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Steuerrecht
24.09.2020
Steuerrecht
FG Köln: Erstattungsansprüche aus der Einkommensteuerveranlagung bei Aufrechnungslage nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens

FG Köln, Urteil vom 11.12.2019 – 14 K 1702/19

ECLI:ECLI:DE:FGK:2019:1211.14K1702.19.00

Volltext des Urteils://BB-ONLINE BBL2020-2209-1

Nicht Amtliche Leitsätze

1. Die Aufrechnung mit einem Erstattungsanspruch durch das Finanzamt setzt nicht voraus, das dieser förmlich festgestellt ist, noch muss er sich aus einer rechtswirksamen Festsetzung der Steuer ergeben, aus deren Überzahlung er resultiert.

2. Entfällt der Erstattungsanspruch zur Einkommensteuer, gegen den das Finanzamt aufrechnet auf Lohnsteuer, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden und abgeführt wurde, liegt ein Erstattungsanspruch unter der aufschiebenden Bedingung der geringeren Jahressteuerschuld als die Summe der Lohnsteuerzahlungen die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, vor. Auf den Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheides kommt es ebenso wenig an wie auf den Zeitpunkt der Entstehung der Jahressteuer.

3. Die Rechtshandlung i.S.d. § 129 Abs. 1 InsO ist die dem Erstattungsanspruch zugrunde liegende Auszahlung des Lohns unter Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer.

4. Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbrachte Lohnsteuerzahlungen entfalten dann gläubigerbenachteiligende Wirkung, wenn der Gläubiger durch die daraus folgenden Erstattungsansprüche die Möglichkeit erhielt, gegen seine vorinsolvenzlich begründeten Forderungen aufzurechnen.

AO § 226 Abs. 1, § 218 Abs. 2; BGB § 387, § 388, § 389; InsO § 94, § 96

Sachverhalt

Der Kläger wurde mit Beschluss des Amtsgerichts L vom … – 01 IK 01/17 über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Frau M (nachfolgend: Schuldnerin) zum Insolvenzverwalter bestellt. Zugrunde lag der Eigenantrag der Schuldnerin vom 15.07.2017.

Die Schuldnerin, die bei der Q beschäftigt ist, wurde vom Beklagten für die Jahre 2010, 2011 und 2012 sowie 2015, 2016 und 2017 zur Einkommensteuer veranlagt.

Für die Veranlagungszeiträume 2010, 2011 und 2012 ergaben sich nach Abschluss einer Außenprüfung für die nebenberufliche Tätigkeit der Schuldnerin als selbständige Baufinanzierungsbetreuerin Nachzahlungsbeträge. Die entsprechenden Steuerbescheide ergingen am 04.05.2015. Die Nachzahlungsbeträge sind unstreitig und wurden von der Schuldnerin nicht gezahlt. Gehaltspfändungen beim Arbeitgeber der Schuldnerin führten nach Angaben des Klägers in dessen Schreiben vom 21.09. und 11.10.2017 zu einer Tilgung der Rückstände um 3.396,03 EUR bzw. 11.073,97 EUR.

Mit Bescheiden vom 22.05.2017 wurde die Schuldnerin für die Jahre 2015 und 2016 zur Einkommensteuer veranlagt. Es ergaben sich Erstattungsbeträge von insgesamt 2.127,84 EUR für 2015 bzw. 3.900,78 EUR für 2016. Die Erstattungsbeträge rechnete der Beklagte mit den Rückständen aus der Einkommensteuer 2010, 2011 und 2012 auf.

Mit weiterem Bescheid vom 30.07.2018, der dem Kläger bekanntgegeben wurde, wurde die Schuldnerin für das Jahr 2017 zur Einkommensteuer veranlagt. Den sich hieraus ergebenden Erstattungsbetrag von insgesamt 2.826,15 EUR, der auf den Steuerabzug vom Lohn zurückzuführen war, hat der Beklagte zeitanteilig aufgeteilt. Den auf den Zeitraum nach Insolvenzeröffnung entfallenden Betrag von 1.296,84 EUR hat der Beklagte an den Kläger ausgekehrt. Den auf den Zeitraum vor Insolvenzeröffnung entfallenden Betrag von 1.556,31 EUR hat der Beklagte mit den Rückständen der Schuldnerin aus der Einkommensteuer 2012 aufgerechnet.

Aufgrund der Einwendungen gegen die Aufrechnungen hat der Beklagte gegenüber dem Kläger am 31.01.2019 die streitgegenständlichen Abrechnungsbescheide über Einkommensteuer 2010, 2011 und 2012 erlassen, mit denen er die Erstattungsansprüche der Schuldnerin als durch Aufrechnung getilgt feststellte. Die Einspruchsverfahren waren erfolglos. Wegen Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidungen vom 05.06.2019 Bezug genommen.

