Schleswig-Holsteinisches FG: Kein Vorsteuerabzug des Lagerhalters für Einfuhrumsatzsteuer
Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 9.10.2014 – 4 K 67/13
Orientierungssätze
1. Der Betreiber eines Zolllagers ist im Hinblick auf die ihm gegenüber gemäß Art. 203 ZK i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG festgesetzte Einfuhrumsatzsteuer nicht zum Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG berechtigt, wenn er keine Verfügungsbefugnis an den eingeführten Waren erlangt (Rn.23)(Rn.27)(Rn.28)(Rn.30)(Rn.32).
2. Das Kriterium der Verfügungsbefugnis ergibt sich hierbei gleichermaßen aus dem unionsrechtlichen Merkmal der Verwendung der eingeführten Gegenstände für Zwecke der besteuerten Umsätze wie aus dem in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG enthaltenen Merkmal der Einfuhr für das Unternehmen. Eine unionsrechtswidrige Abweichung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG liegt damit nicht vor (Rn.28).
3. Revision eingelegt (Az. des BFH: V R 68/14).
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über den Vorsteuerabzug für die von der Klägerin in den Streitjahren 2002 bis 2008 gezahlte Einfuhrumsatzsteuer.
Die Klägerin ist eine GmbH, deren Gegenstand die Herstellung und der Vertrieb von Industrieprodukten aus Kunststoff und Kautschuk ist. Bis zum Widerruf durch das Hauptzollamt (HZA) vom 4. März 1999 war die Klägerin Inhaberin eines privaten Zolllagers Typ D. Im Zolllager waren in den Jahren 1997 und 1998 neben Gegenständen im Eigentum der Klägerin vor allem Reifen ihrer damaligen Schwestergesellschaft, der X GmbH, sowie Werkzeuge der Y GmbH und Damenoberbekleidung der Z GmbH eingelagert. Die X GmbH gehörte derselben Unternehmensgruppe an wie die Klägerin. Über das Vermögen der X GmbH wurde Ende 2000 das Insolvenzverfahren eröffnet.
Im Rahmen einer am 9. November 1998 durchgeführten Bestandsaufnahme stellte das HZA Fehlmengen im Sollbestand des Zolllagers im Wert von 1.248.628,24 DM für Reifen, im Wert von 30.930,95 DM für Werkzeuge und im Wert von 5.891,76 DM für Miederwaren fest. Aufgrund der im Rahmen der Bestandsaufnahme getroffenen Feststellungen setzte das HZA gemäß Art. 218 Abs. 3 des Zollkodexes (ZK) i. V. m. § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) mit Bescheiden vom 16. März 1999 und vom 19. März 2001 gegenüber der Klägerin Einfuhrumsatzsteuer in Höhe von insgesamt 219.260,42 DM fest. Mit Einfuhrabgabenbescheid vom 10. September 2002 setzte das HZA gemäß Art. 236 Abs. 1 ZK i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG die Einfuhrumsatzsteuer auf 109.799,56 € herab.
Die Klägerin entrichtete in den Streitjahren auf den Einfuhrabgabenbescheid vom 10. September 2002 Einfuhrumsatzsteuer in Höhe von insgesamt 109.808,03 € ratenweise in folgenden Teilbeträgen:
2002 1.500,00 €
2003 310,24 €
2004 26.160,14 €
2005 27.500,00 €
2006 30.000,00 €
2007 22.559,81 €
2008 1.777,84 €
Die gezahlte Einfuhrumsatzsteuer berücksichtigte die Klägerin in den Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre in Höhe der jeweiligen Zahlungsbeträge als abziehbare Vorsteuern. Den Steueranmeldungen in Höhe von -27.912,69 € (2002), -57.350,52 € (2003), ˗39.903,30 € (2004), -31.937,07 € (2005), -23.598,55 € (2006), und -20.973,29 € (2007) stimmte der Beklagte jeweils zu. Für das Streitjahr 2008 meldete die Klägerin Umsatzsteuer in Höhe von -644,42 € an.
Im Rahmen einer bei der Klägerin für die Jahre 2000 bis 2006 durchgeführten Umsatz-steuer-Sonderprüfung stellte der Prüfer fest, dass die Klägerin ausweislich der Jahresabschlüsse für 1997 und 1998 sowie der weiteren vorgelegten Unterlagen im Zeitpunkt der Einfuhr nicht die für den Vorsteuerabzug erforderliche Verfügungsmacht über die im Rahmen der Bestandsermittlung erfassten Gegenstände besessen habe. Aus dem Konto 5200 „Einkauf von Waren“ zur Gewinn- und Verlustrechnung ergebe sich, dass die Klägerin in 1997 und 1998 Waren aus Drittländern in Höhe von lediglich 80.036 DM bezogen habe. Ein Vorsteuerabzug könne nicht von Personen vorgenommen werden, die ohne eigene Verfügungsmacht lediglich an der Einfuhr mitgewirkt hätten; dies gelte auch dann, wenn sie die eingeführten Gegenstände vorübergehend entsprechend den Weisungen ihres Auftraggebers auf Lager nähmen oder Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer seien bzw. diese entrichtet hätten.
