EuGH: Erstattung des zu viel gezahlten Vorsteuerbetrags/anwendbarer Zinssatz - Schlussanträge
EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak vom 12.1.2012(1) - Rechtssache C-591/10, Littlewoods Retail Ltd and others
Sachverhalt
I - Einleitung
1. Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, werden dem Gerichtshof vier Fragen zu der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Pflicht zur Rückerstattung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer vorgelegt. Dabei ersucht das vorlegende Gericht insbesondere um Aufschluss darüber, ob und wenn ja, in welchem Umfang ein Mitgliedstaat, der unter Verstoß gegen die unionsrechtlichen Mehrwertsteuervorschriften Mehrwertsteuer erhoben hat, neben deren Erstattung auch zur Zahlung von Zinsen auf diesen Hauptbetrag verpflichtet ist.
II - Rechtlicher Rahmen
A - Nationales Recht
2. Der Value Added Tax Act 1994 (im Folgenden: VATA 1994) enthält die nationalen Rechtsvorschriften über die Verwaltung, Erhebung und Durchführung der Mehrwertsteuer sowie über die Rechtsmittel, die bei einem besonderen Tribunal eingelegt werden können.
3. Zahlt ein Steuerpflichtiger zu viel Mehrwertsteuer, kann er gemäß Section 80 des VATA 1994 die Rückzahlung des zu viel gezahlten Betrags verlangen. Section 80 des VATA 1994 bestimmt Folgendes, soweit hier relevant:
„80
Gutschrift oder Rückzahlung zu viel erklärter oder zu viel entrichteter Mehrwertsteuer
(1) Hat eine Person
(a) mit den Commissioners Mehrwertsteuer für einen vorgeschriebenen Abrechnungszeitraum (gleichviel, wann dieser endet) abgerechnet und
(b) dabei einen Betrag als Mehrwertsteuer in Ansatz gebracht, der nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurde,
sind die Commissioners verpflichtet, der Person diesen Betrag gutzuschreiben.
...
(1B) Hat eine Person für einen vorgeschriebenen Abrechnungszeitraum (gleichviel, wann dieser endet) an die Commissioners einen Betrag als Mehrwertsteuer entrichtet, der den Commissioners nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurde, und beruht dies nicht darauf, dass
(a) ein nicht als Mehrwertsteuer geschuldeter Betrag als Mehrwertsteuer in Ansatz gebracht wurde oder
...,
sind die Commissioners verpflichtet, der Person diesen entrichteten Betrag zurückzuzahlen.
(2) Die Commissioners sind nur dann zur Gutschrift oder Rückzahlung eines Betrags nach Maßgabe dieser Section verpflichtet, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird.
(2A) Soweit
(a) einer Person aufgrund eines gemäß dieser Section gestellten Antrags ein Betrag nach Subsection 1 oder Subsection 1A gutzuschreiben ist und
(b) nach Verrechnung von gegebenenfalls nach Maßgabe oder aufgrund dieses Gesetzes zu berücksichtigenden Beträgen dieser Betrag ganz oder teilweise der Person als Guthaben verbleibt,
sind die Commissioners verpflichtet, den als Guthaben verbleibenden Betrag an die Person zu zahlen (oder zurückzuzahlen).
...
(7) Außer in den in dieser Section bezeichneten Fällen sind die Commissioners nicht zur Gutschrift oder Rückzahlung von Beträgen verpflichtet, die als Mehrwertsteuer mit ihnen abgerechnet oder an sie entrichtet, ihnen aber nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurden."
4. Wird einem nach Section 80 des VATA 1994 gestellten Antrag stattgegeben, hat der Steuerpflichtige gegebenenfalls Anspruch auf Zinsen auf den zu viel gezahlten Betrag, die nach den Bestimmungen von Section 78 des VATA 1994 berechnet werden. Section 78 bestimmt Folgendes:
„78
Zinsen im Fall eines behördlichen Fehlers
(1) Hat eine Person aufgrund eines Fehlers der Commissioners
(a) mit diesen einen Betrag als Mehrwertsteuer abgerechnet, den sie nicht als Mehrwertsteuer geschuldet hat, und sind die Commissioners infolgedessen nach Section 80 (2A) zur Zahlung (oder Rückzahlung) eines Betrags an die Person verpflichtet, oder
(b) es unterlassen, nach Section 25 die Gutschrift eines Betrags zu beantragen, dessen Gutschrift sie verlangen konnte und zu dessen Zahlung an die Person die Commissioners demzufolge verpflichtet sind, oder
(c) an die Commissioners (in einem nicht von Buchst. a oder b erfassten Fall) einen Betrag als Mehrwertsteuer entrichtet, der nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurde und zu dessen Rückzahlung an die Person die Commissioners demzufolge verpflichtet sind, oder
(d) einen Betrag, den die Commissioners ihr im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer schulden, mit Verzug erhalten,
zahlen die Commissioners, falls und soweit sie ohne diese Section nicht hierzu verpflichtet wären, vorbehaltlich der nachstehenden Bestimmungen dieser Section Zinsen an die Person für den maßgebenden Zeitraum.
...
(3) Zinsen nach Maßgabe dieser Section werden zu dem nach Section 197 des Finance Act 1996 [Finanzgesetz von 1996] geltenden Satz gezahlt.
..."
III - Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen
5. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens betrieben bzw. betreiben im Vereinigten Königreich einen Katalogversandhandel, bei dem sie über ein Netz von als „Vertreter" bezeichneten Personen Kataloge verteilen und die in den Katalogen abgebildeten Waren verkaufen. Die Vertreter erhielten für die von ihnen oder durch sie getätigten Verkäufe (im Folgenden: Drittkäufe) eine Provision, die sie in bar erhalten, auf ihre eigenen in der Vergangenheit getätigten Käufe anrechnen oder für zukünftige Käufe (unter Zugrundelegung eines höheren Provisionssatzes) verwenden konnten.
6. Im Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass die für Drittkäufe gezahlte Provision in der Zeit von 1973 bis Oktober 2004 im Rahmen der Berechnung der Mehrwertsteuer sowohl nach Unionsrecht als auch nach innerstaatlichem Recht falsch eingestuft wurde, wodurch für bestimmte Lieferungen die Besteuerungsgrundlage irrtümlich zu hoch angesetzt wurde und folglich zu viel Mehrwertsteuer bezahlt wurde.
7. Seit Oktober 2004 haben Her Majesty's Commissioners for Revenue & Customs (im Folgenden: die Beklagten des Ausgangsverfahrens) die zu viel gezahlte Mehrwertsteuer in Höhe von ungefähr 204 774 763 GBP gemäß Section 80 des VATA 1994 an die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens zurückgezahlt. Darüber hinaus haben die Beklagten des Ausgangsverfahrens gemäß Section 78 des VATA 1994 einfache Zinsen in Höhe von 268 159 135 GBP gezahlt.
8. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens begehren die Zahlung weiterer Beträge in Höhe von insgesamt rund 1 Milliarde GBP. Ihrer Auffassung nach hat das Vereinigte Königreich einen Vermögensvorteil in dieser Höhe aufgrund der Verfügbarkeit der an Steuer zu viel gezahlten Hauptbeträge erlangt. Dazu hat das vorlegende Gericht mit Urteil vom 19. Mai 2010 entschieden, dass diese Klage nach innerstaatlichem Recht und ohne Berücksichtigung des Unionsrechts abzuweisen ist.
9. Weil das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieses Ergebnisses mit den unionsrechtlichen Vorgaben hat, hat es dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Steht es, wenn ein Steuerpflichtiger Mehrwertsteuer zu viel gezahlt hat, die der Mitgliedstaat entgegen den Anforderungen der unionsrechtlichen Mehrwertsteuervorschriften erhoben hat, im Einklang mit dem Unionsrecht, wenn die von einem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellte Abhilferegelung lediglich a) die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge und b) einfache Verzinsung dieser Beträge gemäß nationalen Rechtsvorschriften wie Section 78 des VATA 1994 vorsieht?
2. Falls nein: Gebietet das Unionsrecht, dass die von einem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellte Abhilferegelung a) die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge und b) die Zahlung von Zinseszinsen als messbare Größe für die Höhe des Nutzwerts der zu viel gezahlten Beträge in den Händen des Mitgliedstaats und/oder des entgangenen Nutzwerts des Geldes in den Händen des Steuerpflichtigen umfassen muss?
3. Falls sowohl Frage 1 als auch Frage 2 zu verneinen sind: Worauf muss sich die Abhilferegelung, die der Mitgliedstaat gemäß dem Unionsrecht vorsehen muss, über die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge hinaus im Hinblick auf den Nutzwert der Zuvielzahlungen und/oder die Zinsen erstrecken?
4. Falls Frage 1 zu verneinen ist: Gebietet es der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz, dass ein Mitgliedstaat, um dem durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Recht, das sich aus den Antworten des Gerichtshofs auf die ersten drei Fragen ergibt, zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen, alle im nationalen Recht vorgesehenen Beschränkungen (wie Section 78 und Section 80 des VATA 1994) hinsichtlich innerstaatlicher Anspruchsgrundlagen oder Abhilferegelungen unangewandt lässt, auf die sich der Steuerpflichtige andernfalls berufen könnte, oder genügt es, wenn das nationale Gericht diese Beschränkungen lediglich hinsichtlich einer dieser innerstaatlichen Anspruchsgrundlagen oder Abhilferegelungen unangewandt lässt?
Von welchen anderen Grundsätzen soll sich das nationale Gericht bei der Durchsetzung dieses durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechts leiten lassen, um dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz zu genügen?
IV - Verfahren vor dem Gerichtshof
10. Die Vorlageentscheidung mit Datum vom 4. November 2010 ist am 14. Dezember 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Im schriftlichen Verfahren haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, das Vereinigte Königreich, die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Zypern, das Königreich der Niederlande, die Französische Republik, die Republik Finnland sowie die Europäische Kommission Erklärungen eingereicht. An der Sitzung vom 22. November 2011 haben die Vertreter der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, des Vereinigten Königreichs und der Kommission teilgenommen.
V - Vorbringen der Parteien
A - Die erste, die zweite und die dritte Vorlagefrage
11. Nach Auffassung der Kommission sind die erste, die zweite und die dritte Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass, wenn ein Steuerpflichtiger Mehrwertsteuer zu viel gezahlt hat, die ein Mitgliedstaat entgegen den Anforderungen der unionsrechtlichen Mehrwertsteuervorschriften erhoben hat, eine Abhilferegelung, die lediglich die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge und eine einfache Verzinsung dieser Beträge vorsieht, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, soweit diese Abhilferegelung zu einer angemessenen Erstattung oder zu einem angemessenen Ausgleich für den entgangenen Nutzen des Geldes führt und soweit das nationale Recht keine großzügigere Abhilferegelung hinsichtlich anderer Steuern vorsieht.
12. Die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Republik Zypern, der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland beantworten die erste Vorlagefrage dahin gehend, dass die von einem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellte Abhilferegelung, die in einem Fall der unionsrechtswidrigen Erhebung von Mehrwertsteuer die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge sowie eine einfache Verzinsung dieser Beträge gemäß nationalen Rechtsvorschriften vorsieht, mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Auch die finnische Regierung beantwortet die erste Vorlagefrage in diesem Sinne und betont dabei, dass der Effektivitäts- und der Äquivalenzgrundsatz beachtet werden müssten. Die niederländische Regierung trägt in ähnlicher Weise vor, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichte, im Rahmen der Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer Zinseszinsen zu zahlen. Vor diesem Hintergrund erübrigte sich nach Auffassung der Regierungen des Vereinigten Königreichs und der Republik Zypern sowie der niederländischen und der finnischen Regierung eine Beantwortung der zweiten, der dritten und der vierten Vorlagefrage.
13. Für die Beantwortung der ersten, der zweiten und der dritten Vorlagefrage gehen die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens von dem Standpunkt aus, dass die Abhilferegelung, die die Mitgliedstaaten zum Zweck der Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer zur Verfügung stellen müssen, den Ausgleich des Vorteils bewirken müsse, den der Mitgliedstaat durch die Verwendung des unionsrechtswidrig erhobenen Hauptbetrags erhalten habe. Die Feststellung, ob die Abhilferegelung dazu neben der Erstattung des zu viel gezahlten Hauptbetrags auch eine einfache Verzinsung, eine Verzinsung mit Zinseszinsen oder eine andere Verzinsungsformel vorsehen sollte, obliege den nationalen Gerichten.
B - Die vierte Vorlagefrage
14. Nach Auffassung der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ist die vierte Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass eine unionsrechtswidrige nationale Beschränkung für die Durchsetzung von sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüchen (wie enthalten in Section 78 und Section 80 des VATA 1994), die zwei unterschiedliche nationale Abhilferegelungen betreffe, hinsichtlich dieser beiden Abhilferegelungen unangewandt bleiben müsse, wenn sich der Erstattungsberechtigte nach nationalem Recht frei für die eine oder für die andere entscheiden dürfe.
15. Nach Auffassung der Kommission bedarf die vierte Frage keiner Beantwortung. Soweit sich der Gerichtshof dennoch zur Beantwortung dieser Frage entscheiden sollte, solle diese Antwort in dem Sinne lauten, dass Section 78 des VATA 1994 in ihrer Gesamtheit unangewandt bleiben sollte, wenn sich diese Bestimmung als mit dem Unionsrecht unvereinbar herausstellen sollte.