Mit der vorliegenden Klage vom 05.07.2019 macht der Kläger geltend, dass die Aufrechnungen unzulässig seien. Die Abrechnungsbescheide seien aufzuheben und die Guthaben aus den Jahren 2015, 2016 und 2017 an ihn auszukehren. Die dadurch wieder auflebenden und dem Grunde nach unstreitigen Steuer- und Zinsforderungen aus den Jahren 2010, 2011 und 2012 seien als Insolvenzforderungen zur Insolvenztabelle anzumelden. Der Kläger begründet seine Auffassung im Wesentlichen damit, dass die gegenseitigen Forderungen nach der bürgerlich-rechtlichen Regelung des § 389 BGB - unabhängig von der Fälligkeit der Hauptforderung - zwar bereits in demjenigen Zeitpunkt als erloschen gälten, in welchem sie sich erstmalig aufrechenbar gegenübergestanden hätten. Nach den steuerrechtlichen Regelungen gehe die Rückwirkung der Aufrechnung jedoch nicht über den Zeitpunkt der Fälligkeit des aufgerechneten Erstattungsanspruchs hinaus. Dieses steuerrechtliche Verständnis, wonach eine Aufrechnung der Finanzbehörde gegen Erstattungsansprüche des Steuerschuldners ihre Rechtswirkungen erst mit Fälligwerden der Erstattungsansprüche entfalte, habe in § 238 Abs. 1 Satz 3 der Abgabenordnung (AO) und § 240 Abs. 1 Satz 5 AO Eingang in das Gesetz gefunden und gehe den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften der §§ 387 ff. BGB gemäß § 226 Abs. 1 letzter Halbsatz AO nach dem Willen des Steuergesetzgebers ausdrücklich vor. Für den Streitfall bedeute dies, dass die Aufrechnungen des Beklagten ihre Wirkungen nicht bereits im Zeitpunkt des Entstehens der jeweiligen Erstattungsansprüche - also mit Ablauf der Veranlagungszeiträume 2015, 2016 und 2017 - hätten entfalten können, sondern nur und erst nach Festsetzung der jeweiligen Erstattungsansprüche durch den Beklagten mit Bescheiden vom 22.05.2017 bzw. 30.07.2018, da die Erstattungsansprüche gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erst mit Bekanntgabe des maßgeblichen Steuerbescheids fällig geworden seien.

Neben den steuerrechtlichen Besonderheiten seien im Streitfall aufgrund des am 21.07.2017 eröffneten Insolvenzverfahrens insbesondere die Vorschriften der §§ 94 bis 96 der Insolvenzordnung (InsO) über die Aufrechnung im Insolvenzverfahren zu beachten. Die im Hinblick auf die Erstattungsansprüche für 2015, 2016 und 2017 erklärten Aufrechnungen seien nach §§ 94 ff. InsO unzulässig. Gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO sei eine Aufrechnung unzulässig, soweit ein Insolvenzgläubiger erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden sei. Ausgehend vom Wortlaut des § 95 InsO sei "schuldig geworden" so zu verstehen, dass es auf die Fälligkeit der Hauptforderung ankomme. Da der Erstattungsanspruch 2017 gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 EStG mit Bekanntgabe des maßgeblichen Steuerbescheids vom 30.07.2018, mithin erst lange nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig geworden sei und der Beklagte folglich erst lange nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden sei, seien die insoweit erklärten Aufrechnungen gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO unzulässig. Die im Hinblick auf die Erstattungsansprüche 2015 und 2016 erklärten Aufrechnungen seien nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig. Danach sei eine Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt habe. Gemäß § 130 InsO sei eine Rechtshandlung unter anderem dann anfechtbar, wenn sie einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat und in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sei, sofern der Insolvenzschuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig gewesen sei und der Insolvenzgläubiger zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit gekannt habe. Im Streitfall sei der Erlass der Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 durch den Beklagten ohne weiteres unter den Begriff "Rechtshandlung" zu subsumieren. Im Hinblick auf den Wortlaut des § 95 InsO und unter Berücksichtigung der steuerrechtlichen Besonderheiten liege auch die gläubigerbenachteiligende Wirkung dieses Handelns auf der Hand, da erst der Erlass der Bescheide das Fälligwerden der Erstattungsansprüche herbeigeführt habe und damit die davor mangels Fälligkeit der Hauptforderung nicht bestehende Aufrechnungsmöglichkeit des Beklagten begründet habe. Die weiteren Voraussetzungen des § 130 InsO seien ohne weiteres erfüllt. Der Erlass der Bescheide sei nur rund sieben Wochen - und damit deutlich weniger als drei Monate - vor dem am 15.07.2017 gestellten Antrag auf Insolvenzeröffnung erfolgt. Zum anderen belegten die nicht unerheblichen Zahlungsrückstände der Insolvenzschuldnerin im Hinblick aus den Jahren 2010, 2011 und 2012 nicht nur deren Zahlungsunfähigkeit, sondern auch dass die Zahlungsunfähigkeit dem Beklagten bei Erlass der Bescheide für 2015 und 2016 am 22.05.2017 bekannt gewesen sei.

