2012 durch die vorliegende Entscheidung beschwert. Ein abstrakter, durch den BFH zu überprüfender Rechtssatz lässt sich der gerichtlichen Entscheidung insoweit nicht entnehmen.