EuGH GA/SA: Fehlende Entgeltlichkeit einer Dienstleistung aufgrund der Unsicherheit eines Erfolgshonorars – Rechtsberatung pro bono durch einen RA , der als Mehrwertsteuerpflichtiger registriert ist
GAin Juliane Kokott, Schlussanträge vom 8.5.2025 – C-744/23, Т. P. T. gegen „Financial Bulgaria“ EOOD
ECLI:EU:C:2025:332
Volltext BB-Online BBL2025-1173-2
Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass eine Dienstleistung, die eine Rechtsanwaltsgesellschaft gegenüber ihren Mandanten unentgeltlich erbringt, wobei aber im Erfolgsfall durch die unterliegende Partei ein gesetzlich vorgesehenes Honorar zu zahlen ist, gegen Entgelt erfolgt, mithin einen steuerbaren Umsatz darstellt. Weder die Ungewissheit, ob und in welcher Höhe ein Honorar gezahlt wird, noch der Umstand, dass das Honorar kraft Gesetzes geschuldet wird, noch der Umstand, dass ein Dritter das Honorar zu zahlen hat, stehen einer Mehrwertbesteuerung der von der Rechtsanwaltsgesellschaft erbrachten Dienstleistung in Höhe des tatsächlich empfangenen Honorars entgegen.
I. Einführung
1. Das Mehrwertsteuerrecht besteuert grundsätzlich nur Umsätze, bei denen ein Steuerpflichtiger im Wege einer Lieferung oder Dienstleistung eine andere Person mit einem Verbrauchsgut entgeltlich versorgt. Die unentgeltliche Verbraucherversorgung durch einen Steuerpflichtigen ist im Grundsatz nicht steuerbar. Sie kommt allerdings auch selten vor, denn im normalen Wirtschaftsleben hat ein Unternehmen nichts zu verschenken. Was häufiger vorkommt, sind Erfolgshonorare, bei denen das Entgelt für eine Dienstleistung nur unter bestimmten Voraussetzungen zu zahlen ist, mithin dessen Höhe im Moment der Leistungserbringung noch ungewiss ist.
2. Wie ist es nun aber mehrwertsteuerrechtlich zu beurteilen, wenn ein Anwalt Dienstleistungen an seinen Mandanten unentgeltlich erbringt, im Erfolgsfall aber dennoch ein gesetzlich vorgesehenes Mindesthonorar von der unterlegenen Gegenseite erhält? Wenn ein Dritter wegen der erbrachten Dienstleistung zahlt (hier: zahlen muss), kann dann von einer unentgeltlichen Dienstleistung gesprochen werden, die nicht steuerbar ist?
3. Für den Unterlegenen macht diese Frage 20 % der zu erstattenden Anwaltskosten – hier insgesamt 80 Lewa (BGN)(2) – aus. Für den Rechtsanwalt ist entscheidend, ob er 20/120 aus dem empfangenen Mindesthonorar an den bulgarischen Staat abführen muss. Für Bulgarien stellt sich die Frage, ob sein Steueraufkommen primär davon abhängt, ob und in welcher Höhe der Rechtsanwalt letztendlich vergütet wird, oder auch, von wem beziehungsweise auf welcher Grundlage dieser (vertraglich durch seinen Mandanten oder zwangsweise kraft Gesetzes vom Unterlegenen) vergütet wird.
4. Für reichlich Unsicherheit in der Praxis(3) hat dabei die Begründung der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Baštová(4) aus dem Jahr 2016 gesorgt, weil darin – jedenfalls bei oberflächlicher Lektüre – allein auf die Ungewissheit („gewisse Unwägbarkeiten“) des Entgelts abgestellt wurde, um zu begründen, dass ein Preisgeld des Gewinners eines Wettbewerbs kein Entgelt für eine Dienstleistung sei. Sei ein solches ungewiss, könne der Zusammenhang zwischen der erbrachten Dienstleistung und der gegebenenfalls erhaltenen Zahlung aufgehoben werden. Diese Aussage wurde durch einen Verweis auf die Rechtssache Tolsma(5) belegt, die allerdings wohl überwiegend Zahlungen aus altruistischen Motiven (insbesondere aus Mitleid) betraf.
5. Nunmehr erhält der Gerichtshof Gelegenheit, seine in der Tat recht vagen Ausführungen in der Entscheidung Baštová zu präzisieren. Im Ergebnis geht es hier darum, eine der Grundfragen des Mehrwertsteuerrechts – nämlich die Frage nach dem Vorliegen einer steuerbaren Dienstleistung – nicht nur im Ergebnis richtig, sondern auch mit der richtigen Begründung zu entscheiden.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
6. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(6) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.
7. Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
8. Art. 26 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Erbringung unentgeltlicher Dienstleistungen und regelt:
„(1) Einer Dienstleistung gegen Entgelt gleichgestellt sind folgende Umsätze:
b) unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen durch den Steuerpflichtigen für seinen privaten Bedarf, für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke.“
9. Art. 28 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft das Kommissionsgeschäft bei Dienstleistungen und lautet:
„Steuerpflichtige, die bei der Erbringung von Dienstleistungen im eigenen Namen, aber für Rechnung Dritter tätig werden, werden behandelt, als ob sie diese Dienstleistungen selbst erhalten und erbracht hätten.“
10. Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die Bemessungsgrundlage:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
B. Bulgarisches Recht
11. Bulgarien hat die Mehrwertsteuerrichtlinie durch das Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, im Folgenden: ZDDS) in bulgarisches Recht umgesetzt.
12. Außerdem gibt es einen Grazhdanski protsesualen kodeks (Zivilprozessordnung, im Folgenden: GPK), der diverse Regelungen zur Kostenfestsetzung im Gerichtsprozess enthält.
13. Art. 78. (1) GPK betrifft die Kostenentscheidung und lautet:
„Die vom Kläger entrichteten Gebühren, Verfahrenskosten und Anwaltshonorare, falls er einen Anwalt hatte, hat der Beklagte in dem Verhältnis zu tragen, in dem der Forderung stattgegeben wurde.“
14. Das Zakon za advokaturata (Rechtsanwaltsgesetz, im Folgenden: ZA) betrifft die Ausübung der Tätigkeit eines Anwalts.
15. Art. 36. (1) und (3) ZA regeln:
„(1) Der Anwalt oder der Anwalt aus der Europäischen Union hat Anspruch auf Vergütung seiner Arbeit.