In der mündlichen Verhandlung am 11.12.2019 hat der Beklagte den Abrechnungsbescheid für 2012 vom 31.01.2019 und die Einspruchsentscheidung dahingehend geändert, dass an die Stelle des bereits erwähnten Betrags von 1.556,31 EUR der - auf bis zur Insolvenzeröffnung entstandene und abgeführte Lohnsteuern entfallende - Betrag von 1.407,67 EUR tritt. Wegen Einzelheiten wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 11.12.2019 Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

die Abrechnungsbescheide vom 31.01.2019 - für 2012 in Gestalt des Bescheides vom 11.12.2019 - und die hierzu jeweils ergangene Einspruchsentscheidung vom 05.06.2019 aufzuheben und die Guthaben von insgesamt 2.127,84 EUR (2015), insgesamt 3.900,78 EUR (2016) und insgesamt 1.407,67 EUR (2017) an ihn zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist auf das Urteil des Finanzgerichts (FG) Brandenburg vom 13.01.2017 (12 K 6165/05 B) und trägt ergänzend vor, für die Frage, ob § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO der Aufrechnung durch den Insolvenzverwalter entgegenstehe, komme es darauf an, ob die Hauptforderung ihrem Kern bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sei. Dies richte sich nach ständiger Rechtsprechung nicht danach, ob der Anspruch im steuerrechtlichen Sinne entstanden gewesen sei, sondern danach, ob im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung der Rechtsgrund für den Anspruch im insolvenzrechtlichen Sinne gelegt gewesen sei. Der Anspruch auf eine Steuer sei im insolvenzrechtlichen Sinne dann vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand, der zur Entstehung der Steuer führe, bereits vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen sei. Dies gelte auch für Steuererstattungsansprüche. Steuererstattungsansprüche aufgrund von Vorauszahlungen entstünden im Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer unter der aufschiebenden Bedingung, dass am Ende des Besteuerungszeitraums die geschuldete Steuer geringer sei als die Vorauszahlung. Maßgeblicher Lebenssachverhalt sei die Festsetzung der Vorauszahlung. Auf die Festsetzung des Erstattungsanspruchs komme es nicht an. Dementsprechend habe der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass Steuererstattungsansprüche aus überzahlter Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer des Jahres 1999, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Schuldnerin im Mai 2000 noch nicht festgesetzt und daher noch nicht entstanden gewesen seien, vor Verfahrenseröffnung dadurch begründet gewesen seien, dass im Jahr 1999 die Lebenssachverhalte verwirklicht worden seien, aufgrund derer die Schuldnerin die Erstattungsansprüche erworben habe.

Aus den Gründen

Die Klage ist unbegründet.

Die angefochtenen Abrechnungsbescheide vom 31.01.2019 sind, soweit sie die Einkommensteuererstattungsansprüche 2015, 2016 und 2017 durch Aufrechnung mit Einkommensteuerschulden 2010, 2011 und 2012 als erloschen ausweisen, rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.

 

I. Die in § 387 BGB genannten allgemeinen Voraussetzungen einer Aufrechnung, die nach § 226 Abs. 1 AO im Steuerschuldverhältnis sinngemäß anzuwenden ist, lagen vor.

 

1. Nach § 387 BGB kann der Schuldner seine Forderung gegen die Forderung des anderen Teiles aufrechnen, sobald er die ihm gebührende Leistung fordern und die ihm obliegende Leistung bewirken kann, sofern die gegenseitigen Forderungen auf Leistungen gerichtet sind, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind. Die Aufrechnung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis setzt daher voraus, dass die Forderung des Aufrechnenden, mit der aufgerechnet werden soll (sog. Gegenforderung), entstanden und fällig ist. Die Aufrechnung setzt ferner voraus, dass die Forderung des Aufrechnungsgegners, gegen die aufgerechnet werden soll (sog. Hauptforderung), entstanden und erfüllbar ist. Die Hauptforderung muss aber noch nicht fällig sein (vgl. BFH-Urteile vom 08.06.2010 VII R 39/09, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2010, 839; vom 13.01.2000 VII R 91/98, BStBl II 2000, 246 [BB 2000, 914] unter Hinweis auf Bundesgerichtshof - BGH- Urteil vom 16.06.1993 XII ZR 6/92, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 2105). Liegen diese Voraussetzungen vor, bewirkt die Aufrechnung nach § 389 BGB, dass die aufgerechneten Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind (Aufrechnungslage). Für den Fall, dass das Finanzamt die Aufrechnung einer Steuerforderung gegen eine Erstattungsforderung des Steuerschuldners erklärt, ergibt sich also aus § 389 BGB, dass die fällige Steuerforderung des Finanzamts als in dem Zeitpunkt erloschen gilt, in welchem das Finanzamt die ihm obliegende Steuererstattung im Sinne des § 387 BGB bewirken konnte, weil der diesbezügliche Anspruch des Steuerschuldners existent und erfüllbar gewesen ist (vgl. BFH-Urteil vom 13.01.2000 VII R 91/98, BStBl II 2000, 246 [BB 2000, 914]; BFH-Beschluss vom 04.07.2006 VII B 300/04, BFH/NV 2005, 1753).

