: Keine nachträgliche Anrechnung von Kapitalertragsteuer nach Ablauf der Zahlungsverjährungsfrist
BFH, Urteil vom 12.2.2008 - VII R 33/06
Vorinstanz: FG Berlin vom 8.5.2006 - 8 K 8334/02 (EFG 2006, 1396)
LEITSATZ
Ist abgeführte Kapitalertragsteuer in einer Anrechnungsverfügung nicht angerechnet worden, so kann diese Anrechnung nach Ablauf der durch die Anrechnungsverfügung in Lauf gesetzten Zahlungsverjährungsfrist nicht mehr nachgeholt werden.
AO § 37 Abs. 2, § 130 Abs. 1, § 228; EStG § 36 Abs. 2 und 4, § 45a Abs. 3; KStG § 31 Abs. 1 Satz 1
SACHVERHALT
I.
Gegen die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist 1995 Körperschaftsteuer 1993 festgesetzt worden. In der Anrechnungsverfügung hat der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die von der Klägerin beantragte Anrechnung von Kapitalertragsteuer in Höhe von rd. 11 000 DM abgelehnt, weil die dafür erforderlichen Steuerbescheinigungen nicht vorlagen. Der Vorbehalt der Nachprüfung, unter dem dieser Steuerbescheid stand, ist 1999 aufgehoben worden und die Kapitalertragsteuer auch in der dem betreffenden Bescheid beigefügten Anrechnungsverfügung nicht berücksichtigt worden.
Im Jahr 2001 hat die Klägerin dem FA Steuerbescheinigungen für den vorgenannten Betrag vorgelegt und erneut die Anrechnung der darin ausgewiesenen Kapitalertragsteuer beantragt. Das FA hat dies wegen Zahlungsverjährung abgelehnt und, nachdem die Klägerin hiergegen Einwendungen erhoben hatte, einen Abrechnungsbescheid erlassen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage, die das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1396 veröffentlichten Urteil abgewiesen hat.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin, die im Wesentlichen folgendermaßen begründet wird:
Der Kapitalertragsteuererstattungsanspruch der Klägerin habe in § 36 Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) eine eigenständige materiell-rechtliche Grundlage. Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs sei die Vorlage von Steuerbescheinigungen. Die Fälligkeit des Erstattungsanspruchs setze gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 EStG eine Abrechnungsverfügung des FA voraus, ohne die eine Zahlungsverjährungsfrist nicht habe beginnen können. Mit der Erfüllung der Voraussetzungen für die Anrechnung der Kapitalertragsteuer im Jahr 2001 sei die vorangegangene Anrechnungsverfügung rechtswidrig geworden und gemäß § 130 Abs. 1 und 4 der Abgabenordnung (AO) zurückzunehmen. Hierzu beruft sich die Klägerin auf das Urteil des Senats vom 18. Juli 2000 VII R 32, 33/99 (BFHE 192, 405, BStBl II 2001, 133) sowie auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.
Das FA trägt vor, die Anrechnung der strittigen Kapitalertragsteuer sei mit der Anrechnungsverfügung von 1995 abgelehnt worden, ohne dass diese innerhalb der Rechtsbehelfsfrist angefochten worden wäre. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sei auf die Änderung einer Anrechnungsverfügung nicht anwendbar. Diese richte sich vielmehr nach §§ 130, 131 AO. Bei einer zu geringen Anrechnung sei eine Änderung der Anrechnungsverfügung jedoch nur innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist möglich (Hinweis auf das Urteil des Senats vom 16. Oktober 1986 VII R 159/83, BFHE 148, 4, BStBl II 1987, 405). Diese Auffassung werde durch § 233a Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 AO gestützt, der ohne Bedeutung wäre, wenn eine Anrechnungsverfügung jederzeit geändert werden könnte. Das Urteil des Senats in BFHE 192, 405, BStBl II 2001, 133 stehe dem nicht entgegen; denn es betreffe einen Fehler zugunsten des Steuerpflichtigen, nämlich einen Fall, in dem wegen der Fälligkeitsregelung des § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG der festgesetzte Einkommensteueranspruch mangels Anforderung einer Abschlusszahlung noch nicht fällig geworden und damit kein Verjährungsbeginn eingetreten sei. Das werde insbesondere durch die Bezugnahme dieses Urteils auf das Urteil in BFHE 148, 4, BStBl II 1987, 405 deutlich.
AUS DEN GRÜNDEN
II.
Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das angefochtene Urteil entspricht dem Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 FGO).
Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil des Senats vom 15. April 1997 VII R 100/96, BFHE 182, 506, BStBl II 1997, 787) vollzieht sich die in § 36 Abs. 4 EStG vorgeschriebene Abrechnung über die nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auf die Einkommensteuer anzurechnenden Steuerzahlungen, zu denen die hier strittige Kapitalertragsteuer gehört, durch einen selbständigen, der Bestandskraft fähigen Verwaltungsakt, der nur unter den Voraussetzungen des § 130 AO geändert werden kann. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall insoweit vor, als die strittige Kapitalertragsteuer, also eine durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 EStG), entgegen § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG (in der damals anzuwendenden Fassung des Standortsicherungsgesetzes vom 13. September 1993, BGBl I 1993, 1569), der gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes hier anzuwenden ist, nicht auf die Körperschaftsteuerschuld der Klägerin angerechnet worden ist. Denn zu Lasten eines Steuerpflichtigen von einem Kreditinstitut einbehaltene und an das FA abgeführte Kapitalertragsteuer ist nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auf die gegen den Steuerpflichtigen festgesetzte Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer anzurechnen. Die Vorlage einer Bescheinigung über die Einbehaltung und Abführung der Kapitalertragsteuer (§ 45a Abs. 2 und 3 EStG) ist jedoch Voraussetzung der Anrechnung (Seibel in Herrmann/Heuer/Raupach, § 36 EStG Rz 23); sie erbringt den erforderlichen Nachweis der Einbehaltung und Abführung von Kapitalertragsteuer in gesetzlicher Form, welcher nur durch die vorgenannte Bescheinigung geführt werden kann (vgl. R 154 Abs. 2 i.V.m. R 213g Abs. 2 Satz 1 der Einkommensteuer-Richtlinien 1993, sowie jetzt § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 EStG; Blümich/Stuhrmann, § 36 EStG Rz 28). Wird die Bescheinigung nicht vor Ergehen der Veranlagung bzw. der mit dieser zu verbindenden Anrechnungsverfügung, sondern nachträglich vorgelegt, ist der Anrechnungsanspruch aber mangels einer diesbezüglichen gesetzlichen Regelung nicht etwa in einem besonderen, auf Erstattung der durch Steuereinbehalt geleisteten Zahlungen gerichteten Verfahren geltend zu machen und es wird dadurch insbesondere auch nicht unmittelbar ein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO ausgelöst; denn diese Vorschrift ist insofern nicht einschlägig, als die Kapitalertragsteuer nicht ohne rechtlichen Grund geleistet worden ist und der rechtliche Grund für diese Leistung auch nicht im Sinne vorgenannter Vorschrift entfällt, wenn die Voraussetzungen für eine Anrechnung der geleisteten Kapitalertragsteuer auf die festgesetzte Einkommensteuer von dem Steuerpflichtigen nachträglich geschaffen werden. Vielmehr wird in einem solchen Fall die (zunächst dem Gesetz gemäß) erlassene Anrechnungsverfügung rechtswidrig, weil es Sinn und Zweck des Anrechnungsverfahrens widerspräche, nach Erlass der Anrechnungsverfügung eintretende Tatsachen für die rechtliche Bewertung derselben außer Betracht zu lassen.
Die rechtswidrig gewordene Anrechnungsverfügung kann also, und zwar obwohl sie unanfechtbar geworden ist, gemäß § 130 Abs. 1 AO zurückgenommen werden. Damit ist jedoch noch nichts über die Frage gesagt, ob einer Rücknahmeentscheidung des FA anderweit zu beachtende Rechtsvorschriften, insbesondere die Vorschriften über die Zahlungsverjährung (§ 228 ff. AO) entgegenstehen können, welche im Streitfall die Weigerung des FA, die Anrechnungsverfügung nach § 130 Abs. 1 AO zurückzunehmen, rechtmäßig erscheinen lassen.