(3) Fehlt ein Vertrag, setzt der Rat der Anwaltschaft auf Antrag des Anwalts, des Anwalts aus der Europäischen Union oder des Mandanten ein Honorar nach der Verordnung des Obersten Rates der Anwaltschaft fest.“
16. Art. 38. ZA betrifft die unentgeltliche Erbringung von Rechtsanwaltsdienstleistungen und lautet:
„(1) Der Anwalt oder der Anwalt aus der Europäischen Union darf als Rechtsbeistand [folgende Personen] unentgeltlich vertreten und unterstützen:
1. Personen, die unterhaltsberechtigt sind;
2. Personen, die sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden;
3. Verwandten, Nahestehenden oder einem anderen Juristen.
(2) Wurde in den Fällen des Abs. 1 die Gegenseite zur Kostentragung verurteilt, hat der Anwalt oder der Anwalt aus der Europäischen Union einen Anspruch auf ein Anwaltshonorar. Das Gericht setzt das Honorar mindestens in der von der Verordnung nach Art. 36 Abs. 2 [ZA] vorgesehenen Höhe fest und verurteilt die Gegenseite, dieses zu bezahlen.“
17. In der Verordnung des Obersten Rates der Anwaltschaft nach Art. 36 Abs. 2 ZA (Naredba 1 ot 09.07.2004g. za minimalnite razmeri na advokatskite vaznagrazhdenia – Verordnung Nr. 1 vom 9. Juli 2004 über die Mindesthonorare der Anwälte, im Folgenden: Honorarverordnung) sieht Art. 7. (2) vor:
„Für die Prozessvertretung, die Verteidigung und die Mitwirkung in Verfahren mit einem bestimmten Interesse beträgt das Honorar wie folgt:
1. bei einem Interesse von bis zu 1 000 BGN: 400 BGN;“
18. Eine ergänzende Bestimmung dazu (im Folgenden: ergänzende Bestimmung) betrifft die Mehrwertsteuer und regelt in ihrem § 2a.:
„Im Honorarbetrag der nicht nach dem ZDDS registrierten Rechtsanwälte ist die Mehrwertsteuer nicht enthalten, während bei den registrierten Rechtsanwälten die geschuldete Mehrwertsteuer auf die nach dieser Verordnung festgesetzten Honorare erhoben wird und als untrennbarer Bestandteil des vom Mandanten zu zahlenden Anwaltshonorars gilt, wobei sie nach den Vorschriften des ZDDS geschuldet wird.“
III. Sachverhalt
19. Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt eine zivilrechtliche Klage zugrunde, mit der die Feststellung der Nichtigkeit des zwischen den Parteien geschlossenen Vertrags über die Bürgschaft bei einem Verbraucherkreditvertrag begehrt wurde. Der Kläger dort wird durch eine Ein-Personen-Rechtsanwaltsgesellschaft (im Folgenden: Rechtsanwaltsgesellschaft) vertreten.
20. Die Rechtsanwaltsgesellschaft hat im Prozess beantragt, das Gericht möge ihr ein Anwaltshonorar zuzüglich Mehrwertsteuer zuerkennen. Sie ist nach dem Mehrwertsteuergesetz (ZDDS) als Steuerpflichtige registriert.
21. Gemäß der eingereichten Vollmacht und dem Vertrag über Rechtsschutz und Unterstützung in Rechtssachen wurden dem Kläger gegenüber die Rechtsdienstleistungen unentgeltlich erbracht. Letzteres erlaubt Art. 38 Abs. 1 Nr. 2 des ZA für Rechtsdienstleistungen an Personen, die sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden.
22. Mit Urteil Nr. 13461/03.08.2023 in der Zivilrechtssache Nr. 20221110142769 des Verzeichnisses für 2022 wurde der Klage stattgegeben. Unter Bezugnahme auf die Honorarverordnung hat das Gericht entschieden, dass das Mindesthonorar des Rechtsanwalts bei einem wirtschaftlichen Interesse von 185,52 BGN (Vertragswert) 400 BGN beträgt. Da der Kläger von einem Rechtsanwalt unter den Voraussetzungen unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen vertreten wurde, hat das Gericht die Beklagte verurteilt, den Betrag in Höhe von 400 BGN ohne Mehrwertsteuer zu zahlen. Die Zahlung ist nicht an die Partei, sondern direkt an die Rechtsanwaltsgesellschaft zu richten. Das Urteil wurde nicht angefochten und ist am 25. September 2023 rechtskräftig geworden.
23. Innerhalb der Rechtsmittelfrist hat die Rechtsanwaltsgesellschaft jedoch die Abänderung des Urteils in Bezug auf die Kosten beantragt. Begehrt wird die gerichtliche Zuerkennung der Mehrwertsteuer auf den Betrag von 400 BGN in Höhe von 80 BGN (bei einem Steuersatz von 20 % auf die Steuerbemessungsgrundlage von 400).
24. Die Beklagte stellt sich dem entgegen und führt aus, dass keine Mehrwertsteuer auf das Honorar gerichtlich zuzuerkennen sei, da die anwaltlichen Rechtsdienstleistungen an den Kläger unentgeltlich erbracht worden seien. Sie beruft sich auf die (allerdings wohl uneinheitliche) Rechtsprechung des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien).
IV. Vorabentscheidungsverfahren
25. Das für die Kostenentscheidung zuständige Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende Fragen vorgelegt:
1. Sind die Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 24 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 Buchst. b und Art. 28 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der dort erwähnte Begriff „Dienstleistungen“ Folgendes umfasst:
a) die Erbringung unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen (pro bono) durch einen Rechtsanwalt einer Partei im Gerichtsverfahren;
b) die Erbringung unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen (pro bono) durch einen Rechtsanwalt einer Partei, die im Rechtsstreit obsiegt hat, wobei dem Rechtsanwalt das Honorar gerichtlich zuerkannt wird, das er erhalten würde, wäre ein Honorar im Rahmen eines Vertrags über Rechtsschutz und Unterstützung in Rechtssachen vereinbart worden?
