EuGH-SA: EuGH/GA-SA: Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Einheiten, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind ...
... zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln („Mehrwertsteuergruppe“) – Deutsches Vorabentscheidungsersuchen
GA Rantos, Schlussanträge vom 16.5.2024 – C-184/23; Finanzamt T gegen S
ECLI:EU:C:2024:416
Volltext BB-Online BBL2024-1237-1
Schlussanträge
Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass entgeltliche Leistungen zwischen Personen, die einem Zusammenschluss rechtlich unabhängiger, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbundener Personen gemäß Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung angehören, nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, und zwar selbst dann nicht, wenn der Leistungsempfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist.
Aus den Gründen
I. Einleitung
1. Fallen gegen Entgelt erbrachte Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen zwischen Personen, die einer Mehrwertsteuergruppe(2) angehören (sogenannte „Innenumsätze“ der Mehrwertsteuergruppe), in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, und unterliegen sie gegebenenfalls dieser Steuer? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn der Empfänger der Lieferung oder Dienstleistung nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist?
2. Dies sind im Wesentlichen die Fragen, mit denen sich der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu befassen hat, die ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs (Deutschland) zum Gegenstand hat, das die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage(3) betrifft.
3. Dieses Vorabentscheidungsersuchen ist im Rahmen eines Rechtsstreits ergangen, der bereits Anlass zu einem ersten Vorabentscheidungsersuchen gegeben hatte, das der Gerichtshof im Urteil vom 1. Dezember 2022, Finanzamt T (Leistungen innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe) (C‑269/20, im Folgenden: Urteil Finanzamt T I, EU:C:2022:944), beantwortet hat. Aufgrund dieses Urteils und des am selben Tag erlassenen Urteils in der Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (C‑141/20, im Folgenden: Urteil Diakonie, EU:C:2022:943), stellen sich dem vorlegenden Gericht die Fragen, die es veranlasst haben, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen einzureichen.
4. Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof daher die Gelegenheit, zum einen weitere Klarstellungen zu der für die Mehrwertsteuergruppe geltenden rechtlichen Regelung zu geben, die bereits Gegenstand einer umfangreichen Rechtsprechung war, und zum anderen auch die Tragweite dieser beiden Urteile zu erläutern.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
5. Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(4) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des entscheidungserheblichen Zeitraums unterliegt der Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin der Sechsten Richtlinie.
6. Art. 2 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
…“
7. Art. 4 Abs. 1 und 4 der Sechsten Richtlinie sah vor:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
…
(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff ‚selbständig‘ schließt die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.“
B. Deutsches Recht
8. In § 2 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (im Folgenden: UStG) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung heißt es:
„Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,
…
2. wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. …
…“
III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
9. Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist mit dem im Urteil Finanzamt T I dargestellten identisch(5). Für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens lässt er sich wie folgt zusammenfassen.
10. S, eine deutsche Stiftung öffentlichen Rechts, ist Trägerin eines Bereichs Universitätsmedizin und Organträgerin der U‑GmbH. Diese Stiftung unterliegt für die Pflegedienstleistungen, die sie gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer, gilt aber für die Ausbildungstätigkeiten, die sie im Rahmen der Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben ausübt, nicht als steuerpflichtig. Die medizinischen Dienstleistungen sind jedoch gemäß der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit.
11. Im Besteuerungszeitraum 2005 erbrachte die U‑GmbH für S u. a. Reinigungsleistungen. Diese Leistungen wurden für den gesamten Gebäudekomplex des Bereichs Universitätsmedizin erbracht, zu dem neben Patientenzimmern, Fluren und Operationssälen auch Hörsäle und Labore gehören.
12. Soweit der eigentliche Krankenhausbereich der Versorgung der Patienten dient, ist er dem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich von S zuzuordnen, für den sie der Mehrwertsteuer unterliegt, während die Hörsäle, Labore und anderen Räume für die Ausbildung der Studierenden und damit für die Tätigkeit von S im Rahmen der Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben genutzt werden, für die sie nicht als Steuerpflichtige gilt.
13. Der Anteil des Bereichs, für den S Reinigungsleistungen im Rahmen ihrer hoheitlichen Tätigkeit erbrachte, betrug 7,6 % der Gesamtfläche des in Rede stehenden Gebäudekomplexes. Die U‑GmbH erhielt für ihre Dienstleistungen von S eine Vergütung von insgesamt 76 085,48 Euro.
14. Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte das Finanzamt den Umsatzsteuerbescheid für den fraglichen Besteuerungszeitraum, da es sich bei den Betrieben von S um ein einheitliches Unternehmen handele, für das nur eine Umsatzsteuererklärung abzugeben und dementsprechend nur ein Umsatzsteuerbescheid zu erteilen sei.
15. Außerdem war das Finanzamt der Ansicht, dass die für den hoheitlichen Bereich der Tätigkeit von S erfolgten Reinigungsleistungen von der U‑GmbH im Rahmen der zwischen S und der U‑GmbH bestehenden Organschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG erbracht worden seien. Mit dieser Vorschrift werde im deutschen Recht die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehene Möglichkeit umgesetzt, die Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
16. Nach Auffassung des Finanzamts waren die Reinigungsleistungen, die für die in den hoheitlichen Bereich fallenden Tätigkeiten erbracht wurden, daher nicht steuerbar, hätten aber einer unternehmensfremden Tätigkeit gedient und zugunsten von S zu einer „unentgeltliche[n] … Leistung“ geführt, die einer „Dienstleistung gegen Entgelt … gleichgestellt“ werde(6).
17. In Anbetracht dieser Umstände ging das Finanzamt unter Berücksichtigung des auf den hoheitlichen Bereich der Tätigkeiten von S entfallenden Anteils von 7,6 % der Fläche des fraglichen Gebäudekomplexes davon aus, dass auf die Reinigung dieses Flächenanteils durch die U‑GmbH 5 782,50 Euro entfielen. Abzüglich eines Gewinnzuschlags, den das Finanzamt mit 525,66 Euro bezifferte, errechnete es eine Bemessungsgrundlage für die Erbringung einer „unentgeltliche[n] … Leistung“ in Höhe von 5 257 Euro und damit eine um 841,12 Euro erhöhte Umsatzsteuer.
18. Gegen die Zurückweisung des von S gegen diesen geänderten Besteuerungsbescheid eingelegten Einspruchs wurde beim Finanzgericht (Deutschland) Klage erhoben, der dieses Gericht stattgab.
19. Das Finanzamt legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesfinanzhof (Deutschland) ein, dem vorlegenden Gericht, das dem Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen vorlegte, das zum Urteil Finanzamt T I führte.
20. Das vorlegende Gericht hält in dem Rechtsstreit, mit dem es derzeit befasst ist, erneut ein Vorabentscheidungsersuchen für erforderlich.
21. Nach seiner Ansicht verbleibt nämlich im Anschluss an das Urteil Diakonie und insbesondere im Licht der Ausführungen in den Rn. 77 bis 80 dieses Urteils eine Unsicherheit bezüglich der Frage, ob die Zusammenfassung mehrerer Personen, die gemäß Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie als ein einziger Steuerpflichtiger angesehen würden, dazu führe, dass die zwischen diesen Personen gegen Entgelt erbrachten Leistungen nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie fielen. Weder das Urteil Diakonie noch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gäben eine klare Antwort auf die Frage, ob die Innenumsätze steuerbar seien.
22. Ebenfalls unklar sei, ob die Innenumsätze im Rahmen einer Mehrwertsteuergruppe nicht jedenfalls dann in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen sollten, wenn der Leistungsempfänger nicht oder nur teilweise zum Vorsteuerabzug berechtigt sei, weil anderenfalls die Gefahr von Steuerverlusten bestehe. Diese Zweifel ergäben sich aus den Urteilen Finanzamt T I und Diakonie(7), in denen der Gerichtshof entschieden habe, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie der Organisation einer Mehrwertsteuergruppe wie der im deutschen Recht in Rede stehenden, bei der der Organträger als einziger Steuerpflichtiger bestimmt werde, nur dann nicht entgegenstehe, wenn dies nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führe.
23. Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Führt die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Steuerpflichtigen nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dazu, dass entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie unterliegen?
2. Unterliegen entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen jedenfalls dann dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, wenn der Leistungsempfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, da ansonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht?
24. S, die deutsche Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
IV. Würdigung
25. Mit seinen beiden Vorlagefragen, die meines Erachtens zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass Dienstleistungen, die gegen Entgelt zwischen Personen erbracht werden, die – gemäß der letzteren Bestimmung – einer Mehrwertsteuergruppe angehören, nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, und zwar auch dann nicht, wenn der Leistungsempfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt sein sollte, was die Gefahr von Steuerausfällen mit sich bringen würde.
26. Die beiden in der vorliegenden Rechtssache gestellten Vorabentscheidungsfragen zielen somit darauf ab, zu klären, ob Innenumsätze zwischen den Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe als Umsätze anzusehen sind, die der Mehrwertsteuer unterliegen. Insoweit hatte der Gerichtshof bisher noch keine Gelegenheit, sich ausdrücklich zu dieser Frage zu äußern.
27. Das vorlegende Gericht führt aus, dass sich die Zweifel, auf denen die beiden Vorabentscheidungsfragen beruhten, aus zwei kürzlich ergangenen Urteilen des Gerichtshofs ergäben, nämlich aus den Urteilen Finanzamt T I und Diakonie. Es führt weiter aus, dass nach seiner Rechtsprechung Innenumsätze zwischen Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe nicht steuerbar seien.
28. Dem Vorabentscheidungsersuchen ist jedoch zu entnehmen, dass dieses Gericht zu der Ansicht neigt, nach dem Recht der Union müssten diese Innenumsätze als der Mehrwertsteuer unterliegend angesehen werden. Dagegen vertreten die drei Parteien, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, die gegenteilige Auffassung, nach der solche Innenumsätze nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen.
29. Zur Beantwortung der beiden vom Bundesfinanzhof in der vorliegenden Rechtssache gestellten Vorlagefragen ist es erforderlich, das Zusammenspiel zwischen Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie, der unter der Geltung dieser Richtlinie den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer bestimmte, und Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie zu klären, der es jedem Mitgliedstaat erlaubte, den in seinem Hoheitsgebiet ansässigen Wirtschaftsteilnehmern die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe zu gestatten(8). Um diese Klärung vornehmen zu können, müssen die beiden Bestimmungen ausgelegt werden.
30. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden(9).
31. Ferner folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe von unionsrechtlichen Bestimmungen, die – wie diejenigen der im vorliegenden Fall einschlägigen Bestimmungen – für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen(10).
A. Zur Auslegung der einschlägigen Vorschriften anhand ihres Wortlauts
32. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass der Wortlaut der in der vorliegenden Rechtssache einschlägigen Bestimmungen für die Steuerbarkeit von Innenumsätzen spreche. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie hinsichtlich der Steuerbarkeit nicht zwischen den Innenumsätzen der Mehrwertsteuergruppe und den Dienstleistungen unterscheide, die gegen Entgelt an Dritte erbracht würden. Die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie lasse hingegen sowohl die Annahme der Steuerbarkeit als auch die Annahme der Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen zu.
33. Was insoweit erstens Art. 2 der Sechsten Richtlinie betrifft, legt diese Bestimmung, wie bereits erwähnt, den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fest(11). Er sieht u. a. in seiner Nr. 1 vor, dass der Mehrwertsteuer Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen unterliegen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt.
34. Darüber hinaus ist nach ständiger Rechtsprechung „eine Leistung nur dann steuerbar …, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden“, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet(12).
35. Aus dem Wortlaut von Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie geht somit ausdrücklich hervor, dass die in Rede stehende Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen von „ein[em] Steuerpflichtige[n]“ ausgeführt werden muss, um in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer zu fallen. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass eine Lieferung von Gegenständen oder eine Erbringung von Dienstleistungen, die von einer Person ausgeführt wird, die nicht als „Steuerpflichtige“ eingestuft wird, nicht der Mehrwertsteuer unterliegt. Die Bestimmung der Reichweite des Begriffs „Steuerpflichtiger“ ist daher für die Feststellung, ob bestimmte Umsätze steuerbar sind oder nicht, von entscheidender Bedeutung(13).
36. Der Begriff „Steuerpflichtiger“ ist allgemein in Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie definiert, wonach als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 dieses Artikels genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten „selbständig“ ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
37. In dieser Hinsicht geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass es zur Sicherstellung einer einheitlichen Anwendung der Sechsten Richtlinie wichtig ist, dass der in Abschnitt IV dieser Richtlinie definierte Begriff des „Steuerpflichtigen“ autonom und einheitlich ausgelegt wird(14).
38. Was zweitens Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie(15) betrifft, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass sie es jedem Mitgliedstaat gestattet, mehrere Einheiten zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln, wenn sie im Gebiet dieses Mitgliedstaats ansässig sind, und zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind. Dieser Artikel macht nach seinem Wortlaut seine Anwendung nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig und sieht für die Mitgliedstaaten auch nicht die Möglichkeit vor, den Wirtschaftsteilnehmern weitere Bedingungen für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe aufzubürden(16).
39. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Umsetzung der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung, dass die aufgrund dieser Bestimmung erlassene nationale Regelung es Einheiten, zwischen denen finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen bestehen, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden. Somit können, wenn ein Mitgliedstaat von dieser Bestimmung Gebrauch macht, die untergeordnete Einheit oder die untergeordneten Einheiten im Sinne dieser Vorschrift nicht als Steuerpflichtiger oder Steuerpflichtige im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gelten(17).
40. Daraus folgt nach eben dieser Rechtsprechung, dass die Verschmelzung zu einem einzigen Steuerpflichtigen gemäß Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie es ausschließt, dass die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe weiterhin getrennt Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb und außerhalb ihrer Gruppe weiter als Steuerpflichtige angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist, diese Erklärungen abzugeben. Diese Vorschrift setzt somit, wenn ein Mitgliedstaat von ihr Gebrauch macht, zwingend voraus, dass die nationale Umsetzungsregelung einen einzigen Steuerpflichtigen vorsieht und dass der Gruppe nur eine Mehrwertsteuernummer zugeteilt wird(18).
41. Aus der soeben angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich daher, dass mehrere rechtlich selbständige Personen, die eine Mehrwertsteuergruppe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie bilden, nicht mehr als getrennte Steuerpflichtige angesehen werden und für die Zwecke der Mehrwertsteuer zusammen einen einzigen Steuerpflichtigen bilden. Dieser einzige Steuerpflichtige ist entweder die Mehrwertsteuergruppe selbst oder – sofern die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften dies vorsehen und wie der Gerichtshof in den Urteilen Finanzamt T I und Diakonie klargestellt hat – eines ihrer Mitglieder, nämlich der Organträger dieser Gruppe, wenn dieser Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass seine Bestimmung zum einzigen Steuerpflichtigen nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt(19).
42. Aus dem Umstand, dass eine Mehrwertsteuergruppe gemäß Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie als eine einzige Steuerpflichtige angesehen wird, ergibt sich, dass die von einem Dritten zugunsten eines Mitglieds der Mehrwertsteuergruppe erbrachten Dienstleistungen für Mehrwertsteuerzwecke nicht als zugunsten dieses Mitglieds, sondern vielmehr als zugunsten der Mehrwertsteuergruppe, der es angehört, erbracht anzusehen sind(20) und umgekehrt(21).
43. Die in den Nrn. 38 bis 40 der vorliegenden Schlussanträge im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgenommene Analyse der beiden einschlägigen Vorschriften anhand ihre Wortlauts ermöglicht es, die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Vorschriften zu bestimmen.
44. Diese Analyse zeigt zum einen, dass eine Lieferung von Gegenständen oder eine Erbringung von Dienstleistungen nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie von einem „Steuerpflichtigen“ ausgeführt werden muss, um in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen zu können. Zum anderen zeigt sie auch, dass die Mehrwertsteuergruppe eine einzige Steuerpflichtige ist und dass die Einheiten, die dieser Mehrwertsteuergruppe angehören, nicht mehr einzeln als getrennte Steuerpflichtige betrachtet werden. Die notwendige Koordinierung zwischen diesen beiden Feststellungen spricht jedoch für eine kombinierte Auslegung dieser beiden Bestimmungen in dem Sinne, dass Innenumsätze, d. h. Leistungen, die zwischen den Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe gegen Entgelt erbracht werden, nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen.
45. Die gegenteilige Lösung, wonach Leistungen, die ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe an ein anderes Mitglied derselben Gruppe (oder an die Mehrwertsteuergruppe als solche) erbringt, nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie der Mehrwertsteuer unterliegende Umsätze darstellen, würde nämlich voraussetzen, dass dieses Mitglied nach dieser Bestimmung ein Steuerpflichtiger ist, was mit dem Wesen der Mehrwertsteuergruppe als einziger Steuerpflichtiger, wie es sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie sowie aus der in den Nrn. 38 bis 40 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, unvereinbar ist.
46. Die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe begründet die Steuerpflicht dieser Gruppe und beendet die eigenständige Steuerpflicht derjenigen Gruppenmitglieder, die vor dem Anschluss an die Gruppe Mehrwertsteuerpflichtige waren, und die mehrwertsteuerliche Behandlung sowohl der Umsätze, die von der Gruppe an Außenstehende, als auch der Umsätze, die von Außenstehenden an die Gruppe bewirkt werden, ist mit der mehrwertsteuerlichen Behandlung eines einzelnen individuell tätigen Steuerpflichtigen vergleichbar(22).
47. Daraus folgt, dass eine Person, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe nicht mehr als mehrwertsteuerpflichtig gilt, nicht als diejenige angesehen werden kann, die als Einzelne Gegenstände steuerpflichtig liefert oder Dienstleistungen steuerpflichtig erbringt, und zwar weder außerhalb der Gruppe, d. h. zugunsten Dritter, noch innerhalb der Mehrwertsteuergruppe, der sie angehört, d. h. zugunsten anderer Mitglieder derselben Gruppe. Die Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen an Außenstehende ist für Mehrwertsteuerzwecke als von dem einzigen Steuerpflichtigen erbracht anzusehen, d. h. in der Regel von der Mehrwertsteuergruppe selbst, die Schuldnerin der entsprechenden Steuer ist(23). Innerhalb der Gruppe gelten Innenumsätze, die zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe bewirkt werden, als Insichgeschäfte der Gruppe und sind demzufolge mehrwertsteuerrechtlich nicht existent(24). Als (wechselseitige) Umsätze zwischen Einheiten, die Teil eines einzigen Steuerpflichtigen sind, stellen sie nämlich für die Zwecke der Mehrwertsteuer – im Gegensatz zu besteuerten Umsätzen mit Dritten – nicht steuerbare „interne Transaktionen“ dar(25).
48. Eine solche Auslegung der einschlägigen Bestimmungen, wie sie sich aus der Analyse ihres Wortlauts ergibt, entspricht im Übrigen zum einen der Auslegung in den bei der 119. Sitzung des Mehrwertsteuerausschusses am 22. November 2021 erlassenen Leitlinien(26), die zwar keinen bindenden Charakter haben, aber nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gleichwohl eine Hilfe bei der Auslegung der Sechsten Richtlinie darstellen(27). Zum anderen steht sie auch im Einklang mit der Auslegung in der Mitteilung der Kommission von 2009 über Mehrwertsteuergruppen(28).
49. Daher ist als Nächstes zu prüfen, ob die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen, die sich aus der Analyse ihres Wortlauts im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, durch ihre kontextbezogene und teleologische Auslegung bestätigt wird.
B. Zur kontextbezogenen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen
1. Zur kontextbezogenen Auslegung
50. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass auch die kontextbezogene Analyse der einschlägigen Bestimmungen für die Steuerbarkeit von Innenumsätzen spreche. Die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe erbrächten ihre Innenumsätze nämlich im Rahmen einer „selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie. Die Antwort des Gerichtshofs auf die vierte Vorlagefrage im Urteil Diakonie bestätige diese Analyse.
51. Um auf die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel in kontextbezogener Hinsicht zu antworten, ist auf die Frage einzugehen, im welchem Verhältnis die Voraussetzung der „selbständigen“ Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, auf die sich die allgemeine Definition des Steuerpflichtigen in Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bezieht, zu der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe steht, wie sie sich aus Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie ergibt.
52. In diesem Zusammenhang ist aus kontextueller Sicht zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 4 der Sechsten Richtlinie der einzige Artikel ihres Abschnitts IV („Steuerpflichtiger“) ist. Was die Struktur dieses Artikels betrifft, enthält sein erster Absatz die allgemeine Definition eines Steuerpflichtigen, während die anderen Bestimmungen, wie die Kommission zu Recht ausführt, diesen allgemeinen Begriff umschreiben und spezifizieren, indem sie bestimmte Fälle einschließen oder ausschließen.
53. Insbesondere wird die Tragweite der Voraussetzung, dass die wirtschaftliche Tätigkeit „selbständig“ ausgeübt werden muss, in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie präzisiert, wonach der Begriff „selbständig“ es ausschließt, Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag „oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft“.
54. Was sodann den Kontext von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie betrifft, geht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs weder aus dieser Vorschrift noch aus der durch diese Richtlinie eingeführten Regelung hervor, dass diese Vorschrift eine Ausnahme- oder Sondervorschrift darstellt, die eng ausgelegt werden müsste. Somit darf die Voraussetzung des Vorliegens einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen nicht eng ausgelegt werden(29).
55. Darüber hinaus hat der Gerichtshof ausdrücklich entschieden, dass die in Nr. 37 der vorliegenden Schlussanträge erwähnte autonome und einheitliche Auslegung des Begriffs „Steuerpflichtiger“ auch für diese Bestimmung verbindlich ist, obwohl die in dieser Bestimmung vorgesehene Regelung für die Mitgliedstaaten fakultativ ist, damit, wenn auf diese Bestimmung zurückgegriffen wird, vermieden wird, dass bei der Anwendung dieser Regelung Abweichungen von einem Mitgliedstaat zum anderen auftreten(30).
56. Was die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgenommene Spezifizierung des allgemeinen Begriffs „Steuerpflichtiger“ (in dem in Nr. 52 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Sinne) betrifft, besteht diese darin, ausdrücklich vorzusehen – wie sich aus der oben dargelegten Analyse des Wortlauts ergibt –, dass die Mehrwertsteuergruppe, sofern die nach dieser Bestimmung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind, aufgrund einer juristischen Fiktion eine einzige Mehrwertsteuerpflichtige darstellt. Dieser „Mechanismus“ setzt voraus, dass diese einzige Steuerpflichtige als Mehrwertsteuerpflichtige an die Stelle der einzelnen Mitglieder tritt, und zwar ungeachtet der Frage, ob diese Mitglieder eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ausüben oder nicht.
57. Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits Gelegenheit hatte, darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung, eine wirtschaftliche Tätigkeit „selbständig“ auszuüben, um als Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie eingestuft zu werden, eine Rechtsfrage darstellt, die sich von derjenigen der Ausgestaltung der Mehrwertsteuergruppe als eine einzige Steuerpflichtige unterscheidet, und dass diese beiden Fragen nicht notwendigerweise miteinander verbunden sind. In einen solchen Kontext fügt sich im Übrigen meines Erachtens auch die vom Gerichtshof auf die vierte Vorlagefrage im Urteil Diakonie gegebene Antwort ein, die die Zweifel des vorlegenden Gerichts ausgelöst hat. Ich werde daher zunächst die oben erwähnte Rechtsprechung untersuchen, bevor ich anschließend den einschlägigen Teil des Urteils Diakonie analysiere.
2. Die Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen der Voraussetzung der „selbständigen“ Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit und der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe
58. Die erste Vorlagefrage, die dem Gerichtshof im Rahmen der Rechtssache gestellt wurde, in der das Urteil Skandia(31) ergangen ist, betraf die Frage, ob die von einer Hauptniederlassung in einem Drittland an eine Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbrachten Dienstleistungen Umsätze darstellen, die der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn diese Zweigniederlassung Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe ist.
59. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Hauptniederlassung und die Zweigniederlassung mehrwertsteuerrechtlich grundsätzlich als ein einziger Steuerpflichtiger anzusehen, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass die Zweigniederlassung einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht(32).
60. So hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang zunächst geprüft, ob die Zweigniederlassung in jenem Fall selbständig handelte oder nicht. Er hat festgestellt, dass dies nicht der Fall war und dass diese Zweigniederlassung daher nicht selbst Steuerpflichtige im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie sein konnte(33).
61. Da die Zweigniederlassung jedoch einer Mehrwertsteuergruppe angehörte und folglich mit den anderen Mitgliedern dieser Gruppe für Mehrwertsteuerzwecke einen einzigen Steuerpflichtigen bildete, der sich von der Hauptniederlassung unterschied, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Dienstleistungen, die die Hauptniederlassung zugunsten ihrer – nicht selbständigen – Zweigniederlassung erbrachte, die Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe war, nicht als an diese Zweigniederlassung, sondern als an die Mehrwertsteuergruppe erbracht anzusehen waren und somit Umsätze darstellten, die der Mehrwertsteuer unterlagen(34).
62. Der Gerichtshof hat diese Rechtsprechung später in der Rechtssache Danske Bank(35) bestätigt, in der er den gleichen Grundsatz auf einen Sachverhalt anwandte, den man als „umgekehrten Fall“ bezeichnen könnte, in dem die Hauptniederlassung Teil einer Mehrwertsteuergruppe war.
63. Diese Rechtsprechung zeigt, dass die „selbständige“ Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit zwar schon nach dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass eine Person als Steuerpflichtige eingestuft werden kann, dass dies jedoch nicht ausschließt, dass eine Einheit, die diese Voraussetzung nicht erfüllt, gleichwohl in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen kann, wenn sie einer Mehrwertsteuergruppe angehört und somit Teil einer einzigen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 dieser Richtlinie ist.
64. Die Frage, ob die in Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie aufgestellte Voraussetzung einer „selbständig“ ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit erfüllt ist, und die Rechtsfolgen, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe ergeben, stellen somit zwei unterschiedliche Rechtsfragen dar, die nicht notwendigerweise miteinander in Verbindung stehen. Folglich hat die Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Voraussetzung keinen Einfluss auf diese Rechtsfolgen.
3. Zur Antwort des Gerichtshofs auf die vierte Vorlagefrage im Urteil Diakonie
65. Vor dem Hintergrund dieser Wechselwirkung oder gar dieses Spannungsverhältnisses zwischen der Voraussetzung der selbständigen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und der rechtlichen Regelung über die Mehrwertsteuergruppe ist die vierte Vorlagefrage zu untersuchen, die der Gerichtshof im Urteil Diakonie analysiert hat.
66. Diese Frage wurde dem Gerichtshof in einem Fall vorgelegt, in dem die in Rede stehenden nationalen (ebenfalls deutschen) Rechtsvorschriften vorsahen, dass der einzige Mehrwertsteuerpflichtige nicht die Mehrwertsteuergruppe als solche ist, sondern ein Mitglied dieser Gruppe, nämlich ihr Organträger, dem sämtliche Umsätze der der Mehrwertsteuergruppe angehörenden Einheiten zugerechnet werden und der Schuldner der auf alle diese Umsätze entfallenden Umsatzsteuer ist(36).
67. Außerdem galten nach diesen nationalen Rechtsvorschriften die gewerblichen und beruflichen Tätigkeiten der in den Organträger der Gruppe eingegliederten Organgesellschaften nicht als selbständig ausgeübt(37), und zwar aufgrund des Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Organträger und den anderen Gesellschaften, das (mittlerweile) als „Eingliederung mit Durchgriffsrechten“ bezeichnet wird(38).
68. In diesem Zusammenhang hatte das vorlegende Gericht (dasselbe wie in der vorliegenden Rechtssache) insbesondere wissen wollen, ob es möglich ist, die Einheiten, die aufgrund dieses Unterordnungsverhältnisses Teil der Mehrwertsteuergruppe sind, im Wege der Typisierung, d. h. „en bloc“, als nicht selbständig im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie anzusehen.
69. Dieses Gericht hatte insbesondere gefragt, ob Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1(39) der Sechsten Richtlinie es einem Mitgliedstaat gestatten, im Wege der Typisierung eine Person als nicht selbständig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie anzusehen, wenn sie einer Mehrwertsteuergruppe angehört, deren Organträger seinen Willen bei der Person durchsetzen und dadurch eine abweichende Willensbildung bei der Person verhindern kann.
70. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Mehrwertsteuergruppe eingegliedert sind.
71. Der Gerichtshof hat mit anderen Worten festgestellt, dass aus dem Umstand, dass eine Einheit Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe ist, nicht automatisch gefolgert werden kann, dass diese Einheit keine wirtschaftlichen Tätigkeiten „selbständig“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ausübe.
72. Das Urteil Diakonie bestätigt daher im Einklang mit der in den Nrn. 58 bis 64 der vorliegenden Schlussanträge erwähnten Rechtsprechung, dass die Voraussetzung der selbständigen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie und die Folgen, die sich aus der Zugehörigkeit einer Einheit zu einer Mehrwertsteuergruppe ergeben, unterschiedliche Rechtsfragen sind und dass diese Zugehörigkeit keinen Einfluss auf die Definition einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie hat.
73. Somit stellt das Urteil Diakonie die sich aus den Erwägungen in den Nrn. 38 bis 42 der vorliegenden Schlussanträge und der dort angeführten Rechtsprechung ergebende Ausgestaltung der Mehrwertsteuergruppe als eine einzige Steuerpflichtige in keiner Weise in Frage, zumal dieses Urteil ausdrücklich auf diese Rechtsprechung verweist. Daraus folgt, dass dieses Urteil die Folgen dieser Ausgestaltung, wie sie in den Nrn. 43 bis 47 der vorliegenden Schlussanträge im Hinblick auf die Einstufung der Mehrwertsteuergruppe und ihrer Mitglieder als Mehrwertsteuerpflichtige sowohl außerhalb als auch innerhalb der Gruppe selbst dargelegt sind, nicht in Frage stellen kann(40).
74. Außerdem brauchte sich der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil Diakonie ergangen ist, nicht mit der Frage zu befassen, ob die Innenumsätze der Mehrwertsteuergruppe mehrwertsteuerpflichtig waren oder nicht, und hat diese Frage daher auch nicht entschieden.
75. In Anbetracht der vorstehenden kontextbezogenen Analyse und der oben angeführten einschlägigen Rechtsprechung ändert sich selbst dann, wenn Personen, die einer Mehrwertsteuergruppe angehören, wirtschaftliche Tätigkeiten „selbständig“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ausüben, nichts an der Tatsache, dass diese Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe für Zwecke der Mehrwertsteuer zusammen einen einzigen Steuerpflichtigen bilden und somit für diese Zwecke nicht mehr als getrennte Steuerpflichtige angesehen werden, und zwar weder in den Außenbeziehungen noch in den Beziehungen innerhalb der Mehrwertsteuergruppe.
76. Daraus folgt, dass – anders als es das vorlegende Gericht in Erwägung zieht – der Umstand, dass die Mitglieder der Mehrwertsteuergruppe ihre Innenumsätze im Rahmen einer „selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie erzielen, die These der Steuerbarkeit dieser Innenumsätze nicht stützt und die in den Nrn. 43 bis 47 der vorliegenden Schlussanträge dargelegte Auslegung der einschlägigen Bestimmungen nicht in Frage stellen kann.
C. Zur teleologischen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen
77. Das vorlegende Gericht neigt zu der Auffassung, dass die mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziele keine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen erforderten. Die Verfahrensvereinfachung, die darauf abziele, dass es infolge der Bildung der Mehrwertsteuergruppe nicht mehr erforderlich sei, mehrere Steuererklärungen abzugeben, habe keinen Einfluss auf den Steueranspruch, so dass die Innenumsätze der Mehrwertsteuer unterlägen. Wenn die vorgenannte Vereinfachung hingegen materiell-rechtlicher Natur sei, könne dies dann nachvollziehbar sein, wenn das den Innenumsatz empfangende Gruppenmitglied zum Vorsteuerabzug berechtigt sei, so dass sich Steuerschuld und Vorsteuerabzugsrecht saldierten. Demgegenüber führe eine allgemeine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen, die auch dann eingreife, wenn das den Innenumsatz empfangende Gruppenmitglied nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sei, zu Steuerverlusten und im Ergebnis nicht zu einer Verwaltungsvereinfachung, sondern zu einer Nichtbesteuerung. Auch das Ziel, bestimmte Missbräuche zu verhindern, könne es nicht rechtfertigen, die Innenumsätze nicht zu besteuern. Es könne im Gegenteil als missbräuchlich angesehen werden, wenn die Mitglieder der Gruppe, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt seien, einen Steuervorteil erhielten.
78. Um auf die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel einzugehen, ist die Logik, d. h. die Rechtfertigung des Mechanismus der Mehrwertsteuergruppe, wie er in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehen ist, zu bestimmen.
79. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf die mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziele festgestellt hat, dass aus der Begründung des Kommissionsvorschlags, der zum Erlass dieser Richtlinie geführt hat (KOM[73] 950 endg.), hervorgeht, dass der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten durch den Erlass dieser Vorschrift ermöglichen wollte, die Eigenschaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der „rein rechtlichen Selbständigkeit“ zu knüpfen, und zwar aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z. B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehreren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen(41).
80. Das vorlegende Gericht bezieht sich ausdrücklich auf diese Rechtsprechung des Gerichtshofs, konzentriert sich aber ausschließlich auf die Ziele der Verwaltungsvereinfachung und der Verhinderung von Missbrauch. Wie aus der vorstehenden Nummer hervorgeht, soll der Mechanismus der Mehrwertsteuergruppe es den Mitgliedstaaten jedoch in erster Linie ermöglichen, die Eigenschaft als Steuerpflichtiger nicht systematisch an das Merkmal der „rein rechtlichen Selbständigkeit“ zu knüpfen. Es handelt sich somit ausdrücklich um ein Instrument, das die Mitgliedstaaten ermächtigt, die Frage der Mehrwertsteuerpflicht von der Frage der rechtlichen Organisation der Unternehmen zu unterscheiden.
81. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Mehrwertsteuerpflicht potenziell und tatsächlich auf die Ausgestaltung und Funktionsweise der Wirtschaftsteilnehmer auswirkt(42). Sie kann nämlich die Organisationsentscheidungen der Unternehmen beeinflussen. So kann sich ein Unternehmen vor die Wahl gestellt sehen, bestimmte Lieferungen von Gegenständen oder bestimmte Dienstleistungen entweder in einer internen Geschäftseinheit des Unternehmens selbst zu internalisieren oder an eine rechtlich getrennte, aber der Gruppe angehörende Einheit (z. B. ein Produktions- oder Dienstleistungsunternehmen) auszulagern(43). Daher hängt die Frage, ob die Tätigkeiten eines Wirtschaftsteilnehmers internalisiert oder (innerhalb der Gruppe) ausgelagert werden, möglicherweise nicht allein von betrieblichen oder wirtschaftlichen Erwägungen ab, sondern kann auch die Folgen zu berücksichtigen haben, die sich aus der Pflicht ergeben, Mehrwertsteuer zu zahlen.
82. Grundsätzlich sollte es jedoch für die Zwecke der Mehrwertsteuer nicht darauf ankommen, ob ein Teil der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens an eine (möglicherweise eigenständig steuerpflichtige) getrennte Einheit ausgelagert wird, die Teil der Gruppe ist, oder ob sie von einer internen Geschäftseinheit eines größeren Unternehmens ausgeführt wird. Es ist nämlich die Tätigkeit und nicht die Rechtsform, die den Mehrwertsteuerpflichtigen kennzeichnet(44).
83. Die Zulassung der Mehrwertsteuergruppe ermöglicht den Mitgliedstaaten somit, den Einfluss der Mehrwertsteuer auf die Entscheidungen der Wirtschaftsteilnehmer über ihre Organisationsform zu mindern. Mithin trägt der Mechanismus der Mehrwertsteuergruppe zur steuerlichen „Organisationsneutralität“ bei, da auf diese Weise geeignete Unternehmensstrukturen ermöglicht werden, ohne dass die negativen Folgen einer Mehrwertsteuerpflicht eintreten(45). Vorbehaltlich der in Nr. 85 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Erwägungen setzt diese Funktion jedoch voraus, dass die Innenumsätze der Gruppe nicht steuerpflichtig sind. Die oben erwähnte steuerliche „Organisationsneutralität“ kann nämlich nur gewährleistet werden, wenn die Mehrwertsteuerregelung sowohl im Fall einer Internalisierung von Lieferungen und Leistungen als auch im Fall ihrer Auslagerung (innerhalb der Gruppe) dieselbe ist.
84. Die Feststellung, dass die grundlegende und ursprüngliche Funktion des Mechanismus der Mehrwertsteuergruppe in dem Ziel besteht, die steuerliche „Organisationsneutralität“ zu gewährleisten, ergibt sich nicht nur aus der in Nr. 78 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs, sondern auch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die diese Mehrwertsteuergruppe vorsieht. Der Begriff der Mehrwertsteuergruppe wurde nämlich durch die Zweite Richtlinie 67/228/EWG(46) in das Unionsrecht aufgenommen, und zwar auf der Grundlage der deutschen Regelung zur Organschaft(47), deren Kernstück, wie auch das vorlegende Gericht ausführt(48), die Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze war, um eine Steuerkumulation zu vermeiden. In der Folgezeit wurde er im Zuge der späteren Änderungen durch die Sechste Richtlinie und schließlich durch die Mehrwertsteuerrichtlinie weiterentwickelt(49).
85. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, hat die Funktion, die steuerliche „Organisationsneutralität“ zu gewährleisten, durch die Einführung der Möglichkeit des Vorsteuerabzugs einen Teil ihrer Bedeutung verloren. Besteht diese Möglichkeit, gleichen sich nämlich die Steuerschuld und das Recht auf Vorsteuerabzug aus, so dass in Fällen, in denen ein solcher Abzug möglich ist, die Regelung über die Mehrwertsteuergruppe keine materielle Bedeutung hat und ihre Rechtfertigung im Wesentlichen in der Verwaltungsvereinfachung verfahrensrechtlicher Art zu finden ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass diese Verwaltungsvereinfachung auch für die Steuerbehörde von Vorteil ist, weil diese sich dadurch eine Reihe von Kontrollen ersparen kann.
86. Das Ziel, die steuerliche „Organisationsneutralität“ dieser Regelung zu gewährleisten, bleibt jedoch für Unternehmen, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, weiterhin voll gültig. Für diese Unternehmen ist es nämlich, sofern der betreffende Mitgliedstaat von der Möglichkeit der Bildung von Mehrwertsteuergruppen Gebrauch gemacht hat – und unter der Voraussetzung, dass die Innenumsätze nicht steuerbar sind –, gleichgültig, ob die Lieferungen von Gegenständen oder die Dienstleistungen von diesen Unternehmen selbst oder mittels eines beherrschten Unternehmens erbracht werden. In beiden Fällen werden diese Lieferungen oder Leistungen nicht mit Mehrwertsteuer belastet(50). Gerade für diese Unternehmen bleibt daher die Rechtfertigung durch die Gewährleistung der steuerlichen „Organisationsneutralität“ gültig. Folglich hat der Mechanismus der Mehrwertsteuergruppe für diese Unternehmen nicht nur eine verfahrensrechtliche Bedeutung, weil er eine Verwaltungsvereinfachung darstellt, sondern nach wie vor auch eine materiell-rechtliche Bedeutung(51).
87. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Große Kammer des Gerichtshofs im Urteil vom 9. April 2013, Kommission/Irland (C‑85/11, EU:C:2013:217), ausdrücklich festgestellt hat, dass es insbesondere im Hinblick auf die Ziele der Bestimmung der Mehrwertsteuerrichtlinie, die die Mehrwertsteuergruppe vorsieht, keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass Personen, die nicht steuerpflichtig sind und folglich keine Mehrwertsteuer in Rechnung stellen können, nicht in eine Mehrwertsteuergruppe einbezogen werden können(52).
88. Was schließlich die Gefahr der vom vorlegenden Gericht erwähnten mutmaßlichen Steuerverluste betrifft, weise ich auf Folgendes hin.
89. Erstens lassen sich die Urteile Finanzamt T I und Diakonie sowie deren Rn. 50 bzw. 57 nicht heranziehen, um die Auffassung zu stützen, dass Innenumsätze zwischen den Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe im Hinblick auf die Gefahr von Steuerverlusten steuerbar seien. Zum einen hat der Gerichtshof in diesen Urteilen die Frage der Steuerbarkeit von Innenumsätzen nämlich in keiner Weise untersucht. Zum anderen geht aus diesen Urteilen klar hervor, dass der Verweis des Gerichtshofs auf die Gefahr von Steuerverlusten keineswegs ein Verweis allgemeiner Art war, sondern sich auf den Umstand beschränkte, dass die Rolle des einzigen Steuerpflichtigen im Rahmen der in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften dem Organträger der Mehrwertsteuergruppe und nicht dieser Gruppe selbst zugewiesen war. Gerade diese Zuweisung war es, die nach der Auffassung des Gerichtshofs nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führen durfte. Daraus folgt, dass es nur dann möglich ist, dem Organträger der Mehrwertsteuergruppe die Rechtsstellung des einzigen Steuerpflichtigen zuzuweisen, wenn eine solche Zuweisung nach nationalem Recht zu demselben Ergebnis führt, als würde die Mehrwertsteuergruppe selbst als einzige Steuerpflichtige angesehen, und somit keine Gefahr besteht, dass Steuereinnahmen im Zusammenhang mit Leistungen, die von Mitgliedern der Gruppe erbracht und empfangen werden, nicht erfasst werden. Es ist festzustellen, dass diese Erwägung in keinem Zusammenhang mit der Frage steht, ob die Innenumsätze der Mehrwertsteuergruppe steuerbar sind oder nicht.
90. Zweitens stelle ich fest, dass die Kommission in der Rechtssache, die dem oben genannten Urteil Kommission/Irland zugrunde lag, zum Nachweis der Vertragsverletzung, die sie dem betreffenden Mitgliedstaat vorwarf, Argumente vorgebracht hatte, die auf die Gefahr eines Steuerausfalls abstellten, die sich aus der Möglichkeit für nicht steuerpflichtige Personen ergebe, einer Mehrwertsteuergruppe beizutreten, und dass diese Argumente im Wesentlichen den vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Zweifeln entsprachen(53). Der Gerichtshof ist diesen Argumenten jedoch nicht gefolgt und hat die Klage der Kommission abgewiesen, was zeigt, dass er diese Argumentationslinie bereits als nicht relevant eingestuft hat.
91. Drittens bezweifle ich, dass die Gefahr von Steuerverlusten, wie sie vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogen werden, tatsächlich besteht. Um seine Bedenken in Bezug auf das Bestehen dieser Gefahr von Steuerverlusten zu veranschaulichen, stellt das vorlegende Gericht nämlich einen Vergleich zwischen zwei Steueransprüchen an, die sich auf die Rechtslage ohne bzw. mit Organschaft gemäß Art. 4 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie beziehen(54). Im Licht der Nrn. 81 bis 83 und 86 der vorliegenden Schlussanträge könnte sich das den Innenumsatz empfangende und nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Mitglied der Mehrwertsteuergruppe jedoch in Wirklichkeit dafür entscheiden, die Lieferung von Gegenständen oder die Dienstleistung, die es von den Mitgliedern dieser Gruppe erhält, im Rahmen einer unternehmensinternen Organisationseinheit zu „internalisieren“, so dass dieser Vorgang jedenfalls aus mehrwertsteuerrechtlicher Sicht zum selben Ergebnis führen würde. Im vorliegenden Fall könnte beispielsweise das Krankenhaus, um das es im Ausgangsverfahren geht, die Reinigungsdienste auch durch eine interne Einheit ausführen lassen, statt sie an eine juristische Einheit „auszulagern“, die Teil der Mehrwertsteuergruppe ist. Aus mehrwertsteuerlicher Sicht würde das nichts ändern. Für dieses Krankenhaus bestünde jedoch ein Anreiz, sich eher für diese Lösung zu entscheiden, um die Mehrwertsteuer nicht entrichten zu müssen, wenn es keinen Mechanismus für eine Mehrwertsteuergruppe ohne Besteuerung der Innenleistungen gäbe. Allerdings wäre in einem solchen Fall die oben erwähnte steuerliche „Organisationsneutralität“ nicht gewährleistet.
92. Unter diesem Gesichtspunkt – wenn es keinen Steuervorteil für die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Mitglieder der Gruppe gibt – sind die Zweifel des vorlegenden Gerichts im Hinblick auf das Ziel der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe, bestimmte Missbräuche zu verhindern, nicht gerechtfertigt.
93. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziele entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts einer Auslegung dieser Bestimmungen dahin, dass die Innenumsätze einer Mehrwertsteuergruppe nicht der Mehrwertsteuer unterliegen, nicht entgegenstehen.
V. Ergebnis …
1 Originalsprache: Französisch.
2 Zusammenschluss rechtlich unabhängiger, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbundener Personen (im Folgenden: Mehrwertsteuergruppe).
3 ABl. 1977, L 145, S. 1, in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 (ABl. 2000, L 269, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
4 ABl. 2006, L 347, S. 1.
5 Vgl. Rn. 11 bis 19 dieses Urteils.
6 Gemäß § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG im Licht von Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie.
7 Vgl. Rn. 50 bzw. 57 dieser Urteile.
8 Diese beiden Bestimmungen entsprechen nunmehr Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c bzw. Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
9 Vgl. insbesondere Urteile Finanzamt T I, Rn. 35, und Diakonie, Rn. 43.
10 Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Kommission/Schweden (C‑480/10, EU:C:2013:263, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
11 Art. 2 der Sechsten Richtlinie ist der einzige Artikel in deren Abschnitt II („Steueranwendungsbereich“).
12 Urteil vom 24. Januar 2019, Morgan Stanley & Co International (C‑165/17, EU:C:2019:58, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
13 Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Latvijas Informācijas un komunikācijas tehnoloģijas asociācija (C‑87/23, EU:C:2024:222, Nr. 2).
14 Vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 25. April 2013, Kommission/Schweden (C‑480/10, EU:C:2013:263, Rn. 34).
15 Art. 4 der Sechsten Richtlinie ist der einzige Artikel ihres Abschnitts IV („Steuerpflichtiger“).
16 Vgl. Urteile Finanzamt T I, Rn. 38, und Diakonie, Rn. 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung.
17 Vgl. Urteile Finanzamt T I, Rn. 39, und Diakonie, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung. Hervorhebung nur hier.
18 Vgl. Urteile Finanzamt T I, Rn. 40, und Diakonie, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung. Hervorhebung nur hier.
19 Vgl. in diesem Sinne Urteile Finanzamt T I, Rn. 53, und Diakonie, Rn. 60. Siehe hierzu auch Nr. 89 der vorliegenden Schlussanträge.
20 Vgl. Urteile vom 17. September 2014, Skandia America (USA), filial Sverige (C‑7/13, im Folgenden: Urteil Skandia, EU:C:2014:2225, Rn. 29), und vom 18. November 2020, Kaplan International colleges UK (C‑77/19, EU:C:2020:934, Rn. 46).
21 Urteil vom 11. März 2021, Danske Bank (C‑812/19, EU:C:2021:196, Rn. 28).
22 Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Kommission/Griechenland (C‑85/11, EU:C:2012:753, Nr. 42) und in der Rechtssache Kommission/Schweden (C‑480/10, EU:C:2012:751, Nr. 40).
23 Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. März 2021, Danske Bank (C‑812/19, EU:C:2021:196, Rn. 28), und Skandia, Rn. 29.
24 Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11, EU:C:2012:753, Nr. 42) und in der Rechtssache Kommission/Schweden (C‑480/10, EU:C:2012:751, Nr. 40), sowie Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in den verbundenen Rechtssachen Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt (C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:212, Nr. 49).
25 Vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 24. Januar 2019, Morgan Stanley & Co International (C‑165/17, EU:C:2019:58, Rn. 38).
26 Dokument B – taxud.c.1(2022)2315070‑1034, insbesondere S. 24, Nr. 3.
27 Vgl. entsprechend Beschluss vom 29. Oktober 2020, Weindel Logistik Service (C‑621/19, EU:C:2020:889, Rn. 48).
28 Vgl. Nr. 3.4.3 der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Option der MwSt-Gruppe gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (KOM[2009] 325 endgültig vom 2. Juli 2009).
29 Vgl. Urteile Finanzamt T I, Rn. 42, und Diakonie, Rn. 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung.
30 Vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 25. April 2013, Kommission/Schweden (C‑480/10, EU:C:2013:263, Rn. 34).
31 In dieser Rechtssache betraf die dem Gerichtshof gestellte Vorlagefrage die Auslegung von Art. 2 Abs. 1, Art. 9 und Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
32 Vgl. Urteil vom 24. Januar 2019, Morgan Stanley & Co International (C‑165/17, EU:C:2019:58, Rn. 35).
33 Vgl. Rn. 26 des Urteils Skandia.
34 Vgl. Rn. 28, 30 und 31 des Urteils Skandia.
35 Urteil vom 11. März 2021, Danske Bank (C‑812/19, EU:C:2021:196, Rn. 17 bis 35).
36 Vgl. Rn. 21 und 22 des Urteils Diakonie.
37 Vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG. Vgl. auch Rn. 22 des Urteils Diakonie.
38 Vgl. Rn. 20 des Urteils Diakonie. Für eine ausführlichere Sachverhaltsdarstellung zu dieser Frage vgl. auch Rn. 85 ff. des Vorabentscheidungsersuchens in jener Rechtssache.
39 In diesem Fall hatte das vorlegende Gericht wissen wollen, ob die oben genannte – und nach deutschem Recht für die Beurteilung des Bestehens einer Organschaft erforderliche – Voraussetzung, dass die eine steuerliche Einheit (im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie) bildenden Organgesellschaften ihrem Organträger untergeordnet sind, durch eine Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 gerechtfertigt sein kann, die die zur Mehrwertsteuergruppe gehörenden Einheiten gewissermaßen „auf eine Stufe“ mit Lohn- und Gehaltsempfängern im Sinne der letztgenannten Bestimmung stellt. Vgl. Urteil Diakonie, Rn. 28 bis 30.
40 Die Frage, ob ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübt oder nicht, könnte sich gegebenenfalls im Innenverhältnis dieser Gruppe darauf auswirken, welche Steuerlast von ihren Mitgliedern jeweils zu tragen ist. Vgl. hierzu Urteil Diakonie, Rn. 27.
41 Vgl. Urteile Finanzamt T I, Rn. 43, und Diakonie, Rn. 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung.
42 Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11, EU:C:2012:753, Nr. 49).
43 Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Adient (C‑533/22, EU:C:2024:106, Nr. 33).
44 Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11, EU:C:2012:753, Nr. 50).
45 Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11, EU:C:2012:753, Nr. 49) und in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Adient (C‑533/22, EU:C:2024:106, Nr. 33).
46 Zweite Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1303).
47 So hieß es in der Begründung zu dieser Zweiten Richtlinie 67/228: „The law currently in force in certain Member States treats persons who are independent from a juridical point of view, but organically interlinked by economic, financial or organization ties, as one single taxpayer, so that transactions among these persons do not constitute tax acts. In this view, firms forming an Organschaft are therefore, subject to the same fiscal conditions as an integrated firm which is one single juridical person.“ Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 5/65, insbesondere S. 20 (nur in englischer Sprache verfügbar).
48 Vgl. Rn. 47 ff. des Vorlagebeschlusses, insbesondere Rn. 54.
49 Für einen historischen Rückblick auf die Entstehung der unionsrechtlichen Bestimmung über die Mehrwertsteuergruppe vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11, EU:C:2012:753, Nrn. 29 bis 36), sowie Pfeiffer, S., VAT Grouping from a European Perspective, IBFD Doctoral Series, Bd. 34, 2015.
50 Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Adient (C‑533/22, EU:C:2024:106, Nr. 33, Fn. 13).
51 Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Adient (C‑533/22, EU:C:2024:106, Nr. 33, Fn. 13).
52 Vgl. speziell zu Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie Rn. 50 dieses Urteils.
53 Urteil vom 9. April 2013, Kommission/Irland (C‑85/11, EU:C:2013:217, Rn. 24).
54 Dem vorlegenden Gericht zufolge entsteht nämlich im ersten Fall der Vergleichsbetrachtung (keine Organschaft/keine Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze) ein Steueranspruch, der zu keinem Vorsteuerabzug führt. Demgegenüber unterbleibt im zweiten Fall der Vergleichsbetrachtung (Organschaft mit Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze) von vornherein die Entstehung eines Steueranspruchs. Vgl. Rn. 31 und 32 des Vorlagebeschlusses.