Im Anschluss an die Umsatzsteuer-Sonderprüfung erließ der Beklagte am 12. März 2010 Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre, in denen er die von der Klägerin in den Streitjahren gezahlte Einfuhrumsatzsteuer nicht als abziehbare Vorsteuer anerkannte und die festgesetzte Umsatzsteuer auf -26.412,69 € (2002), -57.040,28 € (2003), -13.743,16 € (2004), -4.437,07 € (2005), 6.401,45 € (2006), und 1.586,52 € (2007) erhöhte. Für das Streitjahr 2008 setzte der Beklagte die Umsatzsteuer in Höhe von 853,53 € fest.
Gegen die Umsatzsteuerbescheide legte die Klägerin am 13. April 2010 Einspruch ein. Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 2013 als unbegründet zurück. Die als Vorsteuer geltend gemachte Einfuhrumsatzsteuer sei gemäß Art. 203 Abs. 1 ZK i. V. m. §§ 13 Abs. 2, 21 Abs. 2 UStG bereits mit Entstehung der Zollschuld bei der Entziehung der einfuhrabgabepflichtigen Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstanden. Der in § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG geregelte Tatbestand der Einfuhr richte sich damit nach der Gesetzesfassung vor der Neuregelung durch das Steueränderungsgesetz 2003 mit Wirkung vom 1. Januar 2004. Danach unterliege der Umsatzsteuer die Einfuhr von Gegenständen aus dem Drittlandsgebiet in das Inland. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur bis Ende 2003 geltenden Gesetzesfassung setze der Vorsteuerabzug der Einfuhrumsatzsteuer gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG voraus, dass der Unternehmer im Zeitpunkt der Einfuhr die Verfügungsmacht über den eingeführten Gegenstand besitze und damit in der Lage sei, den Gegenstand in sein Unternehmen einzugliedern (BFH-Urteile vom 24. April 1980 V R 52/73, Bundessteuerblatt - BStBl - II 1980, 615; vom 18. Juli 1985 V R 8/85, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ˗ BFH/NV ˗ 1986, 243; vom 12. September 1991 V R 118/87, BStBl II 1991, 937; vom 16. März 1993 V R 65/89, BStBl II 1993, 473). Für den Vorsteuerabzug komme es nicht darauf an, wer Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer sei und wer die Einfuhrumsatzsteuer entrichtet habe. Personen, die eine Einfuhr bewirkt oder bei der Einfuhr mitgewirkt hätten, ohne über den Gegenstand verfügen zu können, seien daher nicht zum Abzug der Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer berechtigt. Die Klägerin könne die ihr gegenüber festgesetzte Einfuhrumsatzsteuer nur dann als Vorsteuer abziehen, wenn die im Zolllager als fehlend festgestellte Ware für das Unternehmen der Klägerin im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit zur Ausführung von Umsätzen eingesetzt worden sei. An der hierfür erforderlichen umsatzsteuerlichen Verfügungsmacht fehle es, wenn die Klägerin als Zolllagerhalterin lediglich Ware für andere Unternehmen gelagert habe; dies gelte auch dann, wenn die Klägerin aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen mit den Auftraggebern hinsichtlich der eingelagerten Ware bestimmte Vorgänge eigenständig habe veranlassen dürfen oder durch die von ihr zu verantwortenden Unregelmäßigkeiten im Zolllagerverfahren rein faktisch die eine Einfuhr der Gegenstände auslösenden Vorgänge gesteuert habe. Aus den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen sei nicht ersichtlich, dass die im Zolllager fehlenden Reifen und Werkzeuge im umsatzsteuerlichen Sinne in den Unternehmensbereich der Klägerin eingegliedert worden seien. In den Jahresabschlüssen für 1997 und 1998 seien lediglich Wareneinkäufe in Höhe von 80.036 DM ausgewiesen. Demgegenüber seien nach Aufstellung des HZA Reifen im Wert von 1.307.692 DM und Werkzeuge im Wert von 127.575 DM, die dem Zolllager in den Jahren 1997 und 1998 zugeführt worden seien, der zollamtlichen Überwachung entzogen worden. Eine Einfuhr für das Unternehmen der Klägerin ergebe sich auch nicht daraus, dass die Klägerin die Einfuhrumsatzsteuer aufgrund ihrer besonderen Verpflichtung als Zolllagerhalterin entrichtet habe, da der Zolllagerhalter bei Unregelmäßigkeiten im Zolllagerverfahren neben weiteren hieran Beteiligten als Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer in Anspruch genommen werden könne. Für das von der Klägerin vorgetragene Treuhandverhältnis bestünden keine Anhaltspunkte. Die Voraussetzungen der bis 2004 geltenden Erleichterungsregelung in § 41a der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung 1999 (UStDV) seien schließlich im Streitfall nicht erfüllt. Die Vorschrift setze voraus, dass der Abnehmer die Einfuhrumsatzsteuer entrichtet habe. Der Verbleib der Ware sei jedoch nicht bekannt, so dass der Abnehmer nicht bestimmt werden könne.