2. Ist Art. 26 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass unter „unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen“ Folgendes fällt:
a) die Erbringung unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen (pro bono) durch einen Rechtsanwalt einer Partei im Gerichtsverfahren;
b) die Erbringung unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen (pro bono) durch einen Rechtsanwalt einer Partei, die im Rechtsstreit obsiegt hat, wobei dem Rechtsanwalt das Honorar gerichtlich zuerkannt wird, das er erhalten würde, wäre ein Honorar im Rahmen eines Vertrags über Rechtsschutz und Unterstützung in Rechtssachen vereinbart worden?
3. Sind Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 24 Abs. 1 und Art. 26 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der Begriff „Dienstleistung gegen Entgelt“ die Erbringung einer unentgeltlichen Rechtsdienstleistung (pro bono) durch einen Rechtsanwalt einer Partei erfasst, die im Rechtsstreit obsiegt hat, wobei dem Rechtsanwalt das Honorar gerichtlich zuerkannt wird, das er erhalten würde, wäre ein Honorar im Rahmen eines Vertrags über den Rechtsschutz und Unterstützung in Rechtssachen vereinbart worden?
4. Sind die Art. 28 und 75 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der Begriff „Steuerpflichtiger“ Folgendes erfasst:
a) ein Rechtsanwalt (eine Ein-Personen-Rechtsanwaltsgesellschaft), der für eine Partei in einem Gerichtsverfahren unentgeltliche Rechtsdienstleistungen (pro bono) erbracht hat;
b) ein Rechtsanwalt (eine Ein-Personen-Rechtsanwaltsgesellschaft), der für eine Partei unentgeltliche Rechtsdienstleistungen (pro bono) erbracht hat, die im Rechtsstreit obsiegt hat, wobei dem Rechtsanwalt (der Ein-Personen-Rechtsanwaltsgesellschaft) das Honorar gerichtlich zuerkannt wird, das er erhalten würde, wäre ein Honorar in einem Vertrag über Rechtsschutz und Unterstützung in Rechtssachen vereinbart worden?
26. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben nur die Beklagte, Polen und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.
V. Rechtliche Würdigung
A. Zu den Vorlagefragen
27. Im Kern fragt das vorlegende Gericht mit seinen recht lang geratenen vier Fragen eigentlich danach, wie Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen ist. Danach ist eine Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger als solcher gegen Entgelt im Gebiet eines Mitgliedstaates erbringt, ein der Mehrwertsteuer unterliegender Umsatz (d. h. ein steuerbarer Umsatz). Sollte die Dienstleistung nicht gegen Entgelt erbracht worden sein, könnte noch Art. 26 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie unter gewissen Umständen eine Entgeltlichkeit fingieren.
28. Der Begriff des Steuerpflichtigen, nach dem das vorlegende Gericht im Zusammenhang mit den Art. 28 und 75 der Mehrwertsteuerrichtlinie fragt, ergibt sich aus Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie und wird bereits in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie vorausgesetzt. Darüber hinaus ist Art. 28 der Mehrwertsteuerrichtlinie hier – wie auch Polen und die Kommission zutreffend vortragen – nicht einschlägig, denn Art. 28 der Mehrwertsteuerrichtlinie geht von einem Handeln des Leistenden in eigenem Namen für fremde Rechnung aus.(7) Daran fehlt es, denn die Rechtsberatung wird von der Anwaltsgesellschaft in eigenem Namen für eigene Rechnung an den Mandanten erbracht. Ein Prinzipal (Kommittent), auf dessen Rechnung Dienstleistungen eingekauft oder verkauft werden, ist hier nicht ersichtlich.
29. Da im vorliegenden Fall eine Vergütung durch die im Prozess unterlegene Partei stattgefunden hat, sind die Fragen – wie die Kommission zutreffend betont – auch nur insoweit zulässig und zu beantworten. Zusammengefasst lautet die vom Gerichtshof im Kern zu beantwortende Frage daher:
Ist Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass eine Dienstleistung, die eine Rechtsanwaltsgesellschaft gegenüber ihren Mandanten unentgeltlich erbringt, wobei aber im Erfolgsfall durch die unterliegende Partei ein gesetzlich vorgesehenes Honorar zu zahlen ist, gegen Entgelt erfolgt oder handelt es sich um eine unentgeltliche Dienstleistung, die entweder nicht steuerbar ist oder bei der eine Entgeltlichkeit nach Art. 26 fingiert wird?
30. Dafür werde ich zuerst darlegen, dass im Rahmen einer allgemeinen Verbrauchsteuer der Begriff einer Dienstleistung gegen Entgelt weit zu verstehen ist. Daher kann es nicht darauf ankommen, wer etwas für einen verbrauchbaren Vorteil gezahlt hat (der Vertragspartner oder ein Dritter), sondern nur, ob für einen verbrauchbaren Vorteil etwas an einen Steuerpflichtigen gezahlt wurde (dazu unter B.1).
31. Anschließend werde ich erläutern, warum eine Ungewissheit (bzw. Unwägbarkeit) bezüglich der Höhe der Zahlung im Mehrwertsteuerrecht unschädlich ist und die Entgeltlichkeit einer erbrachten Dienstleistung nicht in Frage stellt (dazu unter B.2.a). Auch die Tatsache, dass die unterlegene Partei hier kraft Gesetzes zur Kostentragung verpflichtet ist, ändert daran nichts, da der Gerichtshof das von ihm geforderte Rechtsverhältnis mittlerweile weit versteht (dazu unter B.2.b). Weder die recht vagen Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Baštová noch die recht weitgehenden Ausführungen in der Rechtssache Tolsma stehen dem entgegen. Diese Ausführungen sind zwar im Ergebnis grundsätzlich zutreffend, ihre Begründungen beziehen sich jedoch auf ganz andere Konstellationen (dazu unter B.2.c).
