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Steuerrecht
19.10.2023
Steuerrecht
EuGH: EuGH: Besteuerung von Zinserträgen aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln – Ungleichbehandlung nach dem Ort der Niederlassung der begebenden Einrichtung und der die betreffenden Zinsen zahlenden Einrichtung

 – Besteuerung von Zinserträgen aus der Schweiz – Pflicht, dieselben Steuersätze anzuwenden wie für vergleichbare nationale Erträge

EuGH, Urteil vom 12.10.2023 – C-312/22; FL gegen Autoridade Tributária e Aduaneira

ECLI:EU:C:2023:771

Volltext BB-Online BBL2023-2453-1

Tenor

Art. 56 EG ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Zinserträge von Steuerpflichtigen dieses Mitgliedstaats einem progressiven Steuersatz von bis zu 40 % unterliegen, wenn die Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von einer Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats oder eines Drittstaats wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft begeben wurden und von einer solchen Einrichtung gezahlt werden, wohingegen auf die betreffenden Zinserträge eine niedrigere Abgeltungsteuer von 20 % erhoben wird, wenn sie aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von einer Einrichtung ihres Ansässigkeitsmitgliedstaats begeben wurden und von einer solchen Einrichtung gezahlt werden.

Art. 2 Abs. 4 des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Regelungen, die den in der Richtlinie 2003/48/EG des Rates im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen festgelegten Regelungen gleichwertig sind, in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 des Abkommens ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Zinserträge, die ab dem 1. Juli 2005 von Steuerpflichtigen dieses Mitgliedstaats erzielt werden, die für das Verfahren der freiwilligen Offenlegung optiert oder diese Zinserträge auf andere Weise den Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem sie ansässig sind, gemeldet haben, soweit sie nicht nach Art. 1 Abs. 2 des Abkommens vom Steuerrückbehalt ausgeschlossen sind, einem progressiven Steuersatz von bis zu 40 % unterliegen, wenn sie aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen und von einer Schweizer Zahlstelle gezahlt werden, wohingegen eine niedrigere Abgeltungsteuer von 20 % auf solche Zinserträge erhoben wird, wenn sie von einer gebietsansässigen Zahlstelle gezahlt werden.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 EG und Art. 2 Abs. 4 des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Regelungen, die den in der Richtlinie 2003/48/EG des Rates im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen festgelegten Regelungen gleichwertig sind (ABl. 2004, L. 385, S. 30, im Folgenden: Abkommen).

2          Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FL und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) über die Erhebung von Einkommensteuer auf Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die von nicht im portugiesischen Hoheitsgebiet ansässigen Einrichtungen geschuldet und im Jahr 2005 von einer Schweizer Bank an FL gezahlt wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Das Abkommen ist nach Abschluss der in seinen Art. 17 und 18 vorgesehenen Verfahren am 1. Juli 2005 in Kraft getreten.

4          In Art. 1 („Steuerrückbehalt durch schweizerische Zahlstellen“) des Abkommens heißt es:

„(1)       Von Zinszahlungen an in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (im Folgenden ‚Mitgliedstaat‘ genannt) ansässige Nutzungsberechtigte im Sinne von Artikel 4 durch im Gebiet der Schweiz niedergelassene Zahlstellen wird vorbehaltlich des Absatzes 2 und des Artikels 2 ein Betrag von den Zinszahlungen einbehalten. Der Satz des Steuerrückbehalts beträgt in den ersten drei Jahren der Anwendung dieses Abkommens 15 %, in den darauffolgenden drei Jahren 20 % und danach 35 %.

(2)        Zinszahlungen auf Forderungen, die von in der Schweiz ansässigen Schuldnern begeben wurden oder sich auf Betriebsstätten in der Schweiz nicht ansässiger Personen beziehen, sind vom Steuerrückbehalt ausgeschlossen. Für die Zwecke dieses Abkommens hat der Begriff ‚Betriebsstätte‘ dieselbe Bedeutung wie in dem jeweiligen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zwischen der Schweiz und dem Ansässigkeitsstaat des Schuldners. Besteht kein solches Abkommen, so bedeutet der Begriff ‚Betriebsstätte‘ eine feste Geschäftseinrichtung, durch die die Geschäftstätigkeit eines Schuldners ganz oder teilweise ausgeübt wird.

…“

5          Art. 2 („Freiwillige Offenlegung“) des Abkommens sieht vor:

„(1)       Die Schweiz sieht ein Verfahren vor, das es dem Nutzungsberechtigten im Sinne von Artikel 4 ermöglicht, den Steuerrückbehalt gemäß Artikel 1 zu vermeiden, indem er seine Zahlstelle in der Schweiz ausdrücklich ermächtigt, die Zinszahlungen an die zuständige Behörde dieses Staates zu melden. Eine solche Ermächtigung gilt für alle Zinszahlungen dieser Zahlstelle an den Nutzungsberechtigten.

(2)        Die Zahlstelle übermittelt im Falle der ausdrücklichen Ermächtigung durch den Nutzungsberechtigten mindestens die folgenden Angaben:

(3)        Die zuständige Behörde der Schweiz übermittelt die Informationen gemäß Absatz 2 der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dem der Nutzungsberechtigte ansässig ist. …

(4)        Optiert der Nutzungsberechtigte für dieses Verfahren der freiwilligen Offenlegung oder meldet er seine Zinserträge von einer schweizerischen Zahlstelle auf andere Weise den Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem er ansässig ist, werden die betreffenden Zinserträge in diesem Mitgliedstaat zu demselben Satz besteuert wie vergleichbare Erträge, die aus diesem Mitgliedstaat stammen.“

Portugiesisches Recht

6          In Art. 22 des Código do Imposto sobre o Rendimento das Pessoas Singulares (Einkommensteuergesetzbuch) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: CIRS) heißt es:

„1.        Das steuerpflichtige Einkommen ergibt sich aus der Zusammenrechnung der jährlichen Einkünfte in den verschiedenen Einkunftsarten nach Vornahme der in den folgenden Abschnitten vorgesehenen Abzüge und Abschläge.

3.         Einkünfte, die nicht im portugiesischen Hoheitsgebiet ansässige Steuerpflichtige erzielen, sowie die in den Art. 71 und 72 genannten Einkünfte werden für die Zwecke ihrer Besteuerung nicht zusammengerechnet, unbeschadet der dort vorgesehenen Möglichkeit einer Zusammenrechnung.“

7          Art. 71 Abs. 1 und 3 CIRS bestimmt:

„1.        Die in den folgenden Absätzen genannten Einkünfte, die im portugiesischen Hoheitsgebiet erzielt werden, sowie die in Art. 101 Abs. 2 Buchst. b genannten Einkünfte unterliegen einer endgültigen Abgeltungssteuer an der Quelle zu den dort vorgesehenen Sätzen.

3.         Zum Satz von 20 % werden besteuert:

a)         Zinsen aus täglich fälligen Einlagen oder Termineinlagen, einschließlich Zinsen aus Einlagenzertifikaten;

b)         Einkünfte aus auf den Namen oder den Inhaber lautenden Schuldtiteln sowie Einkünfte aus Prolongationsgeschäften,  aus Forderungsabtretungen, aus Wertpapierkonten zu garantierten Preisen oder aus vergleichbaren oder ähnlichen Geschäften;

…“

8          Art. 101 Abs. 2 Buchst. b CIRS sieht vor:

„Für Einkünfte, die einer Abgeltungssteuer an der Quelle zu den in Art. 71 vorgesehenen Sätzen unterliegen, sowie, in dem in Buchst. b genannten Fall, für Gewinne aus Gesellschaftsanteilen, die von nicht im portugiesischen Hoheitsgebiet ansässigen Einrichtungen geschuldet werden, denen die Zahlung zugeschrieben werden kann, gilt:

b)         Einrichtungen, die im portugiesischen Hoheitsgebiet ansässigen Inhabern Erträge aus Wertpapieren zahlen oder zur Verfügung stellen, die von nicht im portugiesischen Hoheitsgebiet ansässigen Einrichtungen geschuldet werden, denen die Zahlung zugeschrieben werden kann, müssen unabhängig davon, ob sie von Letzteren oder von den Inhabern beauftragt werden, oder für Rechnung der einen oder der anderen handeln, den Betrag abziehen, der dem Satz von 20 % der Bruttoeinkünfte entspricht …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9          Im Jahr 2005 erzielte FL Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die von einer Schweizer Bank gezahlt wurden.

10        Am 10. Mai 2006 reichte FL eine Einkommensteuererklärung für diese Zinserträge ein. Mit Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2005 wurden die Zinserträge zu den übrigen Einkünften von FL gerechnet und zum höchsten progressiven Einkommensteuersatz von 40 % besteuert.

11        Am 31. Juli 2008 stellte FL einen Antrag auf Überprüfung dieses Steuerbescheids von Amts wegen, der abgelehnt wurde. Am 11. Januar 2010 erhob er beim Tribunal Administrativo e Fiscal de Sintra (Verwaltungs- und Finanzgericht Sintra, Portugal) gegen den Steuerbescheid eine Klage, die von diesem Gericht mit Urteil vom 1. November 2020 in vollem Umfang abgewiesen wurde.

12        FL legte gegen das Urteil beim Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) Rechtsmittel ein.

13        Zur Stützung dieses Rechtsmittels macht FL zunächst geltend, die anwendbare portugiesische Regelung beeinträchtige den freien Kapitalverkehr und den freien Dienstleistungsverkehr, indem sie in Portugal ansässige Personen unterschiedlich behandle, je nachdem, ob ihre Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Termingeldern stammten, die von in Portugal niedergelassenen Einrichtungen begeben worden seien, oder von solchen Einrichtungen gezahlt würden oder ob sie aus Schuldverschreibungen und Termingeldern, die von in Drittländern niedergelassenen Einrichtungen begeben worden seien, stammten und von solchen Einrichtungen gezahlt würden.

14        Nach den Art. 22, 71 und 101 CIRS unterlägen Zinserträge von ersteren Einrichtungen einer Abgeltungsteuer von 20 %, wohingegen Zinserträge von zweiteren Einrichtungen zwingend zu den Einkünften zu rechnen seien und zu einem progressiven Steuersatz von bis zu 40 % besteuert würden. Soweit nach dieser Regelung identische Einkünfte steuerlich unterschiedlich behandelt würden, je nachdem, ob die Zahlung von einer in Portugal ansässigen Zahlstelle getätigt werde oder nicht, könne die Regelung gebietsansässige Steuerpflichtige davon abhalten, ihr Kapital in Unternehmen zu investieren, die in oder außerhalb der Europäischen Union niedergelassen seien.

15        Darüber hinaus verstoße die portugiesische Regelung dadurch gegen die Richtlinie 2003/48 und gegen das Abkommen über gleichwertige Regelungen, dass danach Erträge, die ihm von Schweizer Banken gezahlt worden seien, höher besteuert würden, als wenn diese Erträge von portugiesischen Banken gezahlt worden wären, obwohl er seinen steuerlichen Pflichten in Portugal ordnungsgemäß nachgekommen sei und seine Zustimmung zum Informationsaustausch zwischen diesem Mitgliedstaat und den Schweizer Behörden erteilt habe.

16        Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob diese Regelung mit den Unionsvorschriften über den freien Kapitalverkehr, insbesondere mit Art. 56 EG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 4 des Abkommens, vereinbar ist.

17        Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist es mit dem Unionsrecht vereinbar, dass Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die von einer nicht im portugiesischen Hoheitsgebiet ansässigen Schweizer Bank im Jahr 2005 an den Kläger des Ausgangsverfahrens gezahlt wurden, zu den Einkünften zu rechnen und daher zu demselben Einkommensteuersatz wie die übrigen Einkünfte zu besteuern sind, was bedeutet, dass sie mit einem viel höheren Steuersatz belegt werden als dem, der anzuwenden wäre (Abgeltungsteuer), wenn diese Erträge von einer im Inland ansässigen Bank gezahlt worden wären?

Zur Vorlagefrage

18        Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 56 EG und Art. 2 Abs. 4 des Abkommens dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach Zinserträge von Steuerpflichtigen dieses Mitgliedstaats einem progressiven Steuersatz von bis zu 40 % unterliegen, wenn diese Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von einer Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats oder eines Drittstaats wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft begeben wurden, und von einer solchen Einrichtung gezahlt werden, wohingegen auf die betreffenden Zinserträge eine niedrigere Abgeltungsteuer von 20 % erhoben wird, wenn sie aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von einer Einrichtung ihres Ansässigkeitsmitgliedstaats begeben wurden, und von einer solchen Einrichtung gezahlt werden.

Zum freien Kapitalverkehr

19        Zunächst ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die steuerliche Behandlung von Zinserträgen aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die von natürlichen Personen erzielt werden und aus von ihnen getätigten Investitionen stammen, zum Gegenstand hat, in den Anwendungsbereich des freien Kapitalverkehrs fällt.

20        Eine solche Regelung kann jedoch, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens und die Europäische Kommission geltend machen, auch den freien Dienstleistungsverkehr beeinträchtigen, da sie Auswirkungen auf die Finanzdienstleistungen haben kann, die diese Schuldverschreibungen und Schuldtitel zum Gegenstand haben, die von einer Mittelsperson eines anderen Mitgliedstaats angeboten werden.

21        Wenn eine innerstaatliche Maßnahme sowohl den freien Dienstleistungsverkehr als auch den freien Kapitalverkehr betrifft, prüft der Gerichtshof die in Rede stehende Maßnahme jedoch grundsätzlich nur im Hinblick auf eine dieser beiden Freiheiten, wenn sich herausstellt, dass unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann (Urteil vom 30. April 2020, Société Générale, C-565/18, EU:C:2020:318, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22        Im vorliegenden Fall ist der freie Dienstleistungsverkehr dem freien Kapitalverkehr gegenüber zweitrangig und kann ihm zugeordnet werden. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung bezieht sich nämlich auf die Folgen, die sich für einen gebietsansässigen Steuerpflichtigen aus der Ausübung des freien Kapitalverkehrs ergeben. Für den Betroffenen ist es gerade die Ausübung dieser Grundfreiheit, die die Notwendigkeit mit sich bringen kann, für die Auszahlung der Zinserträge aus den betreffenden Schuldverschreibungen und Schuldtiteln eine Mittelsperson zu wählen, um, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, in den Genuss der Abgeltungsteuer von 20 % auf diese Zinserträge kommen zu können. Die Wahl dieser Mittelsperson und demnach die Gesichtspunkte der Dienstleistungsfreiheit sind in einem solchen Zusammenhang die unvermeidliche Folge der steuerlichen Behandlung der betreffenden Zinserträge (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C-233/09, EU:C:2010:397, Rn. 34 und 35).

23        Weiter ist festzustellen, dass sich aus der ständigen Rechtsprechung ergibt, dass zu den Maßnahmen, die durch Art. 56 Abs. 1 EG als Beschränkungen des Kapitalverkehrs verboten sind, solche gehören, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Mitgliedstaaten abzuhalten (Urteile vom 25. Januar 2007, Festersen, C-370/05, EU:C:2007:59, Rn. 24, und vom 18. Dezember 2007, A, C-101/05, EU:C:2007:804, Rn. 40).

24        Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass Zinserträge, die aus in Portugal begebenen Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, in Portugal gezahlt werden und von einer in Portugal ansässigen natürlichen Person erzielt werden, nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung einer Abgeltungsteuer von 20 % unterliegen.

25        Stammen diese Zinserträge hingegen aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat begeben wurden, werden sie zu den übrigen Einkünften dieser Person gerechnet und unterliegen einem progressiven Steuersatz von bis zu 40 %, es sei denn, sie werden von einer in Portugal niedergelassenen Mittelsperson gezahlt; in diesem Fall können sie ebenfalls in den Genuss der Abgeltungsteuer von 20 % kommen.

26        Darüber hinaus können die betreffenden Zinserträge nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen nicht in den Genuss der Abgeltungsteuer von 20 % kommen, wenn sie aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von einer Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats oder eines Drittstaats begeben wurden, und wenn sie von einer ebenfalls gebietsfremden Mittelsperson gezahlt werden.

27        Aus den Ausführungen in den Rn. 24 bis 26 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die in einem anderen Staat als der Portugiesischen Republik begeben wurden, gegenüber Zinserträgen aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die in diesem Mitgliedstaat begeben wurden, benachteiligt werden.

28        Diese nationale Regelung führt somit eine Ungleichbehandlung nach dem Ort der Investition des Kapitals ein, die dazu führt, dass ein in Portugal ansässiger Steuerpflichtiger davon abgehalten wird, sein Kapital in einem anderen Staat zu investieren, und ein Hindernis bei der Beschaffung von Kapital in Portugal besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C-233/09, EU:C:2010:397, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29        Soweit die portugiesische Regierung geltend macht, dass ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger in der Situation von FL nach Art. 101 Abs. 2 Buchst. b CIRS die Möglichkeit gehabt habe, dadurch in den Genuss der Abgeltungsteuer von 20 % auf Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln, die von einer gebietsfremden Einrichtung gezahlt werden, zu kommen, dass er sie beauftrage, einen Abzug an der Quelle dieser Zinserträge vorzunehmen, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht diese Möglichkeit nicht erwähnt. Zum anderen hätte auch eine solche Möglichkeit keine Auswirkung auf die in der vorhergehenden Randnummer des vorliegenden Urteils getroffene Feststellung, da dieses Formerfordernis nur Zinserträge betrifft, die aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, von gebietsfremden Einrichtungen begeben wurden und von solchen Einrichtungen gezahlt werden, nicht aber solche, die aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von in Portugal ansässigen Einrichtungen begeben wurden oder von solchen Einrichtungen gezahlt werden.

30        Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende stellt demzufolge eine nach Art. 56 Abs. 1 EG grundsätzlich verbotene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.

31        Die portugiesische Regierung weist in diesem Zusammenhang auch auf die Stillhalteklausel in Art. 57 Abs. 1 EG hin, die vom vorlegenden Gericht ebenfalls nicht erwähnt wird. Sie bringt jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die materiellen und temporalen Kriterien, die in dieser Bestimmung festgelegt sind und für deren Anwendung kumulativ erfüllt sein müssen, beachtet sind. Es ist daher Sache dieses Gerichts, unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu prüfen, ob diese Kriterien bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung kumulativ erfüllt sind oder nicht (vgl. u. a. Urteile vom 10. April 2014, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, C-190/12, EU:C:2014:249, Rn. 53, und vom 13. November 2019, College Pension Plan of British Columbia, C-641/17, EU:C:2019:960, Rn. 91 bis 94, 100, 101, 104 und 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32        Da sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht ergibt, dass die durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung bewirkte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs gemäß Art. 57 Abs. 1 EG nicht unter Art. 56 Abs. 1 EG fällt, ist zu prüfen, inwieweit diese Beschränkung im Hinblick auf die Bestimmungen des EG-Vertrags gerechtfertigt sein kann.

33        Insoweit sieht Art. 58 Abs. 1 Buchst. a EG vor, dass „Artikel 56 … nicht das Recht der Mitgliedstaaten [berührt], … die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln“.

34        Diese Bestimmung in Art. 58 EG ist, da sie eine Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs darstellt, eng auszulegen. Sie kann somit nicht dahin verstanden werden, dass jede Steuerregelung, die zwischen Steuerpflichtigen nach ihrem Wohnort oder nach dem Mitgliedstaat ihrer Kapitalanlage unterscheidet, ohne Weiteres mit dem Vertrag vereinbar wäre (Urteil vom 17. Oktober 2013, Welte, C-181/12, EU:C:2013:662, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35        Die in Art. 58 Abs. 1 Buchst. a AEUV vorgesehene Ausnahme wird nämlich ihrerseits durch Abs. 3 dieses Artikels eingeschränkt, wonach die in Abs. 1 genannten nationalen Vorschriften „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs im Sinne des Artikels 56 [EG] darstellen [dürfen]“ (Urteil vom 17. Oktober 2013, Welte, C-181/12, EU:C:2013:662, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36        Deshalb ist zwischen den nach Art. 58 Abs. 1 Buchst. a EG erlaubten Ungleichbehandlungen und den nach Abs. 3 dieses Artikels verbotenen willkürlichen Diskriminierungen zu unterscheiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine nationale Steuerregelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende aber nur dann als mit den Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Kapitalverkehr vereinbar angesehen werden, wenn die von ihr vorgesehene Ungleichbehandlung Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Oktober 2013, Welte, C-181/12, EU:C:2013:662, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. März 2022, AllianzGI-Fonds AEVN, C-545/19, EU:C:2022:193, Rn. 42).

37        Was im vorliegenden Fall die objektive Vergleichbarkeit der Situationen betrifft, unterliegt im Rahmen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung ein in Portugal ansässiger Steuerpflichtiger, der Zinserträge aus in einem anderen Staat getätigten Investitionen wie Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln erzielt, in seinem Ansässigkeitsmitgliedstaat ebenso einer Steuer auf diese Zinserträge wie ein in Portugal ansässiger Steuerpflichtiger, der Einkünfte aus Investitionen gleicher Art erzielt, die er in dem letztgenannten Mitgliedstaat getätigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C-233/09, EU:C:2010:397, Rn. 45).

38        In diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass diese Zinserträge unterschiedlichen Steuersätzen unterliegen, je nachdem, ob sie in ihrem Ansässigkeitsmitgliedstaat oder in einem anderen Staat generiert oder gezahlt werden, nicht der Ausdruck des Unterschieds zwischen den Situationen der Steuerpflichtigen, die von dieser Steuer betroffen sind; vielmehr ist er Ursache der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ungleichbehandlung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C-233/09, EU:C:2010:397, Rn. 46).

39        Die Ungleichbehandlung, die durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung eingeführt wurde, betrifft somit objektiv vergleichbare Situationen.

40        Was die Frage angeht, ob diese Ungleichbehandlung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann, genügt die Feststellung, dass weder das vorlegende Gericht noch die portugiesische Regierung geltend machen, dass es solche zwingenden Gründe des Allgemeininteresses gäbe.

41        Nach alledem ist auf den ersten Teil der Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 56 EG dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Zinserträge von Steuerpflichtigen dieses Mitgliedstaats einem progressiven Steuersatz von bis zu 40 % unterliegen, wenn die Zinserträge aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von einer Einrichtung eines anderen Mitgliedstaats oder eines Drittstaats wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft begeben wurden und von einer solchen Einrichtung gezahlt werden, wohingegen auf die betreffenden Zinserträge eine niedrigere Abgeltungsteuer von 20 % erhoben wird, wenn sie aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen, die von einer Einrichtung ihres Ansässigkeitsmitgliedstaats begeben wurden und von einer solchen Einrichtung gezahlt werden.

Zum Abkommen

42        Nach Art. 2 Abs. 4 des Abkommens werden, wenn der Nutzungsberechtigte für das Verfahren der freiwilligen Offenlegung optiert oder seine Zinserträge von einer schweizerischen Zahlstelle auf andere Weise den Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem er ansässig ist, meldet, die betreffenden Zinserträge in diesem Mitgliedstaat zu demselben Satz besteuert wie vergleichbare Erträge, die aus diesem Mitgliedstaat stammen.

43        Hierzu ist in Übereinstimmung mit der Kommission festzustellen, dass mehrere Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit diese Bestimmung auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation anwendbar ist.

44        Zunächst betrifft das Abkommen, da es am 1. Juli 2005 in Kraft getreten ist, nur Zinserträge, die ab diesem Zeitpunkt gezahlt werden.

45        Ferner dürfen die betreffenden Zahlungen, wie sich aus Art. 1 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und 4 des Abkommens ergibt, nicht Zinserträge aus Forderungen betreffen, „die von in der Schweiz ansässigen Schuldnern begeben wurden oder sich auf Betriebsstätten in der Schweiz nicht ansässiger Personen beziehen“.

46        In einem solchen Fall sind diese Zinserträge nach Art. 1 Abs. 2 des Abkommens davon ausgenommen, dass gemäß Art. 1 Abs. 1 des Abkommens „vorbehaltlich des Absatzes 2 und des Artikels 2“ des Abkommens ein Betrag von der Zinszahlung einbehalten wird. Aus Art. 2 Abs. 1 und 4 des Abkommens ergibt sich, dass der Nutzungsberechtigte für das Verfahren der freiwilligen Offenlegung optiert haben muss, das die Schweizerische Eidgenossenschaft vorsehen muss, um den in Art. 1 des Abkommens vorgesehenen Steuerrückbehalt zu vermeiden, oder dass er seine Zinserträge den Steuerbehörden des Staats, in dem er ansässig ist, gemeldet haben muss.

47        Schließlich geht aus Art. 2 Abs. 4 des Abkommens hervor, dass der Nutzungsberechtigte der betreffenden Zinserträge selbst für dieses Verfahren der freiwilligen Offenlegung optiert oder auf andere Weise den Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem er ansässig ist, eine Meldung gemacht haben muss.

48        Da sich anhand der Angaben im Vorabentscheidungsersuchen im vorliegenden Fall nicht feststellen lässt, dass alle für die Anwendbarkeit von Art. 2 Abs. 4 des Abkommens erforderlichen Voraussetzungen in Bezug auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation erfüllt sind, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die insoweit erforderlichen Prüfungen vorzunehmen.

49        Nach alledem ist auf den zweiten Teil der Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 des Abkommens dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Zinserträge, die ab dem 1. Juli 2005 von Steuerpflichtigen dieses Mitgliedstaats erzielt werden, die für das Verfahren der freiwilligen Offenlegung optiert oder diese Zinserträge auf andere Weise den Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem sie ansässig sind, gemeldet haben, soweit sie nicht nach Art. 1 Abs. 2 des Abkommens vom Steuerrückbehalt ausgeschlossen sind, einem progressiven Steuersatz von bis zu 40 % unterliegen, wenn sie aus Schuldverschreibungen und Schuldtiteln stammen und von einer Schweizer Zahlstelle gezahlt werden, wohingegen eine niedrigere Abgeltungsteuer von 20 % auf solche Zinserträge erhoben wird, wenn sie von einer gebietsansässigen Zahlstelle gezahlt werden.

Kosten

50        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

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