Begründung
VI - Rechtliche Würdigung
A - Erste, zweite und dritte Vorlagefrage
16. Mit der ersten, der zweiten und der dritten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht im Wesentlichen um Aufschluss darüber, in welcher Weise unionsrechtswidrig erhobene Mehrwertsteuer zugunsten der erstattungsberechtigten Mehrwertsteuerpflichtigen in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens zu verzinsen ist. Dabei fragt das vorlegende Gericht insbesondere, ob das nationale Recht neben der Erstattung des zu viel gezahlten Hauptbetrags eine Verzinsung dieses Betrags mit einem „einfachen" Zins (erste Vorlagefrage), mit einem „Zinseszins" (zweite Vorlagefrage) oder mit einem vom Gerichtshof näher zu bestimmenden sonstigen Zins (dritte Vorlagefrage) vorsehen muss.
17. Unter „einfacher" Verzinsung versteht das vorlegende Gericht eine Verzinsung ohne Kapitalisierung der Zinsen der vergangenen Berechnungsperioden. Eine Verzinsung mit „Zinseszins" würde hingegen bedeuten, dass die Zinsen der vergangenen Berechnungsperioden dem Kapital zugeschrieben werden, so dass sie Teil der Berechnungsgrundlage für die nachfolgenden Verzinsungszeiträume werden.
18. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Vorlagefragen 1 bis 3 ist die Feststellung, dass die Problematik der Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer weder in der Zweiten Mehrwertsteuerrichtlinie(2) noch in der Sechsten Richtlinie(3) ausdrücklich normiert worden war.
19. Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens keine Klagen auf Schadensersatz wegen eines Verstoßes des Vereinigten Königreichs gegen das Unionsrecht erhoben haben(4). Nach Darstellung des vorlegenden Gerichts ist im Ausgangsverfahren unstreitig, dass die Voraussetzungen für einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch nicht erfüllt sind. Im Ausgangsverfahren handelt es sich somit um Klagen auf Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer, die nicht als Klagen auf Schadensersatz zu qualifizieren sind.
20. Vor dem Hintergrund dieser Klarstellungen ist für die Beantwortung der Vorlagefragen 1 bis 3 von der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs auszugehen, nach der Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zu erstatten(5). Der sich daraus ergebende Anspruch des Abgabenpflichtigen auf Erstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben stellt eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus den Bestimmungen des Unionsrechts erwachsen, nach denen solche Abgaben verboten sind(6).
21. Für die gerichtliche Durchsetzung solcher sich aus dem Unionsrecht ergebenden Erstattungsansprüche müssen sich die Erstattungsberechtigten an die mitgliedstaatlichen Gerichte wenden(7).
22. Mangels einer einschlägigen Unionsregelung ist auch die konkrete verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Erstattungsklagen Sache der Mitgliedstaaten, die in diesem Zusammenhang allerdings stets den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz beachten müssen(8). Dabei obliegt es den einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten der Erstattungsklagen zu regeln, wobei diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz)(9).
23. Diese mitgliedstaatliche Aufgabe, die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche natürlicher und juristischer Personen verfahrensrechtlich auszugestalten, und das Ermessen, das den Mitgliedstaaten dabei zusteht, werden traditionell unter dem Begriff der „Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten" zusammengefasst. Dieser Begriff ist freilich leicht irreführend und unpräzise. Während der Ausdruck „Autonomie" ein umfassendes Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Feststellung verfahrensrechtlicher Regeln zu indizieren scheint, gibt es ein solches absolutes Ermessen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht. Denn zum einen geht der Gerichtshof in dieser Rechtsprechungslinie von der unionsrechtlichen Pflicht der Mitgliedstaaten aus, die Durchsetzung von sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüchen verfahrensrechtlich zu ermöglichen(10). Die Entscheidung darüber, ob verfahrensrechtliche Regelungen zur Durchsetzung unionsrechtlicher Ansprüche vorgesehen werden oder nicht, liegt somit nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten. Zum anderen ist das Ermessen, das den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung der anwendbaren Verfahren und Verfahrensmodalitäten zusteht, durch den Effektivitäts- und den Äquivalenzgrundsatz beschränkt.
24. Die Maxime der „Verfahrensautonomie" gewährt den Mitgliedstaaten demnach keine wirkliche Autonomie, sondern vielmehr ein bestimmtes Ermessen im Kontext der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung von sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüchen, deren gerichtliche Durchsetzung unionsrechtlich nicht im Einzelnen geregelt ist(11). Darüber hinaus ist die „Verfahrensautonomie" der Mitgliedstaaten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht auf verfahrensrechtliche Fragestellungen beschränkt geblieben. Vielmehr erstreckt sie sich zum Teil auch auf die inhaltliche Ausgestaltung von sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüchen(12), so dass die Verfahrensautonomie zugleich eine gewisse remedial autonomy der Mitgliedstaaten umfasst(13).
25. Wenngleich der Begriff der „Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten" folglich in zweifacher Weise unpräzise ist, hat er sich dennoch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs als besonders einprägsames Konzept durchgesetzt(14). Unter dem Vorbehalt meiner obigen Klarstellungen werde auch ich ihn im Folgenden verwenden.
26. Im Kontext seiner Rechtsprechung zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten hat sich der Gerichtshof bereits mehrmals zur Frage der Verzinsung unionsrechtswidrig erhobener Beträge geäußert. Dabei hat er allerdings in den einzelnen Urteilen unterschiedliche Nuancen gesetzt, aufgrund deren sich zwei Rechtsprechungslinien unterscheiden lassen.
27. In einer ersten Reihe von - vor allem älteren - Urteilen hat der Gerichtshof entschieden, dass die Problematik der Zahlung von Zinsen auf unionsrechtlich zu Unrecht erhobene Beträge eine Nebenfrage darstellt, die nationalrechtlich zu regeln ist. Dabei steht es den Mitgliedstaaten insbesondere zu, die Frage der Zahlung von Zinsen einschließlich des Zeitpunkts, von dem an die Zinsen zu berechnen sind, und des Zinssatzes zu regeln. In diesem Sinne hat der Gerichtshof in den Urteilen Roquette Frères/Kommission(15) und Express Dairy Foods(16) entschieden. Diese Rechtsprechungslinie ist u. a. im Urteil Ansaldo Energia(17) sowie im Urteil N(18) bestätigt worden.