B. Das Vorliegen eines steuerbaren Umsatzes
1. Entgeltliche oder unentgeltliche Dienstleistung
32. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie spricht davon, dass eine Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger als solcher gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt. Dass die Rechtsanwaltsgesellschaft hier Rechtsberatungsleistungen an ihren Mandanten erbracht hat, ist unstreitig. Diese sind keine Lieferungen im Sinne von Art. 14 und damit nach Art. 24 der Mehrwertsteuerrichtlinie Dienstleistungen.
33. Die Rechtsanwaltsgesellschaft ist als Steuerpflichtige registriert. Anhaltspunkte, dass sie keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausüben würde, liegen nicht vor. Selbst soweit sie hier ihrem Mandanten gegenüber unentgeltlich tätig war und auch sein durfte (vgl. Art. 38 Abs. 1 Nr. 2 ZA), kommt es im Mehrwertsteuerrecht darauf nicht primär an.
34. Wie Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie nämlich ausführt, gilt als Steuerpflichtiger jeder, der eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ergebnis ausübt. Der Gerichtshof hat mittlerweile mehrfach klargestellt, dass dafür entscheidend ist, ob die Tätigkeit in einer Art und Weise ausgeübt wird, wie auch ein typischer Steuerpflichtiger agieren würde (typologische Betrachtungsweise).(8) Das kann bei einem Rechtsanwalt wie hier ohne Weiteres bejaht werden, zumal sowohl Erfolgshonorare als auch die Tatsache, dass in der Regel die unterlegene Partei das Honorar (direkt oder indirekt) zahlt, in dieser Berufsbranche eher typisch sind.
35. Mithin liegt mit der Rechtsberatung und Prozessvertretung durch die Rechtsanwaltsgesellschaft – wie auch Polen zutreffend vorträgt – eine Dienstleistung vor, die durch einen Steuerpflichtigen erbracht wurde. Zu fragen ist nur noch, ob dies auch entgeltlich erfolgte.
36. Diese Frage mutet etwas eigentümlich an, denn der Streit vor dem vorlegenden Gericht dreht sich gerade darum, ob zusätzlich zu dem Mindesthonorar von 400 BGN noch die Mehrwertsteuer in Höhe von 20 % (hier 80 BGN) zu zahlen ist. Mithin erhält die Rechtsberatungsgesellschaft offenbar ein Honorar für ihre Tätigkeit als Rechtsanwalt. Dieses wird im nationalen Recht sogar als Anwaltshonorar bezeichnet, auf das der Rechtsanwalt gegen die unterlegene Partei einen Anspruch hat (vgl. Art. 38 Abs. 2 ZA). Es überrascht daher, dass in einer solchen Situation von einer unentgeltlichen Dienstleistung gesprochen wird.
37. Das beruht offenbar allein auf der Tatsache, dass der Mandant sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand und daher auch unentgeltlich beraten werden konnte und wurde. Da dies im Vertrag so vereinbart ist, schuldet der Mandant keine Gegenleistung für die Rechtsberatung. Dies allein – wie auch Polen zutreffend vorträgt – macht aber die Dienstleistung der Rechtsanwaltsgesellschaft nicht zu einer unentgeltlichen Dienstleistung im Sinne des Mehrwertsteuerrechts.
38. Auch der Gerichtshof hat schon ausdrücklich ausgeführt, dass es nicht erforderlich ist, dass die Gegenleistung für die Dienstleistung unmittelbar von deren Empfänger erbracht wird. Sie kann auch von einem Dritten erbracht werden.(9) Sollte ein Dritter für die Umsätze etwas zahlen, fällt der Betrag mithin auch in die Bemessungsgrundlage. Folglich nimmt die Mehrwertsteuerrichtlinie eine Entgeltlichkeit auch dann an, wenn nicht der Vertragspartner, sondern ein anderer die Gegenleistung für die erbrachte Dienstleistung entrichtet.
39. Dies wiederum erklärt sich zwanglos aus dem Charakter der Mehrwertsteuer als eine allgemeine Verbrauchsteuer.(10) Die Mehrwertsteuer will im Ergebnis den finanziellen Aufwand für die Erlangung eines Verbrauchsgutes (d. h. eines verbrauchbaren Vorteils, sei es ein körperlicher Gegenstand wie im Fall einer Lieferung oder ein nicht körperlicher Vorteil wie im Fall einer Dienstleistung) besteuern. Entscheidend ist dabei, dass dieser verbrauchbare Vorteil durch einen Steuerpflichtigen verschafft wird und dass ein anderer (in der Regel der Leistungsempfänger, es kann aber auch ein Dritter sein – siehe Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie) dafür dem Steuerpflichtigen etwas gezahlt hat.
40. Dass dies auf vertraglicher Basis geschehen muss – in 99 % aller Fälle wird dies der Fall sein –, setzt die Mehrwertsteuerrichtlinie aber nicht voraus. Die Mehrwertsteuer ist keine Rechtsverkehrsteuer oder gar Vertragsteuer, sondern eine – wie der Gerichtshof stets zutreffend ausführt(11) – allgemeine Verbrauchsteuer, die den Konsumenten nach Maßgabe seines finanziellen Aufwandes belasten will. Dass der Mandant die Rechtsberatungsdienstleistungen konsumiert hat, steht aber hier außer Frage. Er hatte zwar selbst keinen finanziellen Aufwand zu tragen, aber Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie erweitert den zu besteuernden finanziellen Aufwand auf Zahlungen eines Dritten für diesen Umsatz.
41. Wenn daher ein Dritter (hier die unterlegene Partei) der Rechtsanwaltsgesellschaft kraft Gesetzes ein Mindesthonorar (wie es Art. 38 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 2 ZA in Verbindung mit der Honorarverordnung formuliert) zahlt (bzw. zahlen muss), dann ist eine solche Dienstleistung entgeltlich. Bei der Erbringung der Dienstleistung steht lediglich noch nicht fest, ob das Entgelt (von der unterlegenen Partei) gezahlt werden wird, weil dies nur im Erfolgsfall geschieht.