 

a) Ein steuerlicher Anspruch ist im Sinne des § 387 BGB existent, wenn er im Sinne des § 38 AO entstanden ist, sobald also der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Dies gilt auch für einen Steuererstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO (vgl. BFH-Urteile vom 10.05.2007 VII R 18/05, BStBl II 2007, 914 [BB 2007, 1774 Ls]; vom 03.05.1991 V R 105/86, BFH/NV 1992, 77). Das Entstehen eines Steuererstattungsanspruchs ist unabhängig von einer Festsetzung in einem Erstattungsbescheid oder von einer Anrechnungsverfügung, in der nach Festsetzung der Jahressteuer wegen diese übersteigender Vorauszahlungen ein Erstattungsbetrag ausgewiesen ist (vgl. BFH-Urteil vom 13.01.2000 VII R 91/98, BStBl II 2000, 246 [BB 2000, 914]). Ein Erstattungsanspruch, gegen den das Finanzamt aufrechnet, muss daher weder förmlich festgestellt sein noch muss er sich aus einer rechtswirksamen Festsetzung der Steuer ergeben, aus deren Überzahlung er resultiert.

 

b) Entgegen der Auffassung des Klägers stehen §§ 240 Abs. 1 Satz, 238 Abs. 1 Satz 3 AO dem nicht entgegen. Soweit § 240 Abs. 1 Satz 5 AO abweichend hiervon bestimmt, dass von der Aufrechnung die Säumniszuschläge unberührt bleiben, die bis zur Fälligkeit der Schuld des Aufrechnenden entstanden sind, so dass die Rückwirkung der Aufrechnung in Bezug auf Säumniszuschläge in Abweichung von § 389 BGB nicht über den Zeitpunkt der Fälligkeit eines aufrechenbaren Erstattungsanspruchs des Steuerpflichtigen hinausreicht, soll dadurch - ebenso wie durch § 238 Abs. 1 Satz 3 AO - eine Besserstellung säumiger Steuerpflichtiger gegenüber pünktlichen Steuerzahlern vermieden werden (Bundestags-Drucks. 14/1514, 48).

 

2. Im Streitfall waren die Voraussetzungen des § 387 BGB im Zeitpunkt der jeweiligen Aufrechnungserklärung am 22.05.2017 bzw. 30.07.2018 gegeben. Sowohl der Hauptanspruch als auch der Gegenanspruch bestanden zwischen der Schuldnerin und dem Beklagten, so dass Gegenseitigkeit gegeben war. Die Gleichartigkeit war ebenfalls gegeben, da es sich jeweils um Geldansprüche handelt. Die Forderungen des Beklagten (sog. Gegenforderungen) waren im Zeitpunkt der jeweiligen Aufrechnungserklärung seit langem entstanden und fällig. Es handelte sich dabei um die Einkommensteuerforderungen 2010, 2011 und 2012 aus den Bescheiden vom 04.05.2015. Die Forderungen des Aufrechnungsgegners - der Schuldnerin - aus den Einkommensteuerbescheiden 2015, 2016 und 2017 (sog. Hauptforderungen) waren im Zeitpunkt der jeweiligen Aufrechnungserklärung entstanden und auch erfüllbar. Die Einkommensteuer entsteht gemäß § 36 Abs. 1 EStG grundsätzlich mit Ablauf des Veranlagungszeitraums. Im Streitfall war die Steuer also mit Ablauf des jeweiligen Jahres 2015, 2016 bzw. 2017 entstanden. Die Einkommensteuererstattungsansprüche 2015, 2016 und 2017 waren bereits vor Festsetzung der Steuern durch den Beklagten erfüllbar, denn gemäß § 271 Abs. 2 BGB ist der Schuldner berechtigt, die ihm obliegende Leistung vor Fälligkeit zu erfüllen. Auf die Festsetzung der Steuer durch einen Steuerbescheid kommt es für die Erfüllbarkeit nicht an (vgl. BFH-Urteil vom 06.02.1990 VII R 86/88, BStBl II 1990, 523 [BB 1990, 1404]).

 

II. Der Wirksamkeit der Aufrechnungen stehen die Vorschriften der Insolvenzordnung nicht entgegen.

 

1. Soweit der Beklagte gegen die Einkommensteuererstattungsansprüche 2015 und 2016 aufgerechnet hat, stand der Aufrechnung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht entgegen.