28. In einer zweiten Reihe von - vor allem neueren - Urteilen hat der Gerichtshof hingegen entschieden, dass dem Abgabenpflichtigen kraft Unionsrechts ein Anspruch auf Zahlung von Zinsen auf unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zusteht. Eingeleitet wurde diese Rechtsprechungslinie durch das Urteil Metallgesellschaft u. a.(19), in dem sich der Gerichtshof mit dem Fall einer unionsrechtswidrigen Steuervorauszahlung zu befassen hatte. In diesem Urteil hat er zwar zunächst seine ältere Rechtsprechung bestätigt, nach der es Sache des nationalen Rechts ist, alle mit der Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben zusammenhängenden Nebenfragen wie etwa die Zahlung von Zinsen zu regeln, einschließlich des Zeitpunkts, von dem an die Zinsen zu berechnen sind, und des Zinssatzes(20). Anschließend hat er jedoch klargestellt, dass im Falle einer unionsrechtswidrigen vorzeitigen Fälligkeit von Steuern die Zuerkennung von Zinsen unionsrechtlich geboten ist. Dazu hat er insbesondere ausgeführt, dass die unionsrechtliche Norm, die der vorzeitigen Fälligkeit entgegensteht, dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf die Zinsen gibt, die auf die Steuervorauszahlung in der Zeit zwischen der - unionsrechtswidrigen - Vorauszahlung und der - unionsrechtsmäßigen - Fälligkeit dieser Zahlung angefallen sind(21).
29. Bestätigt worden ist diese neue Rechtsprechungslinie in den Urteilen Test Claimants in the FII Group Litigation(22) und Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation(23). Darüber hinaus liefern beide Urteile deutliche Belege dafür, dass die im Urteil Metallgesellschaft u. a. entwickelte Argumentation hinsichtlich unionsrechtswidriger Steuervorauszahlungen auch auf solche Fälle übertragbar ist, in denen die Abgabenerhebung insgesamt unionsrechtswidrig war. Dies ist auch logisch. Denn zur Begründung des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruchs wegen unionsrechtswidriger Steuervorauszahlungen geht der Gerichtshof von der Feststellung aus, dass der Abgabenpflichtige wegen der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Abgabe Einbußen erlitten hat, wobei diese Einbußen als Beträge einzuordnen sind, die unionsrechtswidrig von dem Mitgliedstaat einbehalten bzw. an ihn gezahlt worden sind(24). Weil auch die unionsrechtswidrige Erhebung von Abgaben zu einer mangelnden Verfügbarkeit der entrichteten Beträge bis zum Zeitpunkt ihrer Erstattung führt, ist kein Grund dafür ersichtlich, zwischen dem sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruch des Abgabenpflichtigen im Kontext unionsrechtswidriger Vorauszahlungen und einem solchen Anspruch im Kontext unionsrechtswidriger Zahlungen als solche zu unterscheiden.
30. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass Mitgliedstaaten, die unionsrechtswidrig Abgaben erhoben haben, nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich sowohl die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgaben erstatten als auch Zinsen zum Ausgleich der mangelnden Verfügbarkeit der entrichteten Beträge zahlen müssen. Dem Abgabenpflichtigen steht demnach ein Recht auf Erstattung der Abgabe sowie ein Recht auf Zahlung von Zinsen zu. Ihre Grundlage finden diese Rechte des Abgabenpflichtigen in den Bestimmungen des Unionsrechts, nach denen die erhobenen Abgaben verboten sind.
31. In Anwendung der Rechtsprechung zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten obliegt die konkrete inhaltliche und verfahrensrechtliche Ausgestaltung des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruchs der Abgabenpflichtigen den Mitgliedstaaten. Demnach steht es den Mitgliedstaaten zu, unter Beachtung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes die Modalitäten der Verzinsung zu bestimmen. Zu diesen Modalitäten zählt auch die Entscheidung darüber, ob die Verzinsung nach einem System der „einfachen Zinsen" oder vielmehr nach einem System der „Zinseszinsen" erfolgt.
32. Den Ausführungen des vorlegenden Gerichts lässt sich entnehmen, dass das Vereinigte Königreich seine unionsrechtliche Pflicht, den erstattungsberechtigten Mehrwertsteuerpflichtigen einen Zinsanspruch zu gewähren, erfüllt hat. Streitig ist hingegen, ob das Vereinigte Königreich bei der Feststellung der Modalitäten dieses Zinsanspruchs gegen den Effektivitätsgrundsatz oder gegen den Äquivalenzgrundsatz verstoßen hat, indem lediglich eine Verzinsung des Hauptbetrags mit einfachen Zinsen gewährt wurde.
33. Meines Erachtens lässt sich die Frage danach, ob der Effektivitätsgrundsatz beachtet wurde, ohne Weiteres bejahen.
34. Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der Effektivitätsgrundsatz es den Mitgliedstaaten, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren(25). Im Kontext der Bestimmung der Modalitäten eines sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruchs käme eine Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes demnach nur in Betracht, wenn die Verzinsung im Ergebnis derart niedrig ausfallen würde, dass sie den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruch inhaltlich übermäßig aushebeln würde.
35. In diesem Zusammenhang geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass das Vereinigte Königreich auf die bei den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens unionsrechtswidrig vereinnahmte Mehrwertsteuer Zinsen gemäß Section 78 des VATA 1994 gezahlt hat.
36. Die nach Section 78 des VATA 1994 fälligen Zinsen werden gemäß Section 197 des Finance Act 1996 und den Air Passenger Duty and Other Indirect Taxes (Interest Rate) Regulations 1998 berechnet. Diese Bestimmungen bewirken im Wesentlichen, dass seit 1998 die Sätze für die Zwecke von Section 78 nach einer Formel festgelegt werden, die auf den durchschnittlichen Basiskreditsatz von sechs Clearingbanken verweist; dieser Satz wird als „Referenzsatz" bezeichnet. Für die Zeiträume zwischen 1973 und 1998 sind die Sätze in Tabelle 7 der Regulations von 1998 angegeben. Der für Section 78 maßgebende Zinssatz ist der Referenzsatz minus 1 %. In Section 78 ist auch der „maßgebende Zeitraum" definiert, für den Zinsen zu zahlen sind. Im Ausgangsverfahren beginnt dieser Zeitraum an dem Tag, an dem die Commissioners die Zuvielzahlung erhalten haben, und endet an dem Tag, an dem die Commissioners die Auszahlung des zu verzinsenden Betrags angewiesen haben.
37. In Anwendung dieser Bestimmungen hat das Vereinigte Königreich die Mehrwertsteuer, die im Zeitraum von 1973 bis 2004 unionsrechtswidrig erhalten worden war, in Höhe von ungefähr 204 774 763 GBP zusammen mit einfachen Zinsen in Höhe von 268 159 135 GBP an die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens erstattet. Demzufolge wurde den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ein Anspruch auf einfache Verzinsung gemäß Section 78 des VATA 1994 eingeräumt, nach dem der über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren anfallende Zinsbetrag (268 159 135 GBP) den Hauptbetrag (204 774 763 GBP) um mehr als 25 % übersteigt. Diese Verzinsung gemäß Section 78 des VATA 1994 genügt meines Erachtens ohne Weiteres dem Grundsatz der Effektivität.