Eine solche Rechtfertigung kann sich insbesondere aus den Vorschriften ergeben, welche die in der Anrechnungsverfügung zu berücksichtigenden steuerlichen Forderungen und Ansprüche betreffen. Denn die Anrechnungsverfügung ist ein deklaratorischer, bestätigender Verwaltungsakt; er begründet keine Ansprüche, die nicht bereits unabhängig von der Anrechnungsverfügung bestehen, sondern zieht lediglich die rechnerischen Folgen aus anderweit begründeten Rechten und Pflichten (Urteil des Senats in BFHE 192, 405, BStBl II 2001, 133). Dementsprechend hat der Senat in der eben genannten Entscheidung für die Beantwortung der Frage, ob die in einer Anrechnungsverfügung unzutreffend ausgewiesene Abschlusszahlung nachträglich geändert werden kann, darauf abgestellt, ob die Erhebung der Einkommensteuer, die festgesetzt, aber bei der Bemessung der Abschlusszahlung zu Unrecht nicht berücksichtigt worden war, infolge Zahlungsverjährung ausgeschlossen ist, und dies in dem dort entschiedenen Fall verneint, weil eine zwar festgesetzte, aber bei der Bemessung der Abschlusszahlung nicht berücksichtigte Einkommensteuer gemäß § 36 Abs. 4 EStG nicht fällig werde und deshalb einer Zahlungsverjährung nicht unterliege.
Im Streitfall ist ebenfalls die Abschlusszahlung objektiv unrichtig festgesetzt. Die objektive Unrichtigkeit der Anrechnungsverfügung besteht indes anders als in dem vorgenannten Urteilsfall nicht darin, dass festgesetzte Einkommensteuer nicht fällig gestellt worden ist und damit die Zahlungsverjährungsfrist (§ 228 AO), wenn man, wie der Senat in vorgenannter Entscheidung angenommen hat, auf die festgesetzte Einkommensteuer (und nicht nur auf die Abschlusszahlung als solche) § 36 Abs. 4 EStG anwenden muss, für sie nicht begonnen hat, sondern dass gleichsam umgekehrt Einkommensteuer fällig gestellt worden ist, die nicht hätte fällig gestellt werden dürfen. Es geht also im Streitfall um die --wie das FG richtig erkannt hat, durch das vorgenannte Urteil des Senats nicht entschiedene-- Frage, ob eine solche Fälligkeitsbestimmung für einen bestimmten Betrag, die den Lauf der Zahlungsverjährungsfrist für diesen angeblich von dem Steuerpflichtigen geschuldeten Betrag ausgelöst hat, noch zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden kann, nachdem jene Frist bereits abgelaufen ist.
Diese im Gesetz wortwörtlich nicht beantwortete Frage ist zu verneinen. Denn das Institut der Zahlungsverjährung soll im Erhebungsverfahren dafür sorgen, dass nach Ablauf einer angemessenen Frist endgültig Rechtssicherheit darüber einkehrt, was der Steuerpflichtige aufgrund der Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung anzurechnender Vorauszahlungen und Abzugssteuern noch zu zahlen hat bzw. was ihm zu erstatten ist. Das schließt es nicht nur aus, fällig gewordene steuerliche Ansprüche nach Ablauf der vom Gesetz in diesem Zusammenhang festgelegten Fünf-Jahres-Frist noch geltend zu machen, sondern auch, auf fällig gewordene Steuern nach Ablauf dieser Frist etwas anzurechnen und dadurch Erstattungsansprüche i.S. des § 37 Abs. 2 AO auszulösen.
Zu Unrecht hält die Revision dem entgegen, einen selbständigen steuerlichen Erstattungsanspruch geltend zu machen, der mangels objektiv-richtiger Anrechnungsverfügung des FA bisher nicht fällig geworden sei. Dieser Betrachtungsweise vermag der erkennende Senat nicht zu folgen. Die Klägerin verkennt, dass sie keinen von der Anrechnungsverfügung in dem gegen sie ergangenen Körperschaftsteuerbescheid unabhängigen Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO geltend machen kann --Kapitalertragsteuer ist von den Kapitalerträgen der Klägerin zu Recht einbehalten und an das FA abgeführt worden--, sondern dass ihr Erstattungsanspruch lediglich die Folge einer Änderung der Anrechnungsverfügung des FA wäre. Diese Änderung ist aber nach Ablauf der Zahlungsverjährungsfrist, die mit der Festsetzung der Abschlusszahlung zu laufen begonnen hat, ausgeschlossen.
Ob mit der Festsetzung der Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer oder erst mit der Vorlage von Steuerbescheinigungen (vgl. so offenbar Urteil des Bundesfinanzhofs vom 26. November 1997 I R 110/97, BFH/NV 1998, 581) ein Anspruch auf Vergütung abgeführter Kapitalertragsteuer entsteht, bedarf keiner Erörterung, weil die Vergütung jedenfalls aufgrund des § 36 Abs. 2 EStG durch Anrechnung vorzunehmen ist und, wie dargelegt, im Streitfall nicht mehr vorgenommen werden kann.