Nach § 94 InsO wird eine vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehende Aufrechnungslage und ein darauf beruhendes Aufrechnungsrecht durch das Verfahren nicht berührt. So verhält es sich im Streitfall. Die gegenseitigen Forderungen haben sich bereits vor Verfahrenseröffnung am 21.07.2017 in der nach § 226 AO i.V.m. § 387 BGB vorausgesetzten Weise aufrechenbar gegenübergestanden. Die Forderungen des Beklagten aus den Einkommensteuerbescheiden 2010, 2011 und 2012 jeweils vom 04.05.2015 (sog. Gegenforderungen) waren seit langem fällig. Die sich aus den Bescheiden vom 22.05.2017 ergebenden Einkommensteuererstattungsansprüche 2015 und 2016 (sog. Hauptforderungen) waren - wie unter I.2. dargelegt - bereits mit Ablauf des jeweiligen Jahres 2015 bzw. 2016 und damit vor Verfahrenseröffnung entstanden und erfüllbar; die Forderungen der Schuldnerin waren im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sogar schon fällig.

 

2. Soweit der Beklagte gegen den Einkommensteuererstattungsanspruch 2017 aufgerechnet hat, stand die Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Aufrechnung ebenfalls nicht entgegen, da der aufgerechnete Betrag nach Erlass des Änderungsbescheides vom 11.12.2019 nur noch auf Lohnsteuern entfiel, die vor Verfahrenseröffnung entstanden waren.

 

a) Zwar bestand zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 94 InsO kein Recht des Beklagten zur Aufrechnung gegen den Erstattungsanspruch 2017, da sich die Forderungen des Beklagten und der Erstattungsanspruch der Schuldnerin bzw. des Klägers noch nicht in der nach § 226 AO i.V.m. § 387 BGB vorausgesetzten Weise aufrechenbar gegenüber gestanden haben. Denn der Erstattungsanspruch war nach § 36 Abs. 1 EStG erst mit Ablauf des Jahres 2017 und damit nach Verfahrenseröffnung am 21.07.2017 entstanden.

 

b) Über § 94 InsO hinaus gestattet § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO jedoch auch dann eine Aufrechnung, wenn die Aufrechnungslage erst im Insolvenzverfahren eintritt. Voraussetzung dafür ist, dass zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die aufzurechnenden Forderungen oder eine von ihnen noch aufschiebend bedingt oder nicht fällig sind, sofern nicht (Satz 3 der Vorschrift) die Hauptforderung, gegen die aufgerechnet werden soll, unbedingt und fällig wird, bevor die Aufrechnung erfolgen kann (vgl. BFH-Urteile vom 23.02.2011 I R 20/10, BStBl II 2011, 822 [BB 2011, 1701 m. BB-Komm. von Craushaar/Holdt]; vom 17.04.2007 VII R 27/06, BStBl II 2009, 589 [BB 2007, 2611]).

 

aa) Die einschränkenden Voraussetzungen des Satzes 3 der Vorschrift liegen im Streitfall nicht vor, da die Forderungen des Beklagten aus der Einkommensteuer 2010, 2011, 2012 (sog. Gegenforderungen) früher als der Erstattungsanspruch der Schuldnerin bzw. des Klägers aus der Einkommensteuer 2017 (sog. Hauptforderung) fällig geworden sind.

 

bb) Da der Erstattungsanspruch 2017, gegen den der Beklagte aufgerechnet hat, auf Lohnsteuern entfiel, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden (und abgeführt) worden waren, war der Erstattungsanspruch aufschiebend bedingt vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden.

 

(a) Der BFH hat wiederholt entschieden, dass der Steuerpflichtige für auf Vorauszahlungen beruhenden Steuererstattungsansprüchen - wie im Streitfall die Lohnsteuerzahlungen als Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer - bereits mit deren Entrichtung einen Erstattungsanspruch erlangt, der allerdings unter der aufschiebenden Bedingung steht, dass am Ende des Besteuerungszeitraums die geschuldete Steuer geringer ist als die Vorauszahlung (vgl. BFH-Urteile vom 24.02.2015 VII R 27/14, BStBl II 2015, 993 Rz. 17; vom 23.02.2011 I R 20/10, BStBl II 2011, 822 Rz. 13 [BB 2011, 1701 m. BB-Komm. von Craushaar/Holdt]; vom 17.04.2007 VII R 27/06, BStBl II 2009, 589 Rz. 13 [BB 2007, 2611]; vom 16.11.2004 VII R 75/03, BStBl II 2006, 193 Rz. 15; vom 29.01.1991 VII R 45/90, BFH/NV 1991, 791 Rz. 15; BFH-Beschluss vom 26.11.2013 VII B 243/12, BFH/NV 2014, 581 Rz. 17; vom 07.11.2006▀[[richtig wohl 07.06.2006]] VII B 329/05, BStBl II 2006, 641 Rz. 6; BGH-Beschluss vom 12.01.2006 IX ZB 239/04, juris, Rz. 17 für einen Fall des Lohnsteuerabzugs).