38. Die Frage, ob die einfache Verzinsung gemäß Section 78 des VATA 1994 in einem Verfahren wie dem vorliegenden auch dem Äquivalenzgrundsatz genügt, lässt sich hingegen nicht so einfach beantworten.
39. Der Äquivalenzgrundsatz verlangt nach ständiger Rechtsprechung, dass bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften nicht danach unterschieden wird, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen innerstaatliches Recht gerügt wird(26). Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass die Modalitäten des Anspruchs auf Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die Modalitäten gleichartiger Zinsansprüche, die sich aus einem Verstoß gegen innerstaatliches Recht ergeben (im Folgenden: gleichartige innerstaatliche Zinsansprüche). In diesem Zusammenhang setzt die Gleichartigkeit der als Vergleichsbasis heranzuziehenden innerstaatlichen Zinsansprüche voraus, dass diese im Hinblick auf ihren Gegenstand und ihre wesentlichen Merkmale als gleichartig angesehen werden können(27).
40. Zur Beantwortung der Frage nach der Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes muss das vorlegende Gericht, das allein eine unmittelbare Kenntnis der Verzinsungsmodalitäten für Erstattungsansprüche gegen den Staat hat, folglich untersuchen, ob die Modalitäten, die für die Verzinsung von unionsrechtswidrig vereinnahmter Mehrwertsteuer gemäß Section 78 des VATA 1994 gelten, den Modalitäten, die für gleichartige innerstaatliche Ansprüche auf Verzinsung gelten, entsprechen oder nicht.
41. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die am vorliegenden Verfahren beteiligten Parteien den Kreis der als Vergleichsbasis heranzuziehenden gleichartigen innerstaatlichen Ansprüche auf Verzinsung unterschiedlich definieren.
42. Nach Auffassung der Kommission soll im Rahmen der Überprüfung des Äquivalenzgrundsatzes ein Vergleich zwischen der Verzinsung von unionsrechtswidrig vereinnahmter Mehrwertsteuer und der Verzinsung bei rechtswidriger Erhebung anderer Steuern erfolgen. Nach diesem Ansatz müsste die Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer folglich mit der Verzinsung verglichen werden, die nach innerstaatlichem Recht im Falle einer rechtswidrigen Erhebung von direkten oder indirekten Steuern außer der Mehrwertsteuer vorgesehen ist.
43. Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt hingegen vor, dass die Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer nur mit der Verzinsung von rechtswidrig erhobenen indirekten Steuern verglichen werden dürfe, nicht hingegen mit der der Verzinsung von rechtswidrig erhobenen direkten Steuern.
44. Nach Auffassung der niederländischen Regierung(28) erfordert der Äquivalenzgrundsatz in einem Fall wie dem vorliegenden hingegen, dass Klagen auf Erstattung rechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer in gleicher Weise wie innerstaatliche Klagen auf Erstattung von gleichartigen Abgaben oder Steuern behandelt werden. Nach diesem Ansatz müsste demnach zuerst ermittelt werden, welche Steuern und Abgaben mit der Mehrwertsteuer vergleichbar sind. Anschließend müssten die Modalitäten der Verzinsung im Falle der rechtswidrigen Erhebung solcher gleichartigen Steuern und Abgaben mit den Verzinsungsmodalitäten im Bereich der Mehrwertsteuer verglichen werden.
45. Die französische Regierung(29) verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der eine nationale Ausgestaltung der Erstattung dem Äquivalenzgrundsatz entspricht, wenn sie in gleicher Weise auf alle Klagen unabhängig davon anwendbar ist, ob diese auf die Verletzung des Unionsrechts oder des innerstaatlichen Rechts gestützt werden, sofern es sich um dieselbe Art von Abgaben oder Gebühren handelt.
46. Diese divergierenden Ausführungen der Kommission, der Regierung des Vereinigten Königreichs, der niederländischen und der französischen Regierung zeigen deutlich, dass sich die konkrete Ermittlung der gleichartigen innerstaatlichen Zinsansprüche in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens als besonders schwierig erweisen kann.
47. Für die Ermittlung der gleichartigen innerstaatlichen Zinsansprüche muss das vorlegende Gericht von den wesentlichen Merkmalen des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verzinsungsanspruchs für rechtswidrig erhobene Mehrwertsteuer ausgehen. Gleichartig sind dabei auf jeden Fall die Ansprüche auf Verzinsung von unter Verstoß gegen nationales Recht erhobenen indirekten Steuern. Die Frage, ob die Ansprüche auf Verzinsung von unter Verstoß gegen nationales Recht erhobenen direkten Steuern oder Abgaben in einem Fall wie dem vorliegenden ebenfalls als gleichartige innerstaatliche Zinsansprüche zu werten sind, lässt sich hingegen nicht in abstracto beantworten(30). Soweit sich diese Frage im Ausgangsverfahren im Kontext der Überprüfung des Äquivalenzgrundsatzes de facto stellen sollte, sollte das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wege eines neuen Vorabentscheidungsersuchens substantiiert um weitere Aufklärung über die Gleichartigkeit der relevanten innerstaatlichen Zinsansprüche ersuchen.
48. Falls das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen letztlich zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass es mehrere gleichartige innerstaatliche Zinsansprüche gibt, deren Modalitäten unterschiedlich ausgestaltet sind, läge allerdings nicht bereits dann ein Verstoß gegen den Äquivalenzgrundsatz vor, wenn die unionsrechtswidrig erhobene Mehrwertsteuer nicht gemäß den vorteilhaftesten Modalitäten verzinst würde, die für einen oder mehrere vergleichbare innerstaatliche Zinsansprüche gelten. Denn nach ständiger Rechtsprechung kann der Äquivalenzgrundsatz nicht so verstanden werden, dass er einen Mitgliedstaat verpflichtet, die günstigste innerstaatliche Regelung auf alle Klagen zu erstrecken, die auf einem bestimmten Rechtsgebiet erhoben werden(31).
49. Nach alledem sind die erste, die zweite und die dritte Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass dem Steuerpflichtigen, der zu viel Mehrwertsteuer gezahlt hat, die der Mitgliedstaat entgegen den Anforderungen der unionsrechtlichen Mehrwertsteuervorschriften erhoben hat, kraft Unionsrechts ein Recht auf Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Mehrwertsteuer sowie ein Recht auf Verzinsung des zu erstattenden Hauptbetrags zusteht. Die Frage, ob die Verzinsung des zu erstattenden Hauptbetrags nach einem System der „einfachen Zinsen" oder vielmehr nach einem System der „Zinseszinsen" zu erfolgen hat, betrifft die Modalitäten des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruchs, die von den Mitgliedstaaten unter Beachtung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes zu bestimmen sind.