Hiergegen richtet sich die am 7. Juni 2013 beim Finanzgericht eingegangene Klage. Die Klägerin macht zur Begründung ihrer Klage geltend, dass sie als Lagerhalterin gemäß § 185 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ermächtigt gewesen sei, über die im Zollager befindlichen Waren wie eine Eigentümerin zu verfügen. Sie habe sich jeweils die Verfügungsmacht an den im Zolllager befindlichen Waren einräumen lassen; schriftliche Unterlagen existierten hierüber indessen nicht mehr. Die Klägerin sei gegenüber der X GmbH, mit der sie unternehmerisch kooperiert habe, als Kommissionärin gemäß § 383 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs (HGB) tätig geworden. Zwischen der Klägerin und ihrer Schwestergesellschaft habe die Vereinbarung bestanden, dass die Klägerin die eingelagerten Waren „bestmöglich“ für ihre Auftraggeber veräußern solle. Soweit die Klägerin gegenüber Unternehmen tätig geworden sei, mit denen sie nicht unternehmerisch kooperiert habe, habe sie einen Lagervertrag gemäß § 467 HGB abgeschlossen. Für die Tätigkeit als Kommissionärin bzw. als Verwahrerin habe die Klägerin auch ein Entgelt vereinbart und erhalten; die entsprechenden Unterlagen seien jedoch nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichtet worden. Die der Klägerin aus den Kommissionsgeschäften zustehenden Provisionsansprüche ergäben sich aus § 396 Abs. 1 HGB; nach § 396 Abs. 2 HGB seien der Klägerin zudem Aufwendungen zu ersetzen, zu denen auch die Vergütung für die Nutzung der Lagerräume durch die Kommittenten gehöre. Soweit die Klägerin die Ansprüche gegen die X GmbH wegen deren Zahlungsunfähigkeit nicht habe realisieren können, habe sie sich gemäß § 397 HGB aus dem ihr zustehenden Pfandrecht an dem eingelagerten Kommissionsgut befriedigen können. Die Klägerin sei zudem als wirtschaftliche Eigentümerin i. S. d. § 39 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung anzusehen, da sie die tatsächliche Herrschaft über die eingelagerten Waren ausgeübt habe. Die Verfügungsbefugnis der Klägerin habe auch zum Zeitpunkt der Einfuhr der Waren und zu dem Zeitpunkt bestanden, als die Waren in den zollrechtlich freien Verkehr gelangt seien. Die im Zolllager der Klägerin befindlichen Waren gelten nach der in den Streitjahren 2002 und 2003 geltenden Regelung in § 41a UStDV als für das Unternehmen der Klägerin eingeführt, da die Einfuhrumsatzsteuer von der Klägerin als ermächtigter Abnehmerin entrichtet worden sei. § 41a UStDV sei im Streitfall anwendbar, da die zum Zeitpunkt des Grenzübertritts ursprünglich verfügungsbefugte Person nicht mehr feststellbar sei und nicht der Person entspreche, die zum Zeitpunkt der Abfertigung zum freien Verkehr verfügungsbefugt gewesen sei. Für die Verfügungsmacht der Klägerin sei im Streitfall auf den Zeitpunkt der Überführung der Waren in den zollrechtlich freien Verkehr abzustellen, in dem die Klägerin neben dem Eigentümer verfügungsberechtigt gewesen sei. Die Klägerin habe die im Zolllager befindlichen Waren auch für ihr Unternehmen erworben, da ihre Aufgabe als deutsche Vertriebsgesellschaft innerhalb der A-Unternehmensgruppe darin bestanden habe, die im Zolllager befindlichen Waren an dritte Abnehmer zu veräußern. Die Absicht der Klägerin, im Rahmen der eingeräumten Ermächtigung eigene Umsätze durch Veräußerung dieser Waren zu erzielen, sei insoweit ausreichend. Es komme daher nicht darauf an, ob die Waren im Jahresabschluss der Klägerin als Warenbestand bzw. Wareneinsatz erfasst worden seien.