 

(b) Nach diesen Grundsätzen war der auf die Lohnsteuern für die Monate bis Juni entfallende Erstattungsanspruch 2017, gegen den der Beklagte aufgerechnet hat, bereits vor Verfahrenseröffnung aufschiebend bedingt (durch den Erlass des Einkommensteuerbescheides 2017) im insolvenzrechtlichen Sinne entstanden, so dass zugunsten des Beklagten § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO eingreift. Denn die Lohnsteuer entsteht in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt (§ 38 Abs. 2 Satz 2 EStG) und ist am 10. Tag nach Ablauf des Lohnsteueranmeldungszeitraums an das Finanzamt zu zahlen (§ 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Mit der Entstehung und Abführung der Lohnsteuer entstand für die Schuldnerin ein Erstattungsanspruch unter der aufschiebenden Bedingung, dass die geschuldete Jahressteuer geringer ist als die Summe der geleisteten Lohnsteuerzahlungen. Der Anspruch auf Erstattung von Lohnsteuerzahlungen, die - wie hier für die Monate bis Juni - vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden und abgeführt wurden (zur Abführung der Lohnsteuer siehe § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG), war vor Verfahrenseröffnung begründet, so dass der Beklagte gegen ihn aufrechnen konnte, auch wenn die Steuer, auf die vorauszuleisten war, in steuerrechtlicher Hinsicht erst mit Ablauf des Jahres 2017, also nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist (vgl. BFH-Beschluss vom 30.04.2007 VII B 252/06, BStBl II 2009, 624 Rz. 5 [BB 2007, 1435 Ls]).

 

cc) Entgegen der Auffassung des Klägers ist ohne Bedeutung, dass der Erstattungsanspruch im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht fällig war, da der Einkommensteuerbescheid 2017 noch nicht vorlag (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 2 EStG). Auf den Zeitpunkt des Erlasses eines Steuerbescheides kommt es nicht an. Das insolvenzrechtliche Entstehen eines Erstattungsanspruches ist unabhängig von einer Steuerfestsetzung und der Anspruch daher auch vor einer solchen Festsetzung erfüllbar. Der Erstattungsanspruch für die ungerechtfertigt gezahlten Lohnsteuern war dadurch begründet, dass vor Verfahrenseröffnung die Lebenssachverhalte verwirklicht worden waren, aufgrund derer die Schuldnerin den betreffenden Erstattungsanspruch erworben hat (vgl. BFH-Urteil vom 31.05.2005 VII R 71/04, juris, Rz. 10). Bereits die tatsächliche Verwirklichung des Besteuerungstatbestands lässt den Anspruch aufschiebend bedingt durch das Eintreten der steuerverfahrensrechtlichen Voraussetzungen seiner Wirksamkeit entstehen (vgl. BFH-Urteil vom 02.11.2010 VII R 6/10 BStBl II 2011, 374 Rz. 32). Im Übrigen war der Erstattungsanspruch für die ungerechtfertigt gezahlten Lohnsteuern auch in steuerrechtlicher Hinsicht nicht erst mit der entsprechenden Steuerfestsetzung entstanden. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entstehen nicht erst gemäß § 218 Abs. 1 AO durch Bescheide oder andere Verwaltungsakte, sondern werden durch diese nur verwirklicht. Die Steuerbescheide sind lediglich Grundlage für die Erfüllung des entstandenen und dann festgesetzten Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Erhebungsverfahren (Loose in Tipke/Kruse, Kommentar zur AO/FGO, § 218 AO Rz. 2).

 

3. Entgegen der Auffassung des Klägers steht der Aufrechnung gegen den Einkommensteuererstattungsanspruch 2017 das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nicht entgegen.

 

a) Der Beklagte ist den streitgegenständlichen Erstattungsanspruch nicht erst im Sinne des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nach Verfahrenseröffnung „schuldig geworden“. Zwar ist der Beklagte den Erstattungsanspruch steuerverfahrensrechtlich erst mit Erlass des Bescheides vom 30.07.2018 und damit nach Verfahrenseröffnung "schuldig geworden“. Der diesbezügliche Anspruch der Schuldnerin bzw. des Klägers ist jedoch vor Verfahrenseröffnung insolvenzrechtlich begründet gewesen. Denn der aufgerechnete Betrag entfiel auf Lohnsteuerbeträge, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden waren, so dass der Anspruch bereits vor Verfahrenseröffnung aufschiebend bedingt im Sinne von § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO bestanden hat. Das Aufrechnungsverbot § 96 erfasst daher nicht - wie der BFH wiederholt entschieden hat - bereits durch § 95 Abs. 1 Nr. 1 geschützte Ansprüche (vgl. BFH-Urteile vom 25.07.2012 VII R 29/11, BStBl II 2013, 26 Rz. 12; vom 23.02.2011 I R 20/10, BStBl II 2011, 822 Rz. 10 [BB 2011, 1701 m. BB-Komm. von Craushaar/Holdt]; vom 17.04.2007 VII R 27/06, BStBl II 2009, 589 Rz. 16 [BB 2007, 2611]; vgl. BGH-Urteil vom 29.06.2004 IX ZR 147/03, Der Betrieb 2004, 2263 [BB 2004, 1927]).