B - Vierte Vorlagefrage
50. Mit seiner vierten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht um Aufklärung über die unionsrechtlich gebotene Vorgehensweise, falls eine einfache Verzinsung gemäß Section 78 des VATA 1994 der im Zeitraum von 1973 bis 2004 zu viel erhobenen Mehrwertsteuer hinter den sich aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ergebenden Vorgaben zurückbleiben sollte.
51. Wie ich bereits ausgeführt habe, ist eine einfache Verzinsung gemäß Section 78 des VATA 1994 der im Zeitraum von 1973 bis 2004 zu viel erhobenen Mehrwertsteuer ohne Weiteres mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar. Diese Feststellung bedeutet allerdings nicht, dass die vierte Vorlagefrage als gegenstandslos zu betrachten wäre. Denn aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts zum Hintergrund der vierten Vorlagefrage geht hervor, dass diese Vorlagefrage - trotz des ausdrücklichen Verweises auf den Effektivitätsgrundsatz - im Wesentlichen die Wirkung des Äquivalenzgrundsatzes betrifft.
52. Für ein besseres Verständnis der vierten Vorlagefrage ist zunächst auf die unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen für die Verzinsung der unionsrechtswidrig erhobenen Mehrwertsteuer einzugehen, die im Ausgangsverfahren zur Diskussion stehen. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht insbesondere hervor, dass neben dem Anspruch auf einfache Zinsen nach Section 78 des VATA 1994 noch zwei weitere innerstaatliche Anspruchsgrundlagen oder Abhilferegelungen zur Diskussion stehen. Dabei soll es sich insbesondere um den sogenannten mistake‑based claim einerseits und den sogenannten Woolwich claim andererseits handeln. Diese beiden Anspruchsgrundlagen nach Common Law sind nach Darstellung des vorlegenden Gerichts durch die Anwendbarkeit von Section 78 des VATA 1994 gesperrt.
53. Für den Fall, dass sich der Ausschluss dieser Anspruchsgrundlagen nach Common Law durch die Anwendbarkeit von Section 78 des VATA 1994 im Rahmen der Beantwortung der ersten bis zur dritten Vorlagefrage als unionsrechtswidrig erweisen sollte, suggeriert das vorlegende Gericht, dass eine unionsrechtskonforme Lösung erreicht werden könnte, indem den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens die Geltendmachung eines Woolwich claim erlaubt würde, während der mistake‑based claim gesperrt bliebe.
54. Vor diesem Hintergrund bittet das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage im Wesentlichen um Aufschluss darüber, ob im Fall der festgestellten Unionsrechtswidrigkeit von Section 78 und Section 80 des VATA 1994 eine Nichtanwendung der darin enthaltenen Beschränkung hinsichtlich des Woolwich claim im Ausgangsverfahren zu einer unionsrechtskonformen Verzinsung führen könnte oder ob dazu die in Section 78 und Section 80 des VATA 1994 enthaltene Beschränkung hinsichtlich aller Anspruchsgrundlagen oder Abhilferegelungen nach Common Law unangewandt bleiben sollte.
55. In ihren schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens hierzu vorgetragen(32), dass sich die im Ausgangsverfahren relevanten Anspruchsgrundlagen nach Common Law durch das Prinzip der freien Anspruchskonkurrenz auszeichnen, so dass sich der Anspruchsinhaber - bei Vorliegen aller Anwendungsvoraussetzungen - nach eigenem Ermessen für einen der zur Auswahl stehenden Ansprüche entscheiden könne. Für die beiden Ansprüche nach Common Law (den mistake‑based claim und den Woolwich claim), die den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens im Ausgangsverfahren zur Auswahl stünden, gelte eine sechsjährige Verjährungsfrist. Beim Woolwich claim beginne deren Lauf bereits ab dem Zeitpunkt der Zahlung, beim mistake‑based claim hingegen erst ab dem Zeitpunkt, zu dem der Erstattungsberechtigte Kenntnis über die Rechtswidrigkeit seiner Zahlung erlangt habe oder vernünftigerweise hätte erlangen können. Weil die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens nach eigener Darstellung ihre Ansprüche innerhalb der Sechsjahresfrist ab dem Zeitpunkt der Kenntniserlangung geltend gemacht hätten, hätten sie ein besonderes Interesse daran, sich im Ausgangsverfahren auf den mistake-based claim als Anspruchsgrundlage zu stützen.
56. Zur Beantwortung der vierten Vorlagefrage ist von dem Grundsatz auszugehen, dass die Festlegung der Modalitäten der Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben den Mitgliedstaaten obliegt, unter Beachtung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes. In diesem Zusammenhang bin ich bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass die vom Vereinigten Königreich festgelegte einfache Verzinsung der unionsrechtswidrig erhobenen Mehrwertsteuer gemäß Section 78 des VATA 1994 dem Grundsatz der Effektivität genügt(33).
57. Die Frage, ob diese einfache Verzinsung gemäß Section 78 des VATA 1994 und der damit verbundene Ausschluss weiter gehender Anspruchsgrundlagen nach Common Law auch dem Äquivalenzgrundsatz genügt, ist vom vorlegenden Gericht gemäß den bereits erörterten Kriterien zu beantworten(34). Im Kontext der vierten Vorlagefrage hat dieses Gericht dabei insbesondere die Frage zu beantworten, ob ein Steuerpflichtiger, der unter Verstoß gegen das nationale Recht erhobene gleichartige Steuern oder Abgaben samt Zinsen zurückfordert, die Anspruchsgrundlage für die Zinsansprüche frei nach Common Law oder gegebenenfalls nach Gesetz aussuchen kann und sich folglich - bei Vorliegen aller Anwendungsvoraussetzungen - für den Woolwich claim, für den mistake‑based claim oder für eine andere Anspruchsgrundlage entscheiden und dadurch auch die Verzinsungsmodalitäten selbst bestimmen kann.
58. Falls das vorlegende Gericht dabei zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Modalitäten der Verzinsung unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer weniger günstig ausgestaltet sind als die Modalitäten gleichartiger innerstaatlicher Zinsansprüche, weil die Steuerpflichtigen die Verjährungsfrist sowie die weiteren Merkmale der gleichartigen innerstaatlichen Zinsansprüche durch die Wahl der Anspruchsgrundlage bestimmen können, während dies für die Verzinsung unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer nicht der Fall ist, wäre es gehalten, die günstigeren Modalitäten, die für gleichartige innerstaatliche Zinsansprüche gelten, auch für die Verzinsung der unionsrechtswidrig erhobenen Mehrwertsteuer anzuwenden und den Steuerpflichtigen dadurch die freie Wahl der Anspruchsgrundlage zu ermöglichen.
59. Zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts wäre das vorlegende Gericht in diesem Fall dazu verpflichtet, falls erforderlich die nationalen Vorschriften, die einer Verzinsung der unionsrechtswidrig erhobenen Mehrwertsteuer gemäß den günstigeren Modalitäten, die für gleichartige innerstaatliche Zinsansprüche gelten, entgegenstehen, außer Acht zu lassen und die nationalen Vorschriften, die für gleichartige innerstaatliche Ansprüche günstigere Modalitäten vorsehen, auf die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsansprüche anzuwenden(35). Diese Verpflichtung folgt unmittelbar aus der unmittelbaren Wirkung und dem Anwendungsvorrang(36) der unionsrechtlichen Bestimmungen, aus denen sich der Zinsanspruch des erstattungsberechtigten Mehrwertsteuerpflichtigen ergibt.
60. Dennoch ist auch an dieser Stelle erneut daran zu erinnern, dass der Äquivalenzgrundsatz nicht in dem Sinne verstanden werden darf, dass er einen Mitgliedstaat verpflichtet, die günstigste innerstaatliche Regelung auf gleichartige Klagen betreffend die Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer zu erstrecken(37). Falls sich demnach herausstellen sollte, dass erstattungsberechtigte Abgabenpflichtige die Verjährungsfrist und die weiteren Verzinsungsmodalitäten nur hinsichtlich einiger gleichartiger innerstaatlicher Zinsansprüche durch die Wahl der Anspruchsgrundlage bestimmen können, während dies für andere gleichartige innerstaatliche Zinsansprüche ausgeschlossen ist, darf der Mitgliedstaat die freie Wahl der Anspruchsgrundlage auch für die Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer ausschließen.
61. Nach alledem ist die vierte Vorlagefrage in dem Sinne zu beantworten, dass das vorlegende Gericht, soweit es zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die im Ausgangsverfahren streitgegenständlichen Modalitäten der Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer weniger günstig ausgestaltet sind als die Modalitäten gleichartiger innerstaatlicher Zinsansprüche und dass deswegen ein Verstoß gegen den Äquivalenzgrundsatz vorliegt, gehalten ist, die nationalen Vorschriften in dem Sinne auszulegen und anzuwenden, dass die unionsrechtswidrig erhobene Mehrwertsteuer gemäß den günstigeren Modalitäten, die für gleichartige innerstaatliche Ansprüche gelten, verzinst wird.
VII - Ergebnis
62. Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:
1. Dem Steuerpflichtigen, der zu viel Mehrwertsteuer gezahlt hat, die der Mitgliedstaat entgegen den Anforderungen der unionsrechtlichen Mehrwertsteuervorschriften erhoben hat, steht kraft Unionsrechts ein Recht auf Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Mehrwertsteuer sowie ein Recht auf Verzinsung des zu erstattenden Hauptbetrags zu. Die Frage, ob die Verzinsung des zu erstattenden Hauptbetrags nach einem System der „einfachen Zinsen" oder vielmehr nach einem System der „Zinseszinsen" zu erfolgen hat, betrifft die Modalitäten des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Zinsanspruchs, die von den Mitgliedstaaten unter Beachtung des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes zu bestimmen sind.
2. Soweit das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die im Ausgangsverfahren streitgegenständlichen Modalitäten der Verzinsung von unionsrechtswidrig erhobener Mehrwertsteuer weniger günstig ausgestaltet sind als die Modalitäten gleichartiger innerstaatlicher Zinsansprüche und dass deswegen ein Verstoß gegen den Äquivalenzgrundsatz vorliegt, ist es gehalten, die nationalen Vorschriften in dem Sinne auszulegen und anzuwenden, dass die unionsrechtswidrig erhobene Mehrwertsteuer gemäß den günstigeren Modalitäten, die für gleichartige innerstaatliche Ansprüche gelten, verzinst wird.
1 - Originalsprache der Schlussanträge: Deutsch. Verfahrenssprache: Englisch.
2 - Zweite Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. Nr. 71, S. 1303).
3 - Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).
4 - Nach ständiger Rechtsprechung steht das Unionsrecht dem nicht entgegen, dass eine Klage auf Schadensersatz wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht neben einer Klage auf Rückzahlung nicht geschuldeter Beträge erhoben wird; vgl. nur Urteil vom 20. Oktober 2011, Danfoss und Sauer-Danfoss (C‑94/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 32).
5 - Urteile vom 15. September 2011, Accor (C‑310/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 71), vom 2. Oktober 2003, Weber's Wine World u. a. (C‑147/01, Slg. 2003, I‑11365, Randnr. 93), und vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a. (C‑397/98 und C‑410/98, Slg. 2001, I‑1727, Randnr. 84)
6 - Vgl. nur Urteile Danfoss und Sauer-Danfoss (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 20), vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a. (C‑398/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 17), vom 28. Januar 2010, Direct Parcel Distribution Belgium (C‑264/08, Slg. 2010, I‑731, Randnr. 45), vom 14. Januar 1997, Comateb u. a. (C‑192/95 bis C‑218/95, Slg. 1997, I‑165, Randnr. 20), und vom 9. November 1983, San Giorgio (199/82, Slg. 1983, 3595, Randnr. 12).
7 - Der AEUV räumt den Privaten nur in einigen sehr spezifischen Verfahren ein unmittelbares Klagerecht vor dem EuGH ein, so beispielsweise das Klagerecht von natürlichen oder juristischen Personen nach Art. 263 Abs. 4 AEUV, Art. 268 AEUV oder Art. 270 AEUV. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Basedow, J., „Der Europäische Gerichtshof und das Privatrecht", Archiv für die civilistische Praxis, Bd. 210 (2010), S. 157, 192 f., der in der Unmöglichkeit für private Akteure, Streitigkeiten über sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechte vor ein Unionsgericht zu bringen, eine unbefriedigende Inkonsistenz zwischen dem prozessualen und dem materiellen Recht der Union sieht.
8 - Vgl. nur Urteile Danfoss und Sauer-Danfoss (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 24), vom 6. Oktober 2005, MyTravel (C‑291/03, Slg. 2005, I‑8477, Randnr. 17), und Weber's Wine World u. a. (oben in Fn. 5 angeführt, Randnr. 103).
9 - Vgl. nur Urteile Accor (oben in Fn. 5 angeführt, Randnr. 79), vom 8. Juli 2010, Bulicke (C‑246/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25), vom 13. März 2007, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation (C‑524/04, Slg. 2007, I‑2107, Randnr. 111), und vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation (C‑446/04, Slg. 2006, I‑11753, Randnr. 203).