Die Anknüpfung des in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG geregelten Vorsteuerabzugs an die Verfügungsmacht sei nicht mit der unionsrechtlichen Regelung in Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (6. EG-RL) bzw. Art. 168 Buchst. e der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 28. November 2006 (MwStSystRL) vereinbar. Das Recht auf Vorsteuerabzug entstehe danach im Zeitpunkt der Einfuhr, ohne dass es auf die Verfügungs-macht über die eingeführten Gegenstände ankomme. Der BFH habe diese Rechtsfrage im Urteil vom 23. September 2004 V R 58/03 (BFH/NV 2005, 825) und im Beschluss vom 13. Oktober 2004 V B 52/04 (BFH/NV 2005, 259) offen gelassen. Die Einfuhrumsatz-steuer sei anlässlich der unternehmerischen Tätigkeit der Klägerin als Kommissionärin bzw. Lagerhalterin entstanden, die die Lagerung und zollrechtliche Abfertigung für die Auftraggeber umfasst habe; außerunternehmerische Gründe seien insoweit ausgeschlossen. Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer sei nach Auslegung des Steuerbescheides des HZA vom 19. März 1999 eine aufgrund der festgestellten Fehlmengen von der Klägerin zu vertretende warenbezogene Unregelmäßigkeit i. S. d. Art. 202 ff. ZK. Die Einfuhrzollschuld sei nach Art. 203 Abs. 1 ZK entstanden, da die eingelagerten Waren durch die einfuhrabgabenpflichtige Entnahme aus dem Zolllager der zollamtlichen Überwachung entzogen werden seien. Die Klägerin sei gemäß Art. 203 Abs. 3 ZK Zollschuldnerin, da sie als Inhaberin des Zolllagers verpflichtet gewesen sei, die Waren bei der Entnahme aus dem Zolllager dem Zollverfahren zuzuführen. Dies ergebe sich auch aus der Einspruchsentscheidung des HZA vom 5. Januar 2000. Das HZA habe die Klägerin als Importeurin der bei der Bestandsaufnahme fehlenden Waren in Anspruch genommen, da ihr aufgrund der Unregelmäßigkeiten der Import der im Zolllager befindlichen Waren zugerechnet worden sei. Das HZA habe mit Steuerbescheid vom 19. März 1999 zugleich mit Tatbestandswirkung für die Einfuhrumsatzsteuer entschieden, dass die Klägerin die Einfuhrabgaben als Importeurin schulde (vgl. BFH-Beschluss vom 22. Februar 2012 VII B 17/11, ZfZ 2012, 134; Finanzgericht -FG - Hamburg, Urteil vom 19. Dezember 2012 5 K 302/09, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2013, 562). Der Steuerbescheid vom 19. März 1999 stelle ein Dokument i. S. d. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der 6. EG-RL bzw. Art. 178 Buchst. e MwSt-SystRL dar, aus dem sich die Einfuhr der Gegenstände durch die Klägerin ergebe (vgl. BFH-Urteil vom 13. Februar 2014 V R 8/13, BStBl II 2014, 595).
Dem Vorsteuerabzug der Klägerin stehe nicht entgegen, dass die Klägerin im Streitfall gemäß Art. 201, 203, 213 ZK gesamtschuldnerisch neben weiteren Personen für die Einfuhrumsatzsteuer hafte. Für den Vorsteuerabzug komme es allein auf die tatsächliche Inanspruchnahme als Zollschuldner an. Im Streitfall sei ausschließlich die Klägerin vom HZA in Anspruch genommen worden. Die Versagung des Vorsteuerabzugs für die von der Klägerin entrichtete Einfuhrumsatzsteuer verstoße schließlich gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, da die Klägerin im Hinblick auf die in ihrem Zolllager befindlichen Waren keine Letztverbraucherin im umsatzsteuerlichen Sinne sei. Es sei daher nicht gerechtfertigt, die Klägerin mit der Einfuhrumsatzsteuer zu belasten und ihr zugleich den Vorsteuerabzug für die entrichtete Einfuhrumsatzsteuer zu versagen, wenn wie im Streitfall ausgeschlossen sei, dass die Einfuhrumsatzsteuer auch von dem tatsächlichen Lieferer als Vorsteuer abgezogen worden sei.