42. Auch bei einem vertraglichen Erfolgshonorar, welches der Mandant nur zu zahlen hat, wenn der Fall gewonnen wird, würde niemand von einer unentgeltlichen Dienstleistung sprechen, nur weil die Bezahlung erst ganz zum Schluss und im Erfolgsfall erfolgt. Auch würde niemand im Fall des Unterliegens von einer unentgeltlichen Dienstleistung im Sinne von Art. 26 der Mehrwertsteuerrichtlinie sprechen. Eine Rechtsberatungsleistung eines Rechtsanwaltes gegen Erfolgshonorar stellt auch keine Erbringung einer Dienstleistung für unternehmensfremde Zwecke im Sinne dieser Vorschrift dar. Dies wäre aber Voraussetzung für eine hier fehlgehende Fiktion der Entgeltlichkeit nach Art. 26 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
43. Eine solche Dienstleistung wird im Fall des Unterliegens deshalb nicht besteuert, weil niemand gegenüber dem Steuerpflichtigen (Anwalt) einen finanziellen Aufwand für diese Beratungsleistung getätigt hat, so dass der Belastungsgrund der Mehrwertsteuer nicht erfüllt ist. Dass im Erfolgsfall aber ebenfalls keine Mehrwertsteuer anfallen sollte, folgt daraus jedoch nicht.
44. Was hier vorliegt, ist eine entgeltliche Beratungsleistung gegen ein noch ungewisses Honorar eines Dritten, auf welches die Rechtsanwaltsgesellschaft kraft Gesetzes (vgl. Art. 38 Abs. 2 ZA) einen Anspruch hat.
2. Zahlung der Gegenleistung für eine Leistung
45. Die kraft Gesetzes vorgesehene Zahlung der unterlegenen Partei könnte allenfalls dann mehrwertsteuerrechtlich irrelevant sein, wenn sie nicht für die Rechtsberatungsdienstleistung, sondern für einen nicht steuerbaren Umsatz erfolgt ist.
46. Dies wäre z. B. denkbar, wenn der Zahlung (d. h. dem finanziellen Aufwand einer Person) kein verbrauchbarer Vorteil gegenübersteht, wie dies z. B. beim Ersatz von reinen Vermögensschäden (entgangener Gewinn,(12) Verzugsschaden etc.) der Fall ist. Gleiches gilt für die bloße Schenkung (oder Spende) von Geld, z. B. aus altruistischen Motiven.(13) Auch Geldgewinne z. B. bei einem Glücksspiel oder einem Pferderennen werden nicht für eine Dienstleistung, die einem anderen erbracht wird, sondern „nur“ als Gewinn bei Eintritt eines ungewissen Ereignisses ausgezahlt.(14)
47. Mithin ist hier allein zu entscheiden, ob die Zahlung des Dritten (hier der unterlegenen Partei) für die Rechtsberatungsdienstleistungen der Rechtsanwaltsgesellschaft an ihren Mandanten gezahlt worden ist. Dies setzt eine bestimmte Verbindung zwischen der Zahlung und der Dienstleistung voraus. Diese Verbindung wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter dem Stichwort eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der Leistung und der empfangenen Gegenleistung (dem Entgelt) diskutiert.
48. Ein solcher unmittelbarer Zusammenhang liegt vor, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet.(15) Dieses notwendige Rechtsverhältnis ist allerdings – wie sich auch aus der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs zutreffend ergibt – weit zu verstehen.(16)
a) Zur Ungewissheit der konkreten Höhe der Gegenleistung
49. Insbesondere wird der unmittelbare Zusammenhang (bzw. das Rechtsverhältnis) nicht durch die Ungewissheit über die konkrete Höhe der Gegenleistung (hier 0 oder 400 bzw. 480) in Frage gestellt.(17) Die konkrete Höhe der Gegenleistung ist nur für die Frage der Bemessungsgrundlage relevant, was sich deutlich in Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie zeigt. Dieser regelt die Konsequenzen und Korrekturen der Steuerschuld aufgrund einer Änderung der Bemessungsgrundlage (hier werden insbesondere Preisveränderungen erfasst) und zeigt, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie nicht voraussetzt, dass die Gegenleistung schon bei der Erbringung endgültig feststehen muss. Die (endgültige) Gewissheit über die Höhe der Gegenleistung ist mithin nicht konstitutiv für das Vorliegen eines steuerbaren Umsatzes.
50. Noch deutlicher wird dies in Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der den Mitgliedstaaten erlaubt, generell eine sogenannte Ist-Besteuerung einzuführen, bei der sich die geschuldete Mehrwertsteuerschuld allein nach der empfangenen Gegenleistung bemisst. Die Ungewissheit, in welcher Höhe eine Gegenleistung gezahlt wird, ist dann allein für die Entstehung der Steuerschuld relevant, nicht aber für das Vorliegen einer entgeltlich erbrachten Dienstleistung. Art. 66 der Mehrwertsteuerrichtlinie spricht dementsprechend vom Zeitpunkt, zu dem der Steueranspruch entsteht.
b) Zur Notwendigkeit und Reichweite eines Rechtsverhältnisses
51. Der bulgarische Gesetzgeber hat meines Erachtens bereits durch den gesetzlich vorgesehenen Anspruch auf ein Anwaltshonorar im Fall eines Obsiegens einen hinreichenden unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Zahlung des Dritten und der Dienstleistung der Rechtsanwaltsgesellschaft an ihren Mandanten geschaffen. Dies mag kein ausschließlich vertragliches, sondern auch ein gesetzliches Rechtsverhältnis sein, was aber weder nach der Richtlinie noch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs – anders als dies die Beklagte offenbar meint – das Vorliegen eines steuerbaren Umsatzes ausschließt.
52. Vielmehr hat der Gerichtshof(18) ausgeführt, dass das Kriterium, welches an das Bestehen eines Rechtsverhältnisses anknüpft, in dessen Rahmen die Lieferung von Gegenständen und ihre Gegenleistung erfolgen, unter Berücksichtigung aller Umstände jedes Einzelfalls so auszulegen ist, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht verletzt wird. In diesem Zusammenhang muss dieses Kriterium – so der Gerichtshof ausdrücklich – weit verstanden werden. Hätte der Mandant die Rechtsanwaltsgesellschaft direkt bezahlt, dann läge unstreitig ein steuerbarer und steuerpflichtiger Umsatz vor. Wenn ein Dritter das Honorar zahlt (hier zahlen muss), kann dies kaum anders beurteilt werden.