10 - Vgl. dazu bereits das Urteil vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral (33/76, Slg. 1976, 1989), das als Grundsatzurteil zum Konzept der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt. In diesem Urteil, das die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht von im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fristen für die gerichtliche Durchsetzung von sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüchen betraf, hat der Gerichtshof das Konzept der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten mit dem nunmehr in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen Union und Mitgliedstaaten verbunden. Aus diesem Grundsatz folgerte er insbesondere, dass die Aufgabe, den sich für die Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts ergebenden Rechtsschutz zu gewährleisten, den innerstaatlichen Gerichten obliegt. Diese mitgliedstaatliche Aufgabe zielt darauf ab, die volle Wirkung des Unionsrechts sicherzustellen, und ist eng mit dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bzw. mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Grundrechtecharta verbunden. Zu diesem Zusammenhang zwischen den mitgliedstaatlichen Pflichten unter Art. 4 EUV, der Sicherstellung der vollen Wirkung des Unionsrechts und dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bzw. dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Grundrechtecharta vgl. nur Urteil vom 15. April 2008, Impact (C‑268/06, Slg. 2008, I‑2483, Randnrn. 41 ff.).
11 - Vgl. dazu insbesondere Kakouris, C. N., „Do the Member States possess judicial procedural ‚autonomy‘?", C.M.L. Rev. 1997, S. 1389 ff. Vgl. auch Van Gerven, W., „Of Rights, Remedies and Procedures", C.M.L. Rev. 2000, S. 501, 502, der u. a. vorschlägt, den Begriff der Verfahrensautonomie durch den der Verfahrenszuständigkeit der Mitgliedstaaten zu ersetzen. So auch Delicostopoulos, J., „Towards European Procedural Primacy in National Legal Systems", ELJ 2003, S. 599 ff., der in diesem Zusammenhang von einer Mischung von mitgliedstaatlicher Verfahrenszuständigkeit und Vorrang des Unionsverfahrensrechts ausgeht.
12 - Vgl. nur Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a. (C‑212/04, Slg. 2006, I‑6057, Randnrn. 90 ff.), wo der Gerichtshof u. a. auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie zurückgegriffen hat, um die Frage zu beantworten, welche Maßnahmen bzw. Sanktionen die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, um der in diesem Verfahren in Rede stehenden Missachtung von sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechten zu begegnen. So auch Urteile vom 7. September 2006, Marrosu und Sardino (C‑53/04, Slg. 2006, I‑7213, Randnrn. 50 ff.) und Vassallo (C‑180/04, Slg. 2006, I‑7251, Randnrn. 35 ff.).
13 - Vgl. dazu Trstenjak, V./Beysen, E., „European Consumer Protection Law: Curia semper dabit remedium?", C.M.L. Rev. 2011, S. 95, 104 ff.
14 - Zur Rolle der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten im System des Europäischen Zivilverfahrensrechts vgl. auch Wagner, G., in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Auflage, Tübingen 2011, Einleitung vor Art. 1, Randnrn. 68 f.
15 - Urteil vom 21. Mai 1976, Roquette Frères/Kommission (26/74, Slg. 1976, 677, Randnrn. 11 f.).
16 - Urteil vom 12. Juni 1980, Express Dairy Foods (130/79, Slg. 1980, 1887, Randnrn. 16 f.).
17 - Urteil vom 15. September 1998, Ansaldo Energia u. a. (C‑279/96, C-280/96 und C‑281/96, Slg. 1998, I‑5025, Randnr. 28).
18 - Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, Slg. 2006, I‑7409, Randnr. 60).
19 - Urteil vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a. (C‑397/98 und C‑410/98, Slg. 2001, I‑1727).
20 - Ebd., Randnr. 86.
21 - Ebd., Randnrn. 87 und 89.
22 - Oben in Fn. 9 angeführt, Randnrn. 202 ff.
23 - Oben in Fn. 9 angeführt, Randnr. 112.
24 - Vgl. insbesondere Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation (oben in Fn. 9 angeführt, Randnr. 205).
25 - Vgl. nur Urteile Accor (oben in Fn. 5 angeführt, Randnr. 79) und vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a. (C‑262/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 55).
26 - Vgl. Urteile vom 15. April 2010, Barth (C‑542/08, Slg. 2010, I‑3189, Randnr. 19), vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, Slg. 2010, I‑635, Randnr. 33), und vom 19. September 2006, i‑21 Germany und Arcor (C‑392/04 und C‑422/04, Slg. 2006, I‑8559, Randnr. 62).
27 - Vgl. nur Urteile Transportes Urbanos y Servicios Generales (oben in Fn. 26 angeführt Randnr. 35), Bulicke (oben in Fn. 9 angeführt Randnr. 28) und vom 16. Mai 2000, Preston u. a. (C‑78/98, Slg. 2000, I‑3201, Randnr. 49).
28 - Schriftliche Stellungnahme der niederländischen Regierung, Randnr. 21.
29 - Schriftliche Stellungnahme der französischen Regierung, Randnr. 55.
30 - Vgl. in diesem Zusammenhang auch Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken (C‑35/05, Slg. 2007, I‑2425, Randnrn. 43 ff.), wo der Gerichtshof im Rahmen der Beurteilung der Vergleichbarkeit von direkten und indirekten Steuern zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das System der direkten Steuern in seiner Gesamtheit keinen Bezug zum Mehrwertsteuersystem aufweist.
31 - Urteile Bulicke (oben in Fn. 9 angeführt, Randnr. 27), Transportes Urbanos y Servicios Generales (oben in Fn. 26 angeführt, Randnr. 34), vom 29. Oktober 2009, Pontin (C‑63/08, Slg. 2009, I‑10467, Randnr. 45), und Ansaldo Energia u. a. (oben in Fn. 17 angeführt, Randnr. 29).
32 - Schriftliche Stellungnahme, Randnrn. 34 ff. und 112 ff.
33 - Vgl. Nrn. 33 ff. der vorliegenden Schlussanträge.
34 - Vgl. Nrn. 38 ff. der vorliegenden Schlussanträge.
35 - Vgl. nur Urteile vom 15. Juli 2010, Purrucker (C‑256/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 99), vom 14. Januar 2010, Kyrian (C‑233/08, Slg. 2010, I‑177, Randnr. 61), und vom 8. November 2005, Leffler (C‑443/03, Slg. 2005, I‑9611, Randnr. 51).
36 - Zum Anwendungsvorrang sowie zur unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts vgl. nur Gutachten 1/09 vom 8. März 2011 (noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 65) sowie Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991 (Slg. 1991, I‑6079, Randnr. 21).
37 - Vgl. dazu die in Fn. 31 angeführte Rechtsprechung.