Der Kläger beantragt,
die Umsatzsteuerbescheide für 2002 bis 2008 vom 12. März 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 2013 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte trägt vor, dass es sich bei den entzogenen Gegenständen nicht um Waren gehandelt habe, die für das Unternehmen der Klägerin i. S. d. umsatzsteuerlichen Verfügungsmacht eingeführt worden seien. Im Streitfall komme es entsprechend der Rechtsprechung des BFH zur Gesetzesfassung vor dem Steueränderungsgesetz 2003 darauf an, ob die Klägerin Verfügungsmacht über die eingeführten Gegenstände gehabt und die Gegenstände in ihr Unternehmen eingegliedert habe. Das hiervon abweichende Urteil des FG Hamburg in EFG 2013, 562 betreffe dagegen die spätere Gesetzesfassung. Der von der Klägerin vorgelegte Einfuhrabgabenbescheid vom 19. März 1999 stelle keinen ausreichenden Nachweis dafür dar, dass die Klägerin Importeurin bzw. Empfängerin der Lieferung i. S. d. Art. 178 Buchst. e MwStSystRL gewesen sei. Aus dem Einfuhrabgabenbescheid gehe nicht hervor, wer Importeur bzw. Empfänger der Lieferung i. S. d. Art. 178 Buchst. e MwStSystRL sei. Die Einfuhrumsatzsteuer sei zwar gegenüber der Klägerin festgesetzt worden; im Falle einer Entziehung von Waren komme eine Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer jedoch gemäß Art. 203 Abs. 3 ZK gegenüber mehreren Personen in Betracht. Die Klägerin sei im Streitfall als Inhaberin des Zolllagers in Anspruch genommen worden. Der Abzug der Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer werde zudem dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nicht gerecht, da offen bleibe, ob die entzogenen Waren tatsächlich für steuerpflichtige Umsätze verwendet worden seien. Ein Unternehmer, der Logistikleistungen erbringe, sei nach der Berufungsentscheidung des Unabhängigen Finanzsenats Linz vom 5. Juli 2013 RV/1311-L/11 selbst dann nicht als Importeur oder Empfänger der Lieferung anzusehen, wenn die Zollschuld wegen einer von ihm begangenen Zollunregelmäßigkeit entstanden und gegen ihn festgesetzt worden sei. Zum Vorsteuerabzug berechtigt sei vielmehr allein der Auftraggeber als Importeur oder Empfänger der Lieferung, da die für den Vorsteuerabzug erforderliche Verwendung der eingeführten Gegenstände für Zwecke der besteuerten Umsätze nur dann vorliege, wenn die Kosten für die mit Umsatzsteuer belasteten Gegenstände zu den Kostenelementen eines bestimmten Umsatzes oder zu den allgemeinen Kosten des Steuerpflichtigen gehörten und als solche in den Preis der Produkte seines Unternehmens eingingen. Dies sei nicht der Fall, wenn ein Unternehmer lediglich Logistikleistungen erbringe. Nach dem BFH-Urteil in BStBl II 2014, 595 stelle der Einfuhrabgabenbescheid vom 19. März 1999 zwar ein für die Ausübung des Vorsteuerabzugs maßgebliches Dokument i. S. d. Art. 178 Buchst. e MwStSystRL dar. Die Voraussetzungen für die Ausübung des Vorsteuerabzugs hätten damit bereits 1999 vorgelegen. Ein Wahlrecht, den Vorsteuerabzug alternativ auch in späteren Besteuerungszeiträumen, wie den Streitjahren, geltend zu machen, bestehe nach dem BFH-Urteil indessen nicht. Zur weiteren Begründung verweist der Beklagte auf die Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 2013.
Am 28. Januar 2014 ist ein Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt worden, in dem die Klägerin zur weiteren Aufklärung im Hinblick auf die im Zolllager eingelagerten Gegenstände aufgefordert worden ist.
In der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2014 ist die Geschäftsführerin der Klägerin informatorisch angehört worden.
Aus den Gründen
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der Beklagte hat den Vorsteuerabzug für die von der Klägerin in den Streitjahren gezahlte Einfuhrumsatzsteuer zu Recht abgelehnt.
1. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG kann der Unternehmer die entrichtete Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände, die für sein Unternehmen in das Inland eingeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen. Der Einfuhrumsatzsteuer unterliegt nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG die Einfuhr von Gegenständen aus dem Drittlandsgebiet in das Inland. Für die Einfuhr i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG kommt es allein auf das Verbringen des Gegenstands über die Grenze an (Birkenfeld/Wäger, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, § 174 Rz. 21; Abschn. 199 Abs. 2 Satz 1 der Umsatzsteuer-Richtlinien 2000).
Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes 1999 in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2003 - UStG n.F. - (Bundesgesetzblatt I 2003, 2645) kann der Unternehmer die entrichtete Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände, die für sein Unternehmen nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG n.F. eingeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge abziehen. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG n.F. unterliegt der (Einfuhr-)Umsatzsteuer die Einfuhr von Gegenständen im Inland. Eine Einfuhr i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG n.F. setzt damit voraus, dass ein Gegenstand aus dem Drittlandsgebiet in das Inland verbracht wird und dieser Vorgang steuerbar ist; die Einfuhr ist damit ausgeschlossen, wenn der Gegenstand – z. B. im Rahmen einer Zolllagerregelung – in ein Zollverfahren überführt wird (Birkenfeld/Wäger, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, § 174 Rz. 42 und 71).