 

b) Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass der BFH seine Rechtsprechung, dass eine Erstattungsforderung insolvenzrechtlich bereits dann entstanden ist, wenn sie vor Insolvenzeröffnung bereits "ihrem Kern nach" begründet wurde, mit Urteil vom 25.07.2012 (VII R 29/11, BStBl II 2013, 36) geändert hat und nunmehr auf die Verwirklichung des steuerrechtlichen Tatbestands abstellt (vgl. BFH-Urteile vom 15.01.2019 VII R 23/17, BStBl II 2019, 329 [BB 2019, 866]; vom 12.06.2018 VII R 19/16, BFH/NV 2018, 1131 [BB 2018, 2148]; vom 08.11.2016 VII R 34/15, BStBl II 2017, 496 [BB 2017, 744]; vom 18.08.2015 VII R 29/14, BFH/NV 2016, 87; BFH-Beschluss vom 21.03.2014 VII B 214/12, BFH/NV 2014, 1088). Nach der früheren Rechtsprechung wurde ein Umsatzsteuer-Erstattungsanspruch, der aus einem Berichtigungstatbestand des § 17 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) resultierte, bereits im Zeitpunkt der Besteuerung des für die Lieferung oder sonstigen Leistung vereinbarten Entgelts als insolvenzrechtlich begründet angesehen (vgl. BFH-Beschluss vom 06.10.2005 VII B 309/04, BFH/NV 2006, 369). Dagegen kommt es nach dem BFH-Urteil vom 25.07.2012 auf die Verwirklichung des Berichtigungstatbestandes (Uneinbringlichwerden von Forderungen) an. Von der Rechtsprechungsänderung unberührt bleibt aber, dass der Steuerpflichtige für Steuervorauszahlungen bereits mit deren Entrichtung einen Erstattungsanspruch unter der aufschiebenden Bedingung (durch den Erlass des entsprechenden Bescheides) erlangt, dass am Ende des Besteuerungszeitraums die geschuldete Steuer geringer ist als die Vorauszahlung (zuletzt BFH-Beschluss vom 26.11.2013 VII B 243/122, BFH/NV 2014, 581 Rz. 17). Ebenfalls von der Rechtsprechungsänderung unberührt bleibt, dass es für das insolvenzrechtliche Entstehen der Erstattungsforderung auf den Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheides wie auch darauf, ob der Besteuerungszeitraum erst während des Insolvenzverfahrens abläuft, nicht ankommt (so ausdrücklich BFH-Urteil vom 25.07.2012 VII R 29/11, BStBl II 2013, 36 Rz. 17).

 

4. Dem Kläger ist auch nicht darin zu folgen, dass der Aufrechnung gegen die Einkommensteuererstattungsansprüche 2015 und 2016 das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegensteht. Nach dieser Vorschrift ist eine Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat.

 

a) Der in diesem Zusammenhang entscheidende Begriff "Rechtshandlung" ist in § 129 Abs. 1 InsO als Handlung definiert, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist und die Insolvenzgläubiger benachteiligt. Nach der Rechtsprechung des BGH kommt als Rechtshandlung jede Handlung in Betracht, die zum (anfechtbaren) Erwerb einer Gläubiger- oder Schuldnerstellung führt. Zu den Rechtshandlungen zählen daher nicht nur Willenserklärungen als Bestandteil von Rechtsgeschäften aller Art (Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäfte) und rechtsgeschäftsähnliche Handlungen, sondern auch Realakte, denen das Gesetz Rechtswirkungen beimisst, wie das Einbringen einer Sache, das zu einem Vermieterpfandrecht führt, oder das Brauen von Bier, das die Biersteuer und die Sachhaftung des Bieres entstehen lässt (vgl. BGH-Urteil vom 22.10.2009 IX ZR 147/06, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2010, 1145). Der BFH hat sich dieser Rechtsprechung des BGH angeschlossen (vgl. BFH-Urteile vom 02.11.2010 VII R 6/10, BStBl II 2011, 374; vom 02.11.2010 VII R 62/10, BStBl II 2011, 439).

Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze ist die dem Erstattungsanspruch zugrunde liegende Auszahlung des Lohns unter Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer die maßgebliche Rechtshandlung. Denn diese Handlung führte zum Entstehen der Erstattungsansprüche, die dem Beklagten die Möglichkeit der Aufrechnung eröffnet haben. Dass die Rechtshandlung unmittelbar und unabhängig vom Hinzutreten etwaiger weiterer Umstände (hier der Festsetzung der Einkommensteuer durch den Beklagten) eine Aufrechnungslage zum Entstehen bringen muss, setzt § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht voraus. § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO verlangt lediglich, dass die Rechtshandlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist, dass sie irgendeine Voraussetzung für die Aufrechnungsmöglichkeit des Insolvenzschuldners geschaffen hat und dass die Rechtshandlung die Insolvenzgläubiger benachteiligt (vgl. BFH-Urteil vom 02.11.2010 VII R 62/10, BStBl II 2011, 439 Rz. 21). Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Lohnsteuerzahlungen wurden vor Verfahrenseröffnung erbracht und hatten gläubigerbenachteiligende Wirkung. Die gläubigerbenachteiligende Wirkung ergibt sich daraus, dass der Beklagte durch die daraus folgenden Erstattungsansprüche die Möglichkeit erhielt, seine vorinsolvenzlich begründeten Forderungen aufzurechnen.

 

b) Entgegen der Auffassung des Klägers hat der Beklagte die Möglichkeit der Aufrechnung nicht unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO erlangt. Nach dieser Vorschrift ist eine Rechtshandlung anfechtbar, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht, wenn sie in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist, wenn zur Zeit der Handlung der Schuldner zahlungsunfähig war und wenn der Gläubiger zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kannte. Nach Abs. 2 der Vorschrift steht der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Eröffnungsantrags die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag schließen lassen. Die hier maßgeblichen Rechtshandlungen, die dem Beklagten im Weiteren die Möglichkeit einer Aufrechnung und damit einer Befriedigung seiner Steuerforderungen gegen die Schuldnerin verschafft haben, lagen aber bereits in den Jahren 2015 und 2016 vor und fallen damit nicht in den kritischen Dreimonatszeitraum vor dem Eröffnungsantrag am 15.07.2017.

 

c) Davon abgesehen hätte der Beklagte die Möglichkeit der Aufrechnung selbst dann nicht unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO erlangt, wenn der Erlass der Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 am 22.05.2017 als anfechtbare Rechtshandlung im Sinne des § 129 Abs. 1 InsO anzusehen wäre. Denn jedenfalls ließe sich nicht feststellen, dass die Schuldnerin zur Zeit des Erlasses der Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 zahlungsunfähig war und der Beklagte zu dieser Zeit die Zahlungsunfähigkeit kannte (§ 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO) oder Umstände kannte, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit schließen ließen (§ 130 Abs. 2 InsO).

 

aa) Zahlungsunfähigkeit liegt nach § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO begründet die Zahlungseinstellung eine gesetzliche Vermutung für die Zahlungsunfähigkeit. Als derjenige, der sich auf den für ihn günstigen Umstand der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit bzw. der Umstände im Sinne des § 130 Abs. 2 InsO beruft, ist der Kläger hierfür darlegungs- und beweisbelastet.

 

bb) Nähere Kenntnisse des Beklagten über die Vermögensverhältnisse und Liquidität der Schuldnerin hat der Kläger nicht behauptet. Der Umstand, dass die Bescheide nur rund sieben Wochen vor Eröffnung des Insolvenzverfahren erlassen wurden, rechtfertigt für sich genommen nicht die Annahme einer Kenntnis im Sinne des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO. Zwar hatte die Schuldnerin nicht unbeträchtliche Steuerrückstände, die zudem über geraume Zeit rückständig waren. Daraus allein konnte der Beklagte aber nicht unbedingt schließen, dass die Schuldnerin ihre Zahlungen eingestellt hatte und damit im Sinne des § 17 Abs. 2 InsO zahlungsunfähig war. Es sind viele Gründe denkbar, warum Steuern nicht bezahlt werden. Der Beklagte hatte als außenstehender Gläubiger keinen Überblick über die Liquiditäts- oder Zahlungslage der Schuldnerin. Stellt man auf die Beträge von 3.396,03 EUR bzw. 11.073,97 EUR ab, die der Arbeitgeber auf Gehaltspfändungen des Beklagten hin geleistet hat, so hätte das Verhalten der Schuldnerin auch auf eine Zahlungsunwilligkeit statt einer Zahlungsunfähigkeit schließen lassen können. Die rückständigen Beträge waren auch nicht so beträchtlich, dass der Beklagte davon ausgehen musste, dass die in einem ungekündigten Beschäftigungsverhältnis stehende Schuldnerin die nach den Pfändungen verbliebenen Rückstände nicht zumindest durch Inanspruchnahme eines Kredits hätte tilgen können. Weitere Umstände, aus denen sich eine Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit seitens des Beklagten hätte ergeben können, sind nicht ersichtlich. Danach rechtfertigten die dem Beklagten bekannten Tatsachen nicht zwingend den Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin. Dass der Beklagte durchaus auch eine Zahlungsunfähigkeit des Insolvenzschuldners für möglich erachten musste, genügt für eine Kenntnis im Sinne von § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bzw. der Umstände im Sinne von Abs. 2 InsO nicht.

 

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung.

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