53. Selbst die Bezahlung gestohlenen Stroms durch einen Stromdieb führte zum Vorliegen eines entgeltlichen Umsatzes, weil der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem unberechtigten Verbrauch und der „Entschädigung“ im Gesetz geregelt war und die „Entschädigung“ (besser: die zwangsweise Vergütung) an den konkreten Verbrauch anknüpfte.(19) Daher bestand kein Grund, den Stromdieb mehrwertsteuerrechtlich anders als den normalen Verbraucher zu behandeln. Auch im vorliegenden Fall besteht kein Grund, den Umsatz (d. h. die Rechtsberatung) unterschiedlich zu behandeln, je nachdem, wer die erbrachten Rechtsanwaltsdienstleistungen zu vergüten hat. Insbesondere ist es unschädlich, dass die unterliegende Partei nicht freiwillig zahlt, sondern kraft Gesetzes zahlen muss.
54. Das Mehrwertsteueraufkommen in Bulgarien – welches angeblich sogar einen direkten Einfluss auf die Eigenmittel der Union haben soll(20) – kann ebenso wenig davon abhängen, ob das konsumierte Verbrauchsgut vom Mandanten oder von einem Dritten freiwillig bezahlt wird (bzw. unfreiwillig bezahlt werden muss). Subjektive Elemente sind dem Mehrwertsteuerrecht nämlich grundsätzlich fremd.(21)
55. Daher genügt es – so der Gerichtshof(22) –, wenn die Vergütung für das Verschaffen eines verbrauchbaren Vorteils kraft Gesetzes geregelt ist. Zum einen ist es nämlich gerade dieser gesetzliche Rahmen, der einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Erbringung dieser Leistungen und der Entrichtung der Vergütung herstellt. Zum anderen sieht Art. 25 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie ausdrücklich vor, dass eine Dienstleistung u. a. in der Erbringung einer Dienstleistung kraft Gesetzes bestehen kann. Diese Argumentation greift auch hier. Insofern ist lediglich eine unmittelbare Verbindung zwischen der Geldzahlung und einem konkreten Verbrauchsgut maßgeblich.(23)
56. Folglich ist – wie auch die Kommission zutreffend betont – das kraft Gesetzes durch die unterliegende Partei an die Rechtsanwaltsgesellschaft zu zahlende Mindesthonorar ein Entgelt im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie. Dieses ist als Zahlung eines Dritten für die Rechtsberatung des obsiegenden Mandanten im Sinne von Art. 73 dieser Richtlinie zu behandeln.
c) Zu den Rechtssachen Baštová und Tolsma
57. Dem stehen die bereits erwähnten Entscheidungen in den Rechtssachen Baštová(24) und Tolsma(25) nicht entgegen.
58. Die Rechtssache Tolsma betraf den Fall eines Straßenmusikanten, dem die Passanten Geld gaben, wobei offenblieb, aus welchen Motiven dies erfolgte. Sie waren jedenfalls vertraglich nicht dazu verpflichtet. Der Gerichtshof meinte, es sei entscheidend, dass die Passanten nicht darum gebeten haben, dass ihnen Musik zu Gehör gebracht wird; außerdem zahlen sie die Beträge nicht aufgrund der musikalischen Darbietung, sondern aus persönlichen Motiven, wobei gefühlsmäßige Erwägungen eine Rolle spielen können.(26) Diese Zahlungen – so der Gerichtshof weiter – erfolgen nämlich aus völlig freien Stücken und sind vom Zufall abhängig.(27)
59. Richtig daran ist, dass einige der Passanten nicht für die Dienstleistung (Musikdarbietung), sondern z. B. aus Mitleid gezahlt haben mögen. Eine Schenkung oder Spende ist aber kein Entgelt für eine Leistung, sondern gerade eine Geldzahlung unabhängig von einer „Gegenleistung“. Es dürfte aber ebenfalls ausgeschlossen sein, dass keiner der Passanten die Musikdarbietung genossen und daher für diese einen Geldbetrag gezahlt hat.
60. Da – wie oben (Nrn. 51 ff.) ausgeführt – es nicht entscheidend ist, auf welcher Grundlage (vertraglich, gesetzlich oder außervertraglich) ein Konsument für den Erhalt eines verbrauchbaren Vorteils (der Musikgenuss ist wohl unstreitig einer, wie sich bei jedem bezahlten Konzertbesuch zeigt) etwas gezahlt hat, wäre ein Teil des Geldes als Entgelt für eine Dienstleistung anzusehen gewesen. Die sicherlich nicht einfach zu klärende Frage, in welchem Umfang sich das gesammelte Geld auf die Dienstleistung bezieht (mithin ein steuerbarer und steuerpflichtiger Umsatz vorliegt) und in welchem Umfang es ein Geldgeschenk bzw. eine Geldspende war (mithin es an einem steuerbaren Umsatz fehlt), wird im Steuerrecht eigentlich nicht nach einem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“, sondern in der Regel durch eine Schätzung(28) geklärt.
61. Wenn hingegen tatsächlich davon ausgegangen werden kann – wie es der Gerichtshof in Rn. 17 der Entscheidung Tolsma ausführt –, dass die Passanten alle Beträge nicht aufgrund der musikalischen Darbietung, sondern aus persönlichen Motiven zahlten, wobei gefühlsmäßige Erwägungen eine Rolle spielen konnten, dann lag in der Tat insoweit kein steuerbarer Umsatz des Straßenmusikanten vor. Damit ist der vorliegende Fall hier aber nicht vergleichbar. Der Unterlegene zahlt nicht aus persönlichen Motiven oder aufgrund gefühlsmäßiger Erwägungen. Die Zahlungen durch den Unterlegenen erfolgen weder aus freien Stücken noch sind sie vom Zufall abhängig. Vielmehr ergeben sie sich dem Grunde und der Höhe nach aus dem Gesetz.