Da die für den Streitfall maßgeblichen Einfuhrvorgänge bereits in den Jahren vor Inkrafttreten des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG n.F. erfolgt sind, richtet sich der streitige Vorsteuerabzug allein nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG. Auf den Zeitpunkt der Entrichtung der Einfuhrumsatzsteuer (Streitjahre 2002 bis 2008) kommt es insoweit nicht an (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 1 UStG).
a) Eine Einfuhr für das Unternehmen i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG ist nach der Rechtsprechung des BFH gegeben, wenn der Unternehmer den eingeführten Gegenstand seinem im Inland belegenen Unternehmensbereich zuordnet, um ihn zur Ausführung von Umsätzen einzusetzen (BFH-Urteile vom 12. September 1991 V R 118/87, BStBl II 1991, 937; vom 16. März 1993 V R 65/89, BStBl II 1993, 473). Dies setzt voraus, dass der Unternehmer im Zeitpunkt der Einfuhr die Verfügungsmacht über den eingeführten Gegenstand besitzt oder im Zusammenhang mit der Einfuhr erlangt (BFH-Urteile vom 24. April 1980 V R 52/73, BStBl II 1980, 615; vom 12. September 1991 V R 118/87, BStBl II 1991, 937; vom 16. März 1993 V R 65/89, BStBl II 1993, 473; offen gelassen im BFH-Beschluss vom 13. Oktober 2004 V B 52/04, BFH/NV 2005, 259). Der Einsatz des eingeführten Gegenstands zur Bewirkung von Umsätzen reicht für den Vorsteuerabzug nicht aus, da hierdurch die – stets nur einem Unternehmer zustehende – Abzugsberechtigung bezüglich der Einfuhrumsatzsteuer nicht eindeutig festgestellt werden kann (BFH-Urteil vom 24. April 1980 V R 52/73, BStBl II 1980, 615).
Für den Vorsteuerabzug ist nicht entscheidend, wer Schuldner der entrichteten Einfuhrumsatzsteuer war, wer diese entrichtet hat und wer den für den vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer eingeführten Gegenstand tatsächlich über die Grenze gebracht hat (BFH-Urteil vom 16. März 1993 V R 65/89, BStBl II 1993, 473). Personen, die bei der Einfuhr lediglich mitgewirkt haben, aber nicht über den eingeführten Gegenstand verfügen konnten, sind selbst dann nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt, wenn sie den Gegenstand entsprechend den Weisungen ihres Auftraggebers auf Lager genommen haben (Umsatzsteuer-Anwendungserlass 15.8 Abs. 5); dies gilt auch dann, wenn der Gegenstand bei ihnen verloren geht und sie haftbar sind (Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 404).
b) Der Vorsteuerabzug ist nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG erst in dem Besteuerungszeitraum möglich, in dem die Einfuhrumsatzsteuer entrichtet worden ist. Die entrichtete Einfuhrumsatzsteuer kann nur dann abgezogen werden, wenn der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer Besitz an einem auf seinen Namen lautenden zollamtlichen Zahlungsbeleg oder Ersatzbeleg erhalten hat (BFH-Urteil vom 9. Februar 1995 V R 57/93, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs 177, 513).
2. Unionsrechtliche Grundlage für den in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG geregelten Vorsteuerabzug sind Art. 17 Abs. 2 Buchst. b und Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der 6. EG-RL. Gemäß Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der 6. EG-RL ist der Steuerpflichtige (Unternehmer) befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für eingeführte Gegenstände im Inland geschuldet wird oder entrichtet worden ist, soweit die Gegenstände für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden (vgl. nunmehr Art. 168 Buchst. e MwStSystRL). Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht nach Art. 17 Abs. 1 der 6. EG-RL, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der 6. EG-RL über die nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der 6. EG-RL abziehbare Steuer ein die Einfuhr bescheinigendes Dokument besitzen, das ihn als Empfänger oder Importeur ausweist und aus dem sich der geschuldete Steuerbetrag ergibt oder aufgrund dessen seine Berechnung möglich ist (vgl. nunmehr Art. 178 Buchst. e MwStSystRL). Der Abgabenbescheid, mit dem die Einfuhrumsatzsteuer festgesetzt wird, stellt ein solches Dokument dar (BFH-Urteil vom 13. Februar 2014 V R 8/13, BStBl II 2014, 595).
a) Der BFH hat es im Urteil vom 23. September 2004 V R 58/03 (BFH/NV 2005, 825) im Hinblick auf die in Art. 17 Abs. 2 Buchst. b der 6. EG-RL geregelte Voraussetzung der Verwendung des Gegenstands für Zwecke der besteuerten Umsätze für zweifelhaft gehalten, ob die von der Rechtsprechung des BFH für den Vorsteuerabzug geforderte Verfügungsbefugnis des Unternehmers im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben steht. Nach dem Urteil des FG Hamburg vom 19. Dezember 2012 5 K 302/09, EFG 2013, 562) kann der Zolllagerhalter die ihm gegenüber wegen zollrechtlicher Pflichtverletzungen nach Art. 203, 204 ZK i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG festgesetzte Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer abziehen, wenn er als gewerblicher Lagerhalter ausschließlich steuerpflichtige Umsätze bewirkt. Demgegenüber wird ein solcher Vorsteuerabzug in der Berufungsentscheidung des Unabhängigen Finanzsenats Außenstelle Linz vom 5. Juli 2013 (GZ. RV/1311-L/11) abgelehnt, da es an einer Verwendung der eingeführten Gegenstände für Zwecke der besteuerten Umsätze fehle. Denn der Lagerhalter erwerbe die eingeführten Gegenstände nicht, so dass die auf den Gegenständen lastende Einfuhrumsatzsteuer nicht zu den Kostenelementen seiner besteuerten Umsätze gehöre (ebenso Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG Kommentar, § 15 Rz. 784). Eine Abzugsberechtigung für die entrichtete Einfuhrumsatzsteuer besteht danach nur in den Fällen, in denen der Lagerhalter die eingelagerten Gegenstände in eigenem Namen veräußert und diese damit für sein Unternehmen verwendet (Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG Kommentar, § 15 Rz. 785).
b) Der Senat schließt sich der Auffassung des Unabhängigen Finanzsenats Außenstelle Linz in der Berufungsentscheidung vom 5. Juli 2013 (GZ. RV/1311-L/11) an, dass es an einer Verwendung der eingeführten Gegenstände für Zwecke der besteuerten Umsätze fehlt, wenn diese Gegenstände in einem Zolllager gegen Entgelt eingelagert werden, ohne das der Lagerhalter die Verfügungsbefugnis an den eingelagerten Gegenständen erlangt. Eine Verwendung der Gegenstände für Zwecke der besteuerten Umsätze liegt nur dann vor, wenn die eingeführten Gegenstände und die auf diesen Gegenständen lastende Einfuhrumsatzsteuer zu den Kostenelementen der besteuerten Umsätze gehören (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union - EuGH - vom 8. Juni 2000 C-98/98 „Midland Bank“, Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes - Slg. - 2000, I-4177 Rz. 30; BFH-Urteil vom 14. März 2012 XI R 8/10, BFH/NV 2012, 1667). Dies setzt voraus, dass der Lagerhalter die Gegenstände seinem Unternehmen zuordnet, um sie in eigenem Namen zu veräußern. Der Senat teilt die Auffassung des BFH, dass nur durch die Zuordnung zum Unternehmen und die hiermit verbundene Verfügungsbefugnis über die eingeführten Gegenstände die stets nur einem Unternehmer zustehende Abzugsberechtigung bezüglich der Einfuhrumsatzsteuer eindeutig festgestellt werden kann. Das Kriterium der Verfügungsbefugnis ergibt sich hierbei nach Auffassung des Senats gleichermaßen aus dem unionsrechtlichen Merkmal der Verwendung der eingeführten Gegenstände für Zwecke der besteuerten Umsätze wie aus dem in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG enthaltenen Merkmal der Einfuhr für das Unternehmen. Eine unionsrechtswidrige Abweichung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG liegt damit nicht vor, so dass es insoweit keines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bedarf.
3. Nach diesen Grundsätzen steht der Klägerin kein Vorsteuerabzug für die in den Streitjahren entrichtete Einfuhrumsatzsteuer zu.
a) Die Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer gegenüber der Klägerin beruht auf Art. 203 Abs. 1 ZK i. V. m. § 21 Abs. 2 UStG. Nach § 203 Abs. 1 ZK entsteht eine Einfuhrzollschuld (und gemäß § 21 Abs. 2 UStG auch die Einfuhrumsatzsteuer), wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird. Art. 203 ZK verdrängt als Spezialregelung die Entstehung der Einfuhrzollschuld wegen Pflichtverletzungen gemäß Art. 204 ZK (BFH-Urteil vom 7. Dezember 2004 VII R 21/04, BFH/NV 2005, 1166). Eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung liegt vor, wenn die zuständige Zollstelle auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und an der Durchführung von Zollkontrollen gehindert wird (BFH-Urteil vom 7. Dezember 2004 VII R 21/04, BFH/NV 2005, 1166, m. w. N.). Das körperliche Entfernen einer Ware aus einem Zolllager ohne Zustimmung der Zollbehörden führt damit zu einer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung i. S. d. § 203 Abs. 1 ZK (Witte, Zollkodex Kommentar, 6. Aufl., Art. 203 Rz. 6).
Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird (Art. 203 Abs. 2 ZK). Zollschuldner ist nach Art. 203 Abs. 3 ZK – neben weiteren Personen in gesamtschuldnerischer Verpflichtung (Art. 213 ZK) – die Person, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der vorübergehenden Verwahrung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben. Die Klägerin war als Lagerhalterin nach Art. 101 Buchst. a ZK dafür verantwortlich, dass die Waren während ihres Verbleibs im Zolllager nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen werden. Ergibt sich, wie im Streitfall, bei einer Bestandsaufnahme, dass Waren im Zollager fehlen, und bleibt der Grund hierfür unklar, wird allein der Lagerhalter Zollschuldner nach Art. 203 ZK (Witte, Zollkodex Kommentar, 6. Aufl., Art. 203 Rz. 20; Stiehle in Schwarz/Wockenfoth, Zollrecht Kommentar, 3. Aufl., Art. 203 ZK Rz. 21).
b) Die Klägerin hat die ursprünglich im Zollager eingelagerten Waren, für deren Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung die Einfuhrumsatzsteuer festgesetzt worden ist, nicht gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG für ihr Unternehmen eingeführt, da sie keine Verfügungsbefugnis an diesen Waren erlangt hat. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Ausführungen der Geschäftsführerin im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2014. Danach ist die Klägerin bezüglich der eingelagerten Reifen der X GmbH weder als Kommissionärin noch als Vertriebsgesellschaft innerhalb der A-Unternehmensgruppe tätig geworden. Die Klägerin hat sich jedenfalls bis zur Bestandsaufnahme im November 1998 darauf beschränkt, im Hinblick auf die eingelagerten Waren Logistikleistungen zu erbringen. Eine Veräußerung dieser Waren erfolgte dagegen ausschließlich durch die X GmbH im eigenen Namen.
Die X GmbH war nach den Ausführungen der Geschäftsführerin der Klägerin bis zum Jahr 2000 für den Vertrieb der im Runderneuerungswerk in Polen hergestellten Reifen zuständig. Aufträge der Abnehmer wurden hierzu ausschließlich an die X GmbH erteilt, die den eigentlichen Kontakt zu den Kunden herstellte. Die Klägerin organisierte lediglich den Transport der Reifen aus Polen zu den Kunden bzw. zum Zolllager und erledigte die Zollformalitäten. Die X GmbH war bis 1998 Vertragspartner des Runderneuerungswerks in Polen und entrichtete auch den Kaufpreis für die von dort bezogenen Reifen sowie die Einfuhrumsatzsteuer für die an die Kunden gelieferten Reifen. Bei dem im Rahmen der Bestandsaufnahme am 9. November 1998 festgestellten Fehlbestand handelte es sich ausschließlich um solche Reifen, die von der X GmbH erworben und veräußert worden sind, da die Reifen durchschnittlich nur drei bis vier Wochen im Zollager der Klägerin verblieben.
Die Klägerin selbst hat nach den Ausführungen der Geschäftsführerin erst im Jahr 1999 begonnen, Reifen in eigenem Namen aus Polen zu erwerben und an Abnehmer zu veräußern. Zuvor hatte sie vor dem Hintergrund finanzieller Probleme der X GmbH bereits Reifen, die von der X GmbH erworben worden waren, in eigenem Namen veräußert. Die finanziellen Probleme traten ebenfalls erst 1999 im Anschluss an den im August 1998 erfolgten Umzug der Klägerin in ein größeres Gebäude auf.
Im Hinblick auf die weiterhin eingelagerten Werkzeuge der Y GmbH sowie die Miederwaren der Z GmbH hat die Klägerin ebenfalls ausschließlich Logistikleistungen durch Einlagerung dieser Waren erbracht, durch die sie keine Verfügungsbefugnis an den eingelagerten Gegenständen erhalten hat. Dies ergibt sich aus den Ausführungen der Geschäftsführerin der Klägerin, dass die Klägerin die Werkzeuge und Miederwaren für diese externen Firmen eingelagert und hierfür jeweils Rechnungen geschrieben hat.
c) Die Berücksichtigung der von der Klägerin gezahlten Einfuhrumsatzsteuer als Vor-steuer in den angefochtenen Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre kommt schließlich auch nicht nach dem unionsrechtlichen Grundsatz der Effektivität in Betracht, nach dem die Geltendmachung des Vorsteuerabzugs nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf (vgl. EuGH-Urteile vom 15. März 2007 C-35/05 „Reemtsma“, Slg. 2007, I-2425 Rz. 41; vom 15. Dezember 2011 C-427/10 „Banca Antoniana Popolare Veneta“, Slg. 2011, I-13377 Rz. 28). Denn für die Klägerin bestand grundsätzlich die Möglichkeit, die aufgrund der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung festgesetzte Einfuhrumsatzsteuer an die X GmbH als Abzugsberechtigte weiter zu berechnen. Die Tatsache, dass im Streitfall eine solche Weiterberechnung infolge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der X GmbH nicht durchgeführt worden ist, kann allenfalls in einem vom vorliegenden Festsetzungsverfahren getrennten Billigkeitsverfahren Berücksichtigung finden (vgl. BFH-Urteil vom 27. Februar 2014 V R 14/13, BStBl II 2014, 869, unter 3.).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, da es an höchstrichterlicher Rechtsprechung zu den Anforderungen an den Vorsteuerabzug der Einfuhrumsatzsteuer durch den Betreiber eines Zolllagers in den Fällen der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung fehlt. Der BFH hat im Urteil vom 13. Februar 2014 V R 8/13 (BStBl II 2014, 595) ausdrücklich offen gelassen, ob in diesen Fällen ein Leistungsbezug des Lagerhalters für sein Unternehmen vorliegt.