62. Die Rechtssache Baštová hingegen betraf die Frage, ob das Preisgeld eines Gewinners (dort war es ein Pferderennen) als Entgelt für eine Dienstleistung des Gewinners angesehen werden könne. Dies verneinte der Gerichtshof zutreffend.(29) Leider begründete er dieses Ergebnis fast ausschließlich damit, dass der Erhalt dieses Preisgeldes von der Erzielung eines besonderen Wettbewerbsergebnisses abhing und gewissen Unwägbarkeiten unterlag. Solche Unwägbarkeiten sollten einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Überlassung des Pferdes und dem Erhalt des Preisgeldes ausschließen. „Abgesichert“ wird dies noch durch den Hinweis, dass das Vorliegen einer Dienstleistung objektiv zu beurteilen sei und unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze vorliegen müsse.
63. Wie bereits ausgeführt (vgl. Nrn. 49 und 50), spielen die Unwägbarkeiten eines Entgelts allenfalls eine Rolle für die Höhe der Steuer bzw. den Steuerentstehungszeitpunkt, nicht aber für die Frage, ob eine Lieferung oder Dienstleistung gegen Entgelt vorliegt. Variable Honorare (z. B. 10 % von einem noch ungewissen Kaufpreis), Honorare unter gewissen Bedingungen (z. B. Erfolgshonorare) oder Honorarfiktionen (ohne konkrete Vereinbarung fingiert das Gesetz, dass das übliche Honorar als vereinbart gilt) ändern trotz aller damit verbundenen Unwägbarkeiten nichts an dem Vorliegen einer entgeltlichen Dienstleistung, für die das jeweilige Honorar gezahlt wird.
64. Das Ergebnis in der Rechtssache Baštová ist richtig, weil sich das Preisgeld nicht auf eine Tätigkeit (z. B. die Teilnahme am Rennen) bezieht, sondern allein eine für den Sieg vergebene Auszeichnung bzw. Belohnung darstellt. Der Sieg in einem Spiel oder Rennen ist aber keine Dienstleistung, d. h. kein verbrauchbarer Vorteil, den der Sieger einem anderen verschaffen kann. Dies unterscheidet das Preisgeld von dem Antrittsgeld für die Teilnahme an einem Rennen. Die Teilnahme an einem Rennen kann – wie der Gerichtshof in derselben Rechtssache zutreffend feststellte(30) – eine Dienstleistung gegenüber dem Veranstalter darstellen, wenn dieser dafür z. B. ein Antrittsgeld zahlt.
3. Zusammenfassung
65. Damit bleibt es dabei, dass hier die Rechtsanwaltsgesellschaft eine steuerbare und steuerpflichtige Dienstleistung an ihren Mandanten erbracht hat und als registrierte Steuerpflichtige folglich die Mehrwertsteuer einsammeln und an den bulgarischen Staat abführen muss. Dies bedingt, dass die unterlegene Partei diese Mehrwertsteuer ebenfalls an die Rechtsanwaltsgesellschaft zu zahlen hat. Die in § 2a der ergänzenden Bestimmung enthaltene Regelung, wonach „(i)m Honorarbetrag der nicht nach dem ZDDS registrierten Rechtsanwälte … die Mehrwertsteuer nicht enthalten (ist), während bei den registrierten Rechtsanwälten die geschuldete Mehrwertsteuer auf die nach dieser Verordnung festgesetzten Honorare erhoben wird und als untrennbarer Bestandteil des vom Mandanten zu zahlenden Anwaltshonorars gilt, wobei sie nach den Vorschriften des ZDDS geschuldet wird“, trifft mehrwertsteuerrechtlich mithin zu.
VI. Ergebnis
66. Somit schlage ich dem Gerichtshof vor, auf das Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) wie folgt zu antworten:
Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass eine Dienstleistung, die eine Rechtsanwaltsgesellschaft gegenüber ihren Mandanten unentgeltlich erbringt, wobei aber im Erfolgsfall durch die unterliegende Partei ein gesetzlich vorgesehenes Honorar zu zahlen ist, gegen Entgelt erfolgt, mithin einen steuerbaren Umsatz darstellt. Weder die Ungewissheit, ob und in welcher Höhe ein Honorar gezahlt wird, noch der Umstand, dass das Honorar kraft Gesetzes geschuldet wird, noch der Umstand, dass ein Dritter das Honorar zu zahlen hat, stehen einer Mehrwertbesteuerung der von der Rechtsanwaltsgesellschaft erbrachten Dienstleistung in Höhe des tatsächlich empfangenen Honorars entgegen.
1 Originalsprache: Deutsch.
i Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
2 Der Streitwert des Verfahrens entspricht mithin ca. 41 Euro.
3 Vgl. nur die Entscheidungen des BFH, in denen dieser betonen musste, dass für ein erfolgsabhängiges Honorar das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Baštová nicht einschlägig sei – BFH, Beschluss vom 30. März 2021 – V B 63/20, MwStR 2021, 723, Rn. 37 ff.; ähnlich auch schon BFH, Urteil vom 13. Februar 2019 – XI R 1/17, BStBl II 2021, 785, Rn. 46 ff. Die Reichweite der EuGH-Entscheidung sogar ausdrücklich offenlassend BFH, Urteil vom 10. Juni 2020 – XI R 25/18, UR 2020,830, Rn. 45.
4 Urteil vom 10. November 2016 (C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 29 und 35), das den Gewinn eines Preisgeldes durch ein Pferd beim Pferderennen betraf.
5 Urteil vom 10. November 2016, Baštová (C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 37), verweist auf die in Rn. 28 zitierte Rechtsprechung und damit auf das Urteil vom 3. März 1994, Tolsma (C‑16/93, EU:C:1994:80, Rn. 17 ff.), das allerdings freiwillige Zahlungen von Passanten an einen Straßenmusikanten betraf.
6 Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für das Streitjahr 2023 anwendbaren Fassung; insoweit zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2022/890 des Rates vom 3. Juni 2022 (ABl. 2022, L 155, S. 1).
7 Siehe dazu nur die Rechtsprechung des Gerichtshofs, soweit er sich schon mit Art. 28 befasst hat: Urteile vom 30. März 2023, Gmina L. (C‑616/21, EU:C:2023:280, Rn. 31 ff.), vom 4. Mai 2017, Kommission/Luxemburg (C‑274/15, EU:C:2017:333, Rn. 85 ff.), und vom 14. Juli 2011, Henfling, Davin, Tanghe (C‑464/10, EU:C:2011:489, Rn. 34 ff.).
8 Urteile vom 4. Juli 2024, Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloģijas asociācija (C‑87/23, EU:C:2024:570, Rn. 47 und 56), vom 30. März 2023, Gmina O. (C‑612/21, EU:C:2023:279, Rn. 35), und vom 30. März 2023, Gmina L. (C‑616/21, EU:C:2023:280, Rn. 43).
9 Urteil vom 4. Juli 2024, Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloģijas asociācija (C‑87/23, EU:C:2024:570, Rn. 27). Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 30. März 2023, Gmina O. (C‑612/21, EU:C:2023:279, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
10 Vgl. in diesem Sinne: Urteile vom 3. Mai 2012, Lebara (C‑520/10, EU:C:2012:264, Rn. 23), vom 11. Oktober 2007, KÖGÁZ u. a. (C‑283/06 und C‑312/06, EU:C:2007:598, Rn. 37 – „Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, den der Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Gegenstände und Dienstleistungen erhält“), und vom 18. Dezember 1997, Landboden-Agrardienste (C‑384/95, EU:C:1997:627, Rn. 20 und 23 – „Entscheidend ist allein die Natur der eingegangenen Verpflichtung: Damit eine solche Verpflichtung unter das gemeinsame Mehrwertsteuersystem fällt, muss sie einen Verbrauch implizieren“).
11 Urteile vom 3. Mai 2012, Lebara (C‑520/10, EU:C:2012:264, Rn. 23), vom 28. Oktober 2010, Kommission/Polen (C‑49/09, EU:C:2010:64, Rn. 44), und vom 3. Oktober 2006, Banca popolare di Cremona (C‑475/03, EU:C:2006:629, Rn. 21).
12 Völlig zutreffend: Urteil vom 18. Juli 2007, Société thermale d’Eugénie-les-Bains (C‑277/05, EU:C:2007:440).
13 Insofern zutreffend Urteil vom 3. März 1994, Tolsma (C‑16/93, EU:C:1994:80, Rn. 17 – „persönliche Motive, wobei gefühlsmäßige Erwägungen eine Rolle spielen können“).
14 Insofern zutreffend Urteil vom 10. November 2016, Baštová (C‑432/15, EU:C:2016:855). Siehe dazu auch nachfolgend Nrn. 62 ff.
15 Urteile vom 4. Juli 2024, Credidam (C‑179/23, EU:C:2024:571, Rn. 36), vom 15. April 2021, Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA, C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 36), und vom 3. März 1994, Tolsma (C‑16/93, EU:C:1994:80, Rn. 14).
16 Urteil vom 27. April 2023, Fluvius Antwerpen (C‑677/21, EU:C:2023:348, Rn. 31).
17 Anders als dies in den Urteilen vom 3. März 1994, Tolsma (C‑16/93, EU:C:1994:80, Rn. 14 ff.), vom 27. September 2001, Cibo Participations (C‑16/00, EU:C:2001:495, Rn. 34), und vom 10. November 2016, Baštová (C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 37), möglicherweise angedeutet wurde.
18 Urteil vom 27. April 2023, Fluvius Antwerpen (C‑677/21, EU:C:2023:348, Rn. 31).
19 Urteil vom 27. April 2023, Fluvius Antwerpen (C‑677/21, EU:C:2023:348, Rn. 32 und 33).
20 Diese Aussage findet sich leider immer wieder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. nur Urteile vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“, C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 58, vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 31, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26), ist so aber unzutreffend, da alle Ausgaben, die nicht durch die traditionellen Eigenmittel und die Mehrwertsteuer-Eigenmittel abgedeckt sind, durch die Eigenmittel auf der Grundlage des Bruttonationaleinkommens (BNE‑Eigenmittel) ausgeglichen werden. Vgl. nur den Richtlinienvorschlag der EU-Kommission vom 24. April 2019 zur Änderung der Richtlinie 2006/112 und der Richtlinie 2008/118 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem in Bezug auf Verteidigungsanstrengungen im Rahmen der Union, COM(2019) 192 final, S. 10 – Version DE. Aus unerfindlichen Gründen wird dieser unzutreffende Textbaustein vom Gerichtshof jedoch immer wieder verwendet.
21 In diese Richtung geht wohl die Aussage im Urteil vom 10. November 2016, Baštová (C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 38), wonach „der Begriff ‚Dienstleistung‘ objektiven Charakter hat und unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar ist“.
22 Urteile vom 4. Juli 2024, Credidam (C‑179/23, EU:C:2024:571, Rn. 40), und vom 27. April 2023, Fluvius Antwerpen (C‑677/21, EU:C:2023:348, Rn. 32). Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 21. Januar 2021, UCMR – ADA (C‑501/19, EU:C:2021:50, Rn. 36 und 37).
23 In diesem Sinne auch Urteile vom 20. Januar 2022, Apcoa Parking Danmark (C‑90/20, EU:C:2022:37, Rn. 37 ff.), und vom 27. April 2023, Fluvius Antwerpen (C‑677/21, EU:C:2023:348, Rn. 30 ff.).
24 Urteil vom 10. November 2016 (C‑432/15, EU:C:2016:855).
25 Urteil vom 3. März 1994 (C‑16/93, EU:C:1994:80).
26 Urteil vom 3. März 1994, Tolsma (C‑16/93, EU:C:1994:80, Rn. 17).
27 Urteil vom 3. März 1994, Tolsma (C‑16/93, EU:C:1994:80, Rn. 19).
28 Dazu und zur unionsrechtlichen Zulässigkeit siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache P (Mehrwertsteuer, die Endverbrauchern zu Unrecht in Rechnung gestellt wird II) (C‑794/23, EU:C:2024:1049, Nrn. 42 ff.).
29 Urteil vom 10. November 2016, Baštová (C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 36).
30 Urteil vom 10. November 2016, Baštová